Freitag, 29. März 2024

Archiv

Übergriffe auf Frauen in Köln
"Die Dimension ist eine andere"

Die sexuellen Übergriffe auf Frauen in Köln machen nach Ansicht der Frauenrechtlerin und Autorin Seyran Ates Defizite in der Integration in Deutschland offenbar. Ates sagte im DLF, möglicherweise seien alkoholisierte Muslime und "sehr freizügige" Frauen zusammengetroffen. Der Vorfall dürfe aber nicht zu einem Rückschritt für die Rechte der Frauen führen.

Seyran Ates im Gespräch mit Christiane Kaess | 06.01.2016
    Aufgenommen am 13.04.2014 in Köln
    Die deutsch-türkische Rechtsanwältin Seyran Ates (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Neu sei nicht, dass "in der Silvesternacht betrunkene Männer übers Ziel hinausschießen oder zu Gruppen sich zusammenschließen, um auf Frauen loszugehen", sagte Ates. Neu sei aber die Dimension am Kölner Hauptbahnhof. Laut Polizei gingen die Übergriffe aus einer Gruppe von etwa 1000 Männern aus. Es werde gerade viel darüber geredet, ob es sich um Muslime gehandelt habe, die alkoholisiert gewesen und das nicht gewohnt seien und Silvester feierten, "obwohl das nicht in ihrem Glauben gefestigt ist", sagte Ates. "Dann erleben sie Frauen, die sehr freizügig und selbstverständlich Silvester feiern. Ob da jetzt so ein Kultur-Clash aufeinandergeprallt ist, das sind alles Fragen, die noch zu klären sind."
    Seit Jahren werde in Deutschland über das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen und Religionen geredet, sagte die Deutsch-Türkin. "Jetzt passiert wieder so etwas und man hört diesen Begriff 'nordafrikanisch und arabisch aussehend' und schon ist das große Thema aufgemacht." Nun fühlten sich Fremden- und Islamhasser in ihrer Ablehnung gegenüber den großen Zuwanderung von Flüchtlingen bestätigt. "Nichtsdestotrotz gibt es ja die Realität, dass am Kölner Bahnhof und an anderen Stellen auch Drogendealer und Kleinkriminelle unterwegs sind - und die gehören schon auch einer bestimmten Ethnie an, die anders mit unserer Gesellschaft und unseren Gesetzen umgehen und ein anderes Unrechtsbewusstsein haben."
    Der Vorschlag von der Kölner Oberbürgermeisterin, Frauen sollten sich eine Armlänge von Männern fernhalten, mache sie sprachlos, sagte die Rechtsanwältin. "Ich weiß nicht, ob sie die 80er-Jahre nicht miterlebt hat, die Frauenbewegung in Deutschland nicht miterlebt hat. [...] Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der eine Männerdominanz auf der Straße Realität ist?" Diese Äußerung sei ein "Armutszeugnis" für eine Oberbürgermeisterin. "Wir dürfen auf keinen Fall einen Millimeter zurück rücken, nur weil jetzt andere Kulturen und Ethnien dazukommen, die eventuell mit unserer Freizügigkeit in Deutschland und dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen" ein Problem hätten.

    Das Interview in voller Länge
    Christiane Kaess: Wir wollen das Ganze auch noch aus einem anderen Blickwinkel beleuchten. Am Telefon ist jetzt Seyran Ates, Rechtsanwältin, Autorin und Frauenrechtlerin. Guten Morgen, Frau Ates!
    Seyran Ates: Guten Morgen!
    Kaess: Massenhafte sexuelle Belästigungen von Frauen mitten in einer Großstadt in einer Menge von Menschen. Hätten Sie das für möglich gehalten?
    Ates: Ja, selbstverständlich, weil das passiert ja immer wieder. Es ist ja nicht neu, dass Frauen in solchen Ansammlungen sexuell belästigt werden. Die Dimension ist jetzt eine andere selbstverständlich. Es ist Silvesternacht, in der Silvesternacht passiert das schon, dass betrunkene Männer durchaus über das Ziel hinausschießen, zu Gruppen sich zusammenschließen, um auf Frauen loszugehen. Das ist jetzt nichts Neues, würde ich erst mal sagen. Trotzdem haben wir hier eine neue Dimension. Dass jetzt nordafrikanisch aussehende, arabisch aussehende junge Männer sich offensichtlich trauen - zum einen, wenn das jetzt nordafrikanische, muslimische Männer sind, also wir reden jetzt darüber, sind das jetzt Muslime, hat das jetzt was mit dem Islam zu tun, wie ist das Ganze überhaupt zusammengestellt, dann stellt man sich die Frage, dürfen die denn überhaupt Alkohol trinken. Dann sind sie alkoholisiert, sind das vielleicht nicht gewohnt, und dann feiern sie Silvester, obwohl das jetzt auch nicht unbedingt in ihrem Glauben gefestigt ist ... Also, da kommen so viele Momente zusammen. Und dann erleben sie eben Frauen, die sehr freizügig und selbstverständlich Silvester feiern. Ob da jetzt so ein Kultur-Clash da aufeinandergeprallt ist, das sind alles Fragen, die noch zu klären sind, weil wir einfach noch nicht wirklich wissen, was da passiert ist.
    "Da wird so viel in einen Topf geworfen"
    Kaess: Aber Frau Ates, das ist ja genau der Punkt. Wir wissen ja kaum etwas über die Täter, außer dass sie so aussahen, als ob sie nordafrikanischer oder arabischer Herkunft seine. Werden hier einfach auch zu schnell Schlüsse auf Migranten gezogen?
    Ates: Ja, selbstverständlich. Ich habe ja auch jetzt gleich wieder ganz groß und viel ausgeholt, und das sind Diskussionen, die schon seit Jahrzehnten, jetzt seit mehr als zehn Jahren laufen in Deutschland. Dass wir das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen und Religionen irgendwie hinbekommen müssen. Und jetzt passiert wieder so was, und man hört diesen Begriff "nordafrikanisch" und "arabisch aussehend", und schon ist das große Thema aufgemacht. Und das ist vielleicht jetzt ein Schnellschuss, der nicht gut ist, weil selbstverständlich Fremdenhasser und Islamhasser da aufspringen und sich bestätigt fühlen darin, dass es nicht gut war, die Flüchtlinge reinzulassen.
    Dabei ist gar nicht festgestellt ... Die Täter können ja gar keine Flüchtlinge sein nach der Logik, weil - meine ich jedenfalls. Weil, warum sollen Flüchtlinge jetzt Straftaten begehen und eine Abschiebung dann in Kauf nehmen. Da fällt wieder so viel zusammen, und da wird so viel in einen Topf geworfen. Das finde ich sehr schade, man sollte erst mal abwarten. Aber auf der anderen Seite, nichtsdestotrotz gibt es ja eine Realität, nämlich, dass am Kölner Bahnhof wie an anderen Stellen auch durchaus Drogendealer und Kleinkriminelle unterwegs sind. Und die gehören schon auch einer bestimmten Ethnie an, die anders mit unserer Gesellschaft und unseren Gesetzen umgehen beziehungsweise ein anderes Unrechtsbewusstsein haben. Und das ist ein anderes Thema.
    Kaess: Es geht ja jetzt sehr viel um die sexuelle Gewalt, die in dieser Kölner Silvesternacht ausgeübt wurde gegenüber Frauen. Jetzt ist aber auch genau das ein Phänomen, das ja von Deutschen genauso verübt wird, und der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Roland Schäfer, der hat noch mal gewarnt davor, solche Ereignisse wie in Köln, die förderten eben die Ausländerfeindlichkeit. Und er sagt, die Menschen, die zu uns kommen, haben die gleiche Kriminalitätsquote wie die Deutschen nach seiner Erfahrung, da sei überhaupt kein Unterschied erkennbar.
    Ates: Was die Kriminalität anbelangt, auf jeden Fall. Das sehen wir bei den Drogendealern und Kleinkriminellen, auf jeden Fall Taschen- und Trickdiebe. Das können wir weltweit beobachten. Das ist das gleiche Täterprofil. Nichtsdestotrotz, wenn ich jetzt Stimmen höre oder die Oberbürgermeisterin sagt, auf eine Armlänge sollen sich Frauen von Männern fernhalten, dann bekommt das Ganze eine andere Dimension, eine andere Diskussion, nämlich, dass die sexuelle Selbstbestimmung der Frau dann durchaus nicht dieselbe Akzeptanz hat bei den unterschiedlichen Ethnien, die hier in diesem Land sind. Von wem soll sich denn eine Frau eine Armlänge fernhalten.
    "Sehr peinlich für die Oberbürgermeisterin"
    Kaess: Wie werten Sie denn diesen Vorschlag oder diese Verhaltensempfehlung von Henriette Reker, der im Internet ja schon für viel Spott auch sorgt?
    Ates: Sprachlos - im Grunde genommen sprachlos. Und dann von einer Oberbürgermeisterin. Ich weiß nicht, ob sie die 80er-Jahre nicht miterlebt hat, die Frauenbewegung in Deutschland nicht miterlebt hat, in der wir gerufen haben, die Straße gehört nicht nur den Männern, die Straße gehört auch den Frauen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der eine Männerdominanz auf der Straße Realität ist, in der wir Frauen dafür sorgen, dass wir uns von Männern fernhalten, damit sie uns nicht belästigen, uns wieder sagen lassen müssen, wenn du einen Minirock trägst, ist es kein Wunder, dass du vergewaltigt wirst - ich dachte, dass wir sehr viel weiter sind in diesem Punkt, und wir dürfen auf keinen Fall einen Millimeter zurückrücken, nur weil jetzt andere Kulturen und Ethnien dazukommen, die eventuell mit unserer Freizügigkeit in Deutschland und dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen, das erkämpft wurde - die sexuelle Selbstbestimmung ist noch nicht vollends erkämpft. Das ist ja auch noch nicht alles gut auch in Europa, aber wir haben schon sehr viel Weg genommen. Und da jetzt wieder Schritte zurück zu tun, das ist ein Armutszeugnis. Ich finde das sehr peinlich für die Oberbürgermeisterin, so etwas zu sagen. Selbstverständlich muss ich nicht als Frau in eine Horde von Männern hineinlaufen wie mit dem Kopf durch die Wand, wenn ich weiß, es könnte eventuell sein, dass diese Männer sich jetzt an mir vergreifen. Das muss ich natürlich nicht, aber diese Logik hat, denke ich, und diesen gesunden Menschenverstand, jede junge Frau.
    Kaess: Das sagt Seyran Ates, Berliner Rechtsanwältin, Autorin und Frauenrechtlerin. Danke für das Interview!
    Ates: Vielen Dank auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.