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Überfall auf Künstler

Die Europäische Kulturhauptstadt Istanbul hat ihren ersten großen Skandal: Es hat einen Überfall auf Gäste einer Galerie-Eröffnung gegeben, Gäste aus dem teils internationalen Publikum mussten ins Krankenhaus. Die Toleranzdebatte ist neu entfacht.

Von Gunnar Köhne | 23.09.2010
    Orhan Esen steht der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. Der Stadtforscher war am Dienstag abend auf dem Weg zu einer Vernissage als vor der kleinen Galerie plötzlich ein Tumult losbrach:

    "Die schrieen rum: Haut hier ab. Dann war der Knüppel raus, ich habe was auf den Schädel gekriegt, auf mein rechtes Ohr und dann war richtig Panik ausgebrochen. Das war absolut organisiert."

    30 meist jugendliche Angreifer prügeln auf Galeriebesucher ein, darunter auch Gäste aus Polen und den USA: Fünf von ihnen müssen im Krankenhaus behandelt werden. Die diesjährige Europäische Kulturhauptstadt Istanbul hat ihren ersten großen Skandal. Und erneut tobt in der Türkei eine Debatte darüber, ob das Land immer religiöser und intoleranter wird. So sollen sich die Nachbarn des Viertels nahe dem zentralen Taksim-Platz schon öfter darüber beschwert haben, dass die Besucher der Ausstellungseröffnungen vor der Galerie Alkohol tränken. Ob der Überfall auch mit der ausgestellten Kunst zu tun hat ist unklar. In einer Nachbargalerie, deren Scheiben ebenfalls eingeworfen wurden, ist derzeit eine Fotomontage eines türkischen Künstlers zu sehen, die radikale Islamisten provozieren könnte. Darauf sind vier junge Frauen im Bikini abgebildet, ihre Arme in die Höhe reckend, neben zwei Minaretten. Doch die Nachbarn der Galerie wollen nichts davon wissen, dass der Überfall politisch motiviert sein könnte. Einer von ihnen, der am Morgen danach den Aufräumarbeiten mit verschränkten Armen zuschaut, gibt den Ausstellungsbesuchern die Schuld:

    "Die haben draußen vor der Galerie getrunken, 30, 40 Leute standen auf dem Bürgersteig und versperrten den Weg. Darum kam es zum Streit. Das ist alles."

    Im Bezirk Tophane sind die Mieten noch niedrig - viele Bewohner sind Gelegenheitsarbeiter oder arbeitslos. Sie fürchten, dass den Galerien bald die Spekulanten und Luxussanierer folgen und sie dann ihr Viertel verlassen müssen. In den Nachbarbezirken sind die Mietpreise bereits explodiert. Doch welches Motiv die brutalen Angreifer auch immer hatten - liberale Türken wie der Kulturmanager Osman Kavala fürchten, dass die Enttäuschung und Unwissenheit der Armen zunehmend von radikalen Nationalisten und Islamisten für ihre Zwecke ausgenutzt
    werden:

    "Wir beobachten, dass einige Teile des Landes immer konservativer werden. Diese Stimmung wird von bestimmten politischen Gruppen ausgenutzt, und dann geht es immer auch gegen jede Art von weltoffener Kunst und Kultur. Das macht uns Sorgen."