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Über Schlaglöcher in die Zukunft

Noch sind Albaniens Straßen voller Löcher und können nur im Schneckentempo bereist werden. Doch nun wird die erste Autobahn des Landes gebaut. Das Prestigeprojekt soll ein erster Schritt auf dem Weg zum wirtschaftlichen Aufschwung, zur Nato- und später EU-Mitgliedschaft Albaniens sein. Doch bis das Land in die Europäischen Union aufgenommen wird, kann es noch lange dauern - ein Bilanz.

Von Andrea Mühlberger | 26.07.2008
    Mitten durch die Berge schlängelt sich Albaniens derzeit größte Baustelle. In Reps, ganz im Norden, an der Grenze zum Kosovo, entsteht gerade die erste Autobahn durchs Land der Skipetaren, das bisher eher im Schneckentempo zu bereisen ist.

    Die künftige "Straße des Jahrhunderts" soll auch verbinden, was nach Ansicht vieler hier zusammengehört: Kosovo und Albanien. Für den 20-jährigen Kosovaren Hakan - Dolmetscher auf der Baustelle in Reps - ist die Mitarbeit an dem Prestige-Projekt eine große Ehre:

    "Wir leisten hier gemeinsame Arbeit - für Kosovo und Albanien. Wir sind ja schließlich Brüder."
    Auf den rund 270 Kilometern Autobahn zwischen der Grenzstadt Kukes und dem Hafen Durres haben die albanischen Brüder und Schwestern aus dem Kosovo bald schnelle Fahrt - quer durch Albanien, zum Hafen und an die Adria-Strände. Und das Projekt hat noch andere Vorteile: Es schafft Arbeitsplätze in einer der ärmsten Regionen Albaniens.

    Für das Bergdorf Reps bedeutet die "Straße des Jahrhunderts" den Anschluss an die zivilisierte Welt. Für die albanische Regierung ist sie ein 600 Millionen Euro schweres Prestige-Unternehmen. Albanien koste es ein Vermögen, das wirre Wegesystem aus der Enver-Hodscha-Zeit in ein funktionierendes Straßennetz umzuwandeln - erklärt Verkehrsminister Oldaschi Sokol. Der von Wahnvorstellungen besessene Diktator ließ Verbindungsstrecken aus strategischen Gründen nicht auf dem kürzesten Wege anlegen, sondern mäandernd und eng:

    "Er litt unter der paranoiden Vorstellung: Wenn wir breitere Straßen bauen, bieten wir unseren imperialistischen Feinden eine Möglichkeit, das Land leichter zu erobern - verrückt."

    Vieles ist ein bisschen anders im Land der Skipetaren - und der Weg in die Europäische Union noch weit. Die schlechte Infrastruktur ist ein schwerer Bremsklotz - insbesondere für die wirtschaftliche Entwicklung. Doch seit der Unterzeichnung erster wichtiger Verträge mit Brüssel - dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vor rund zwei Jahren - weht ein Geist des Aufbruchs durch Albanien. Und gewisse Fortschritte sieht man auch.

    Eine Geschäftsreise in die albanische Hauptstadt mit ihren westlichen Hotelketten ist längst keine Strafe mehr. Tirana mausert sich immer mehr zu einer europäischen Großstadt. Die großen Mode-, Schnellimbiss- und Coffeeshop-Ketten fehlen zwar noch, aber dafür gibt es ausgezeichnete Restaurants, eine lebendige Kneipen- und Club-Szene und unzählige Straßencafes.

    Im Cafe Mumja treffen sich nach der Arbeit mode- und selbstbewusste junge Leute auf einen Cafe Latte. Club-Atmosphäre - wie in vielen westlichen Hauptstädten. Doch nicht für alle, die hier sitzen, ist der EU-Beitritt Albaniens das Maß aller Dinge. Kotscho Danaj hat andere Prioritäten:

    "Auch ich möchte in die Europäische Union integriert werden. Aber nicht als europäischer Staatsbürger, sondern als Albaner. Mir geht es gar nicht um einen rein ethnischen Staat. Aber ich finde, der EU gereicht es nicht zur Ehre, wenn von ihrem künftigen Mitgliedsland Albanien über 65 Prozent der Nation außerhalb der Staatsgrenzen leben."

    In Balkanländern - oder über die ganze Welt verstreut im Exil. Spätestens Anfang 2009 werde er eine neue Partei mitgründen - kündigt Kotscho Danaj an. Unter einem harmlosen Namen wie "Allianz für Wohlstand und Solidarität". Und diese Partei werde sich dann stark machen für die groß-albanische Idee. Doch schon jetzt bereitet der Politologe in Fernsehdiskussionen den Boden, auf dem die nationalistische Saat im Wahlkampf aufgehen soll:

    "Nur die Lösung der albanischen Frage bringt Stabilität auf dem Balkan. Die kontrollierte Unabhängigkeit Kosovos ist der erste Schritt. Der Balkan ist ein Pulverfass, weil die albanische Nation zerstückelt ist. Auch nach dem Ahtisaari-Plan für die Kosovo-Unabhängigkeit wird es keinen Frieden geben. Die Albaner wollen keinen Krieg, aber sie werden ihre demokratischen Rechte einfordern."

    Einigungsbestrebungen der Albaner gab es in der Geschichte des Balkans immer wieder. Bürgerrechtsbewegungen in Tirana sprechen von einem folkloristischen Nationalismus. Und für das offizielle politische Albanien existiert die Debatte um ein ethnisches Großalbanien praktisch nicht: Als die Kosovo-Albaner Mitte Februar die Unabhängigkeit ausriefen, versicherte Albaniens Premier Sali Berisha westlichen Medienvertretern, er sehe kein Potenzial für den Zusammenschluss beider Länder. In Umfragen hätten sich nur wenige hundert für ein Groß-Albanien ausgesprochen. Erst in der EU wären Albanien und Kosovo vereint - versicherte Berisha. Ende der Diskussion.

    Tatsächlich hat Albanien andere Sorgen. Im strukturschwachen Norden des Landes ist nicht nur die Arbeitslosigkeit besonders hoch. In den entlegenen Gebirgsdörfern herrschen auch andere Gesetze. Der Kanun, ein uralter Sittenkodex, regelt seit Jahrhunderten den Alltag. Von der Wiege bis zur Bahre, von der Hochzeit bis zur Blutrache. Die Zeit ist stehengeblieben in den Bergregionen. Und die Tradition der Blutrache waltet in den Menschen auf magische Weise weiter - und wird weitergegeben, von Generation zu Generation.

    Shkodra, die größte Stadt in Nord-Albanien. Zufluchtsort für viele Familien, wenn sie die Hoffnungslosigkeit in den rückständigen Dörfern nicht mehr aushalten. Anders als in den Bergen hat sich in Shkodra in letzter Zeit einiges getan: Ganze Straßenzüge haben ein Face-Lifting bekommen: Sozialistische Wohnblöcke grüßen freundlich mit frischem Anstrich. Ein futuristischer Hotelkomplex bildet die Kulisse für das Foto-Shooting einer Modezeitschrift, aber unweit vom Zentrum zeigt die Stadt ihr anderes Gesicht: Ihre Tradition können die Zuwanderer aus den Bergen nicht einfach abschütteln. In Shkodra häufen sich seit einigen Jahren die Fälle von Blutrache.

    Liljana Luoni ist in ihrem normalen Leben Grundschullehrerin. Mit den Mädchen und Jungen ihrer vierten Klasse - alle tragen dunkelblaue Kittel - sucht sie im Sachkunde-Unterricht gerade nach Beispielen für Lichtquellen aller Art: Natürliche, wie die Sonne. Künstliche, wie Glühbirnen. Nach dem Unterricht kümmert sich die Lehrerin um Kinder, in deren Leben vor allem die Finsternis herrscht, Kinder, die nicht mehr unter der Sonne spielen dürfen, weil ihre Familien in Blutrache verstrickt sind.

    "Ich bin ja selbst Teil dieser Gesellschaft, eine Tochter des Nordens sozusagen - obwohl ich hier in Shkodra aufgewachsen bin und erzogen wurde. An meiner Schule gibt es immer wieder Problemfälle, weil viele Kinder aus Bergdörfern stammen. Ich war ständig mit ihren Problemen konfrontiert, wollte helfen - und jetzt stecke ich komplett drin in der Sache und kann gar nicht mehr anders."

    Wenn ihre Schüler von einem Tag auf den anderen ohne Entschuldigung nicht mehr zum Unterricht erscheinen, sei das ein untrügliches Zeichen - erklärt die Lehrerin. Dann werden sie und ihr Verein aktiv. Er will Kindern helfen, die wegen Blutrache eingesperrt sind. Denn das Leben solcher Familien ändert sich schlagartig.

    Die Straße mit tiefen Pfützen und Schlaglöchern in einem der sogenannten "Problemviertel" von Shkodra endet vor einem schweren Tor. Dahinter: ein Garten mit Gemüsebeeten, Obstbäumen, Weinreben. Und ein flaches Haus. Beim Eintreten in die spärlich möblierten Räume schlägt einem der feuchte Geruch der Armut entgegen.

    Liljana schaut oft vorbei, bei der 32-jährigen Frau und ihren beiden Kleinkindern. Meistens weiß sie ein paar Neuigkeiten zu berichten, von den ältesten Söhnen, zu denen die Mutter kaum noch Kontakt hat. Der Grund sind zwei komplizierte Blutrache-Fälle. In kurzer Zeit hat die Familie sieben Männer verloren - erzählt die Mutter. Ihre Söhne waren hier in Lebensgefahr. Sie konnten nicht mehr in die Schule, durften nicht draußen spielen, saßen den ganzen Tag vorm Fernseher. Jetzt leben sie in einem Internat im Süden Albaniens. Liljanas Verein hat es vor zwei Jahren gegründet.

    "Wir versuchen, die Mentalität dieser Kinder zu ändern. Sie sollen lernen, wieder die schönen Seiten im Leben zu sehen: Schule, Bildung, Gesellschaft. Nicht immer nur Verbrechen, Leid oder Blutrache. Und sie sollen die Hoffnung bekommen, dass mit ihnen eine neue Generation heranwächst - ohne Blutrache. Unser Ziel ist, dass die Kinder morgen oder übermorgen selbst zu Friedensbotschaftern werden."

    In der Generation der jungen Witwe ist die Blutrache noch allgegenwärtig. Die einfache Frau ist in der Bergregion Dukadjini aufgewachsen, der Gegend, in der im 15. Jahrhundert der Kanun entstand. Der Sittenkodex ist so tief in den Menschen verwurzelt, dass er fast 500 Jahre türkische Fremdherrschaft überdauerte. Sogar die Steinzeit-Kommunisten des Diktators Enver Hodscha scheiterten beim Versuch, die Blutrache brachial auszumerzen.

    Nach dem politischen Wende-Chaos der neunziger Jahre stiegen die Todesfälle sprunghaft an - als Reaktion auf die Anarchie im Staat, bis heute. Dabei sollte die Blutrache ursprünglich Verbrechen verhindern. Auch ihr habe die Großmutter viele abschreckende Geschichten und Fälle erzählt. Die Frau schüttelt bekümmert den Kopf: Wer hätte ahnen könne, dass ihre friedliche Familie durch einen dummen Zufall jetzt selbst durch Blutrache zerstört wird! Sie war erst 26, als ihr Mann, den sie - ganz traditionell - durch Heiratsvermittlung kennenlernte, getötet wurde - aus Rache:

    "Es ist schon schlimm genug, wenn dein Mann die eigenen vier Wände nicht mehr verlassen kann, weil er jemanden umgebracht hat. Wir mussten ja vier Kinder ernähren. Sie sollten in die Schule. Und ich durfte nur mit Kopftuch und langen schwarzen Kleidern herumrennen. Und wenn dein Mann dann auch ermordet wird, ist der Schaden noch größer. Dein Leben wird regelrecht zerstört durch den Kanun, vor allem aber durch die Mentalität der Menschen."

    Doch auch die älteren Söhne im Internat haben diese Mentalität, diesen Ehrenkodex verinnerlicht - bedauert die Lehrerin. Sie wollen Vergeltung für den Mord an ihrem Vater. Blut gegen Blut. Wer nicht rächt, ist ein Feigling. Seine Seele findet keine Ruhe. Es sei sehr schwierig, das den Kindern auszureden - meint die Lehrerin.

    "Natürlich ist es ein Wahnsinn, dass es das in unserem Jahrhundert noch gibt. Leider wird diese Tradition in Albanien nicht geschwächt, sondern sie wird stärker."

    Der Staat sei zu schwach - kritisiert die Lehrerin. Die Verbrechen würden nicht geahndet. Tatsächlich handelt es sich bei vielen Morden gar nicht um Blutrache, sondern die Tradition dient vielen Kriminellen nur als Vorwand für ihre Straftaten. Ursache für die meisten sogenannten Blutrache-Fälle ist die Armut. Die Mentalität setzt dann nur den uralten Mechanismus in Gang, den der Kanun fordert: "Blut gegen Blut."

    Üben für den Ernstfall: Auf dem Militärgelände Zallherr, eine Viertelstunde mit dem Auto von Tirana entfernt, trimmt Oberst Duro via Funkkontakt die albanische Armee für Auslandseinsätze im Rahmen der Nato. Auf der grünen Wiese werden Hubschrauber gesichert. Verwundete abtransportiert. Und alles klappt wie am Schnürchen. Schließlich ist die Brigade für schnelle Einsätze die Vorzeigetruppe der albanischen Armee.

    "Wir sprechen ganz normal in der Übung englisch."

    Oberst Duro hat wie alle Soldaten dieser Einheit brav fremde Sprachen gelernt und Auslandserfahrung gesammelt. Er war in Füssen, Garmisch-Patenkirchen und Köln stationiert, hat sich bewährt als Wachsoldat bei der EUFOR-Mission in Bosnien. Zum Soldatenglück fehlte Duro bisher nur die offizielle Einladung Albaniens zur Nato-Mitgliedschaft.

    Die gewaltigen Hindernisse auf dem Weg in die Nato erscheinen am Horizont des Militärgeländes: Dort wächst Gras über einige der abertausend Bunker, mit denen der frühere Diktator Enver Hodscha das heruntergewirtschaftete Land gegen den angeblich allgegenwärtigen Feind wappnete. Bis auf die Ruinen sei von der Bunkermentalität nicht mehr viel übrig - meint Bardül Koltschakku, genannt "Be-key", der zweite Kommandant des Bataillons:

    "Für jede Gesellschaft ist ein Mentalitätswechsel besonders schwierig. Aber die Generation von heute besucht Nato-Militärakademien in der Türkei, in Deutschland, Italien oder den USA. Sie sammelt Erfahrungen bei Auslandseinsätzen, ist weltoffen. Für mich ist die Armee heute die am meisten westlich orientierte Struktur in unserer Gesellschaft."

    Albanien hat alles versucht, um seine Armee möglichst schnell auf Nato-Niveau zu bringen. Und das Land hat viele Altlasten aus der Hodscha-Zeit.

    Mitte März wurde das Land auf - im wahrsten Sinne des Wortes - erschütternde Weise von seiner Vergangenheit eingeholt: Im Dorf Gerdec, unweit des internationalen Flughafens von Tirana, explodierte ein Lager mit alter Munition. Ein Tag, den die Nation so schnell nicht vergessen wird. Medien sprechen von "Albaniens Hiroschima". Doch die Detonationen haben sogar die siebenfache Wucht dieser Atombombe. Sie reißen riesige Krater in die Landschaft, machen an die viertausend Häuser dem Erdboden gleich. Tierkadaver wirbeln durch die Luft. Unmengen an Giftstoffen werden freigesetzt. Sie verseuchen rund 100 Quadratkilometer - Wasser, Luft, Boden. In einem Restaurant im Nachbarort von Gerdec ist keine Fensterscheibe heil geblieben.

    "Wir waren hier drinnen - und sind regelrecht durch die Luft geflogen. Wir dachten, das Haus stürzt ein. Alle haben wild durcheinander geschrien, vor allem die Kinder. Wir sind riesig erschrocken - das vergessen wir in 20 Jahren nicht!"

    Die Bilanz der Katastrophe: 26 Tote, 300 Verletzte, viele sind für ihr Leben gezeichnet, haben Arme oder Beine verloren. Lange bleibt unklar, wie viele Menschen zum Zeitpunkt der Explosionen Schichtdienst hatten - in der "Todesfabrik" - wie albanische Medien schreiben. Angeblich sind dort viele Schwarzarbeiter beschäftigt, die im Akkord bezahlt werden. Um den Stundenlohn aufzubessern, schuften sogar Familien in Gerdec, auch zehnjährige Kinder.

    Für die Vernichtung alter Munition gab es früher extra Lager und Brigaden. Im Fall von Gerdec soll für die gefährliche Arbeit zunächst eine amerikanische Privatfirma verantwortlich gewesen sein, dann haben angeblich albanische Mafiosi den Betrieb übernommen, finstere Gestalten - schimpft ein Mann, der in Gerdec Sicherheitsbeamter war:
    "Der Chef war ein Krimineller. Ein Albaner, der sich aufgeführt hat wie ein Sklaventreiber. Ein Kapo. 'Was ich befehle, ist Gesetz!', hat er gesagt."

    Es wird noch lange dauern, bis die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen zu Gerdec abgeschlossen hat. Dabei geht es auch um Waffenhandel und Korruption. Und um Verbindungen zum Verteidigungsministerium. Der verantwortliche Minister trat wenige Tage nach der Katastrophe zurück. Die ganze Regierung zitterte. Wenige Wochen vor dem entscheidenden Nato-Gipfel in Bukarest war das Land von seiner eigenen Geschichte eingeholt worden. Würde die Nato Verständnis haben, für Albaniens Probleme mit militärischen Altlasten?

    Die Nato hatte Verständnis. Generalsekretär de Hoop Scheffer begrüßte Kroatien und Albanien auf dem Gipfel in Bukarest offiziell als künftige Mitglieder. Aus Sicht des westlichen Verteidigungsbündnisses hat Albanien die wichtigsten Hausaufgaben erledigt: Das Land hat bereits unzählige Panzer, Minen und chemische Waffen vernichtet. Es hat seine Armee von hunderttausend auf vierzehntausendfünfhundert Soldaten reduziert. Und seinen Militärhaushalt, wie von Brüssel vorgeschrieben, auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufgestockt.

    Eine finanzielle Krise droht dem armen Land durch den Nato-Beitritt nicht. Die Gelder wurden rechtzeitig umverteilt, wie es so schön heißt. Für die Regierung ist der Nato-Beitritt ein Etappenziel auf dem Weg in die EU, ein wichtiges Signal für Investoren, ein historisches Ereignis. Andere sehen das etwas kritischer.

    In den Räumen der Bürgerrechtsbewegung Mjaft - es bedeutet soviel wie "Genug! Uns reichts!" - malen Aktivisten Plakate für eine Demonstration in der Hauptstadt. Ihre Fete zum fünfjährigen Bestehen hat die NGO, die im ganzen Land kleine Büros hat, wegen der Katastrophe von Gerdec kurzfristig abgeblasen. Obwohl die Bewegung stolz auf sich sein kann. Sie spielt eine wichtige Rolle beim Aufbau der albanischen Zivilgesellschaft - erklärt der Aktivist Ervin Tschafmóla:

    "Die alten Römer sagten schon: Ein guter Führer überzeugt nicht durch Gewalt, sondern durch gute Beispiele. Sicher hatten wir einige Erfolge. Aber unser größter Sieg ist, den Menschen hier gezeigt zu haben, wie sie für ihre Rechte und Ziele kämpfen können - in Interessensverbänden, Gewerkschaften. Es sind Organisationen entstanden, die es früher gar nicht gab, die jetzt an die Öffentlichkeit gehen, und die Medien interessieren sich dafür. Für Albanien ist das eine kleine Revolution. Und ich spreche nicht davon, Steine zu werfen oder Barrikaden zu errichten. Es geht um einen echten Gesinnungswandel!"

    Den fordert Mjaft auch von der Politik: Die regierenden Sozialisten müssten für die Missstände im Munitionslager Gerdec die Verantwortung übernehmen. Die Katastrophe sei symptomatisch für vieles, was falsch laufe im Staate Albanien, meint der Bürgerrechtler Leart Kola von Mjaft:

    "Bevor wir über die Nato reden, sollten wir erst mal über uns selbst sprechen. Die Regierung muss ihre Glaubwürdigkeit wieder herstellen. Sich einfach nur verstecken hinter einer Tragödie, einer unbekannten Firma, einem zurückgetretenen Minister - so entwickeln wir uns nicht weiter. Beim Fußballspiel kann man auch nicht immer nur den Schiedsrichter bestechen, um zu siegen. Irgendwann muss man selber spielen."

    Aus Sicht der albanischen Bürgerrechtsbewegung ist die Nato-Einladung nur ein erster Schritt Richtung Westen, auf Albaniens langem, holprigen Weg nach Europa:

    "Ein Problem Albaniens ist, dass wir das erleben wie im Märchen - als Cinderella-Story: Wir wachen eines Morgens auf - und wow - sind Nato-Mitglied! Doch wir sollten endlich anfangen, zu arbeiten und diese Tragödie zum Anlass nehmen, einmal wirklich über unsere gesellschaftlichen Ziele nachzudenken."

    Für Albaniens Regierung sind die Ziele klar gesteckt: Erst die Nato, dann die Europäische Union - koste es, was es wolle. Auf lange Sicht zahle sich dieser geradlinige Weg nach Europa sowieso aus, auch wenn die Albaner noch ein bisschen länger über Straßen mit Schlaglöchern und unbequeme Feldwege durchs Land reisen und die ein oder andere Unannehmlichkeit auf sich nehmen müssen.