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Über die Trauer hinaus

Vier Monate nachdem die niederländische Schriftstellern Connie Palmen den Politiker Hans van Mierlo geheiratet hatte, starb er. Elf Jahre waren sie ein Paar. Sie schrieb ihre Leidensgeschichte auf; entstanden ist ein "Logbuch", in welchem sich mehr versteckt als nur ein Blick auf das eigene Leid.

Von Ursula Nowak | 04.07.2013
    Trauer ist ein körperlicher Schmerz, denn nicht nur Herz und Verstand, vor allem der Körper sehnt sich nach der Person, die man nun nicht mehr in den Armen halten kann. Connie Palmen hat im Jahr 2010 ihren Ehemann Hans van Mierlo verloren. Elf Jahre waren die beiden ein Paar. Er war einige Jahre Außenminister und stellvertretender Ministerpräsident der Niederlande. Beide waren öffentliche Personen und man sah sie fast immer zusammen. Als Hans van Mierlo nach schwerer Krankheit stirbt, fällt Connie Palmen in eine lähmende Ohnmacht.

    Es geht ihr erst besser, als sie beginnt zu schreiben über ihren Zustand und über die symbiotische Beziehung zu ihrem Mann. Entstanden ist ein ergreifender Bericht über das Glück einer großen Liebe, über Verlust, Schmerz und Trauer. Das "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres" ist eine Tauchfahrt in die Abgründe unserer Seele.

    "Ich wollte einen Roman schreiben, der den Titel 'Judas' tragen sollte – und da starb mein Mann. Neununddreißig Kilo, Kiefersperre, Mund in Fetzen, Rachen in Brand. Magen greint, Darm jammert laut vor Leere, Herz rast, klopft, pumpt wie verrückt. Innen durch und durch kalt, außen perlt Schweiß an den Körperseiten hinunter wie Tränen. Nachts ist es klamm im Bett von der abkühlenden durchtränkten Wäsche. So sinnlich der Schmerz ist, der mich krank macht, die Organe scheinen nicht zu mir zu gehören, scheinen von mir losgelöst aufzuschreien. Sie können mich nicht vertreten. Nichts kann mich vertreten. Da ist niemand, der zu vertreten wäre. Ich bin ein einziges großes Defizit."

    "Man muss wirklich leiden"
    Um dieses Defizit zu füllen, schreibt Connie Palmen ihr persönliches Logbuch. Der Begriff "Logbuch", so erklärt uns die Autorin im Buch, komme aus der Schifffahrt, mit einem Log kann man die Schiffsgeschwindigkeit messen, kann man Distanzen und Positionen finden. Connie Palmen hat ein Log in den Strom ihres Kummers gesenkt, um die Tiefe zu peilen und die Geschwindigkeit zu messen. Mit großer Intensität beobachtet sie ihren Seelenzustand in unterschiedlichen Lebenssituationen, beschreibt ihren physischen Schmerz, den sie auch vom Verliebtsein her kennt. Das Buch ist auch eine Studie über das Verliebtsein, denn Trauer ist eine Sehnsucht wie das Verliebtsein, doch ohne Erlösung.

    "Im ersten Jahr ... kann man Schmerz nur ertragen. Man muss wirklich leiden, es ist ziemlich passiv. Das erste Jahr ist auch, das beschreibe ich auch in meinem Logbuch, so körperlich... Das Denken verursacht einen sehr körperlichen Schmerz."

    Connie Palmens "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres" ist eine sehr persönliche Schilderung von Trauer und Schmerz. Bis ins kleinste Detail beschreibt sie, was sie fühlt, wenn sie heute das Kopfkissen ihres verstorbenen Mannes umklammert, wie sie seine physische Nähe in den zurück gebliebenen Gegenständen sucht. Die Trauer lehrt sie etwas Fundamentales über die Beschaffenheit des eigenen ‚Ich’. Mit der Abwesenheit Hans van Mierlos erleidet sie einen zunehmenden Ich-Verlust. Sie fühlt sich armselig ohne ihn.

    Trotzdem lässt sie sich nicht von ihrem Leid verschlingen, und das ist die Stärke des Buches. Mit Selbstironie beschreibt Connie Palmen das Groteske in Phasen selbst größter Trauer. Wie sie ihr Äußeres vernachlässigt, wie sie darüber lachen kann! Wenn jemand bei einer unvorhergesehenen Begegnung mit der Trauernden vor Schreck seine Hand auf den Mund legt!

    Connie Palmen und Hans van Mierlo kurz nach ihrem Kennenlernen.
    Ein Bild aus glücklicheren Zeiten: Palmen und Mierlo kurz nach ihrem Kennenlernen 1999 (picture alliance / anp / Cor Mulder)
    "Wenn du fällst, mach was draus"
    "Dass es so desaströs für dich selbst ist, kommt daher, dass du ohne einen anderen kein Selbst hast und, in der Liebe, dein schönstes Selbst in seinen Händen liegt. Wir denken über das Selbst, als gehörte es uns, als sei es ein Besitz, den wir dauerhaft bei uns haben, eigenhändig gemacht oder erworben haben, aber das ist Schein. Das Selbst folgt einem entgegengesetzten Kurs: Es geht nicht von innen nach außen, sondern kommt von außen ins Innere. 'Ich ist ein anderer', dichtete Arthur Rimbaud."

    Connie Palmen setzt sich mit Arthur Rimbaud, Joan Didion und Philip Roth auseinander, sie alle haben sich literarisch dem Thema Tod gestellt. Die genaue Beobachterin Connie Palmen leitet den Blick also auch nach außen und fragt: Wie trauern die anderen? Mit den Passagen, die über die Beschreibung des eigenen Leidens hinausgehen, gelingt Connie Palmen ein anregender philosophischer Diskurs. Und indem sie über ihre Trauer schreibt, gelangt sie auch zu einer Auseinandersetzung über die Chancen der Literatur als Medium von Trauerarbeit. Connie Palmen beschreibt die Gesetze des Logbuchs, sie reflektiert über den Sinn des Tagebuchs, über Wahrheit und Fiktion.

    "Ich finde, dass etwas literarisch wird, wenn das problematisiert wird, ein Genre, wenn die Gesetze der Literatur problematisiert werden, wenn etwas wie Wirklichkeit und Fiktion problematisiert wird, wenn man sich auseinandersetzt mit anderen Schriftstellern, die sich über dasselbe Thema gebeugt haben, wenn es mehrere Stimmen gibt. Ja, wenn der Leser Reichtum findet in einem Buch."

    Connie Palmen stellt dem Logbuch ein Zitat der Autorin Sonja Gaskell voran: "Mädchen, Mädchen, wenn du fällst, mach was draus". Es klingt wie ein Motto, das Connie Palmen anspornt, zu schreiben und zu überleben. Denn in diesem unbarmherzigen Jahr verlor Connie Palmen nicht nur ihren Mann, auch dessen Tochter starb an Krebs, die Schwester des Mannes verstarb, Freunde, unter anderen auch der Dichter Harry Mulisch.

    Weg aus der Trauer
    Das "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres" ist eine regelrechte Passionsgeschichte. Connie Palmen konfrontiert den Leser mit Krankheit und Sterben. Sie kritisiert die Tabuisierung des Todes in einer glücks- und erfolgsorientierten Gesellschaft und demonstriert die Intensität von Trauer. Ihre ermutigende Botschaft lautet, dass jeder für sich einen Weg finden kann und muss, um sich aus der Passivität des Leidens zu erlösen, um wieder aktiv am Leben teilzunehmen. Connie Palmen findet ihren Weg durch das Schreiben.

    "Ja, ich kann natürlich nicht sagen, das Buch hat mich gerettet, obwohl ich mich stärker fühlte, als es fertig war. Da hab ich gedacht: Ich weiß nicht, wie ich es getan habe, aber ich habe ein Buch geschrieben. Also, ich bin; cogito, ergo sum. Und ich hab wieder etwas gemacht, es ist mir nicht nur etwas entnommen, ich hab wieder etwas gemacht. Das ist, was Schreiben auch ist, man macht ein Buch, etwas für andere. Und Trauer ist schon so egoistisch, man ist so konzentriert auf den eigenen Schmerz, dass es auch schön war, dass da etwas daraus gemacht werden konnte."

    Connie Palmen hat mit ihrem "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres" einen Weg aus der Ergebenheit in die persönlichen Dimensionen von Leiden gefunden. Ihr ist ein anregender, mutiger Diskurs im Umgang mit Tod und Trauer in unserer Gesellschaft gelungen, weit über eine bloß persönliche Selbstbespiegelung hinaus. Selbstironie und Humor als literarische Stilmittel schützen die Autorin – und auch uns Leser - vor einem Sturz in persönliche Resignation und bloße Ergriffenheit. Auch wir Leser reagieren nicht nur persönlich auf die verschiedenen Facetten der Trauerarbeit. Unser Respekt und unsere Anteilnahme beziehen sich auf die literarische Könnerschaft einer Autorin, die zwar besessen ist von den Motiven Tod und Trauer, aber nicht von ihnen in Besitz genommen wird.


    Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres.
    Diogenes Verlag, Zürich, 21,90 Euro. ISBN 978-3-257-06859-7.