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Übergriffe auf Juden
Online-Meldestelle für Antisemitismus

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus will mit der Website report-antisemitism.de und einer Hotline möglichst viele Übergriffe auf Juden in Berlin erfassen. Auch Fälle, in denen keine Anzeige erstattet wurde. So soll die polizeiliche Statistik nachgebessert werden. Die Polizei hat bereits reagiert.

Von Jens Rosbach | 01.09.2016
    Der Spruch "Gegen jeden Antisemitismus!" prangt an einer Toilettenwand der Philipps-Universität in Marburg.
    Der Spruch "Gegen jeden Antisemitismus!" prangt an einer Toilettenwand der Philipps-Universität in Marburg. (picture alliance / dpa/ Arne Dedert)
    Ist Jennifer in Berlin unterwegs, ist sie auf der Hut. So verbirgt die 28-jährige Jüdin in der U-Bahn ihr Armband mit dem Davidstern. Sie versteckt auch ihre Halskette, an der ihr Namenszug auf Hebräisch hängt. Andernfalls riskiert die Studentin Ärger – von deutschen wie von migrantischen Jugendlichen.
    "Da wird man tatsächlich auch einfach nur als 'Du Jude!' beschimpft. Manchmal wird auch noch ein Zusatz hinten dran gehängt wie 'Judenschlampe'. Aber Jude an sich oder Jüdin an sich ist für die meisten Leute immer schon eine Beleidigung."
    Vergessen, die Kippa abzunehmen
    Jennifer, die ihren Nachnamen lieber verschweigt, erlebte im vergangenen Jahr sogar mit, wie ein Freund körperlich angegriffen wurde. Und zwar als sie am helllichten Tag auf die Straße gingen, in Charlottenburg:
    "Eine Situation, dass er halt vergessen hatte, beim Rausgehen seine Kippa abzunehmen und daraufhin direkt erkannt wurde. Und auch direkt angepöbelt wurde und dann sind auch Flaschen geworfen worden."
    Ihr Bekannter sei schließlich verletzt worden, erzählt die Berlinerin.
    "Naja, er hat die Flasche ins Gesicht gekriegt – und das hat man dann schon deutlich gesehen."
    Trotz der Beleidigungen und Attacken, die aus ihrer Sicht eindeutig antisemitisch waren: Jennifer ging nie zur Polizei. Denn sie möchte eine Vernehmung verhindern:
    "Dann muss man alles erklären und muss sich schon selber in so eine Position drücken, wo man sagt, aus irgendeinem Grund ist man schon ein Opfer und kann nicht so richtig was dafür. Und wird aber direkt so abgestempelt. Viele sagen ja auch direkt: Du gehörst zu einer Gruppe von Leuten, die eben nun mal als Opfer geboren wurden. Das ist dann schon so eine Überwindung, darüber zu reden manchmal."
    Viele Juden stellen keine Anzeige bei der Polizei
    Benjamin Steinitz leitet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Berlin, kurz RIAS.

    "Wir wissen, dass viele Jüdinnen und Juden keine Anzeige machen. Es gibt dafür unterschiedliche Gründe, die zum Beispiel darin bestehen, dass die Leute davon ausgehen, dass es keinen Erfolg bringt. In der Öffentlichkeit ist die Anfeindung meistens sehr schnell wieder vorbei. Zeugen bleiben nicht stehen, Täter sind unbekannt. Warum soll man sowas melden, wenn sowieso nichts bei rauskommt?"
    Das Projekt wurde im vergangenen Jahr von sechs antirassistischen und jüdischen Organisationen gegründet. Mit der Website report-antisemitism.de und einer Hotline will die Initiative möglichst viele Übergriffe auf Juden in der Hauptstadt erfassen. Auch Fälle, die nirgendwo registriert wurden - wie die von Jennifer. So soll die polizeiliche Statistik nachgebessert werden.
    "Diese Statistik der Polizei ist die zentrale Referenz für Medien, für Debatten im Abgeordnetenhaus, für Problembeschreibungen in der Öffentlichkeit. Und wenn es uns gelingt, die Zahlen zu den antisemitischen Straftaten in dieser Statistik realistischer darzustellen, dann wird sich die Debatte auch hoffentlich verändern."
    Erstaunlich: Polizei korrigiert Statistik
    Laut Berliner Polizei gab es im vergangenen Jahr 175 antisemitisch motivierte Straftaten in der Hauptstadt. RIAS hat hingegen 405 Fälle registriert: von Betroffenen, die sich persönlich gemeldet haben. Auch von Vereinen, die eigene Fälle gesammelt haben. Und von Aktivisten, die auf Demonstrationen Ausschreitungen beobachtet haben. Das Erstaunliche: Die Differenz zwischen amtlichen und RIAS-Zahlen führt bei den Berliner Ordnungshütern nun zu einer Korrektur.
    Polizeisprecher Thomas Neuendorf erklärt, dass bestimmte Fälle nachgeprüft und in die offizielle Statistik aufgenommen werden:
    "Wir werden 40 Anzeigen nachfertigen, die werden jetzt geschrieben und fließen dann auch in die Statistik des Jahres 2015 ein. Das wird jetzt im Nachhinein geändert."
    In der amtlichen Statistik wachsen also die antisemitischen Straftaten von 175 auf 215 an. Die Polizei sieht in RIAS keine Konkurrenz, sondern eine Hilfe. Die Sicherheitsbeamten bevorzugen allerdings eine Sofort-Meldung durch die Betroffenen.
    "Es ist sicherlich politisch bedeutsam, dass eben mehr Taten passieren, als eben registriert wurden. Für uns als Polizei ist es aber eher wichtig, Täter zu fassen. Da hilft uns eine spätere Erfassung nicht so viel, deswegen bitten wir ganz inständig, dass die Leute zur Polizei kommen und die Anzeige dort erstatten. Wir gehen sensibel mit den Betroffenen um. Und wenn sie sich unsicher fühlen, können sie auch jederzeit einen Mitarbeiter von RIAS zum Beispiel mitnehmen."
    Auch Vorfälle, die keine Straftat sind
    Einen Unterschied zwischen NGO- und offizieller Statistik werde es aber immer geben, so Polizeisprecher Neuendorf. Denn RIAS erhebe auch Vorfälle, die – streng juristisch - nicht immer als Straftat eingestuft werden können. Etwa wenn auf israelfeindlichen Demonstrationen Hass-Parolen gerufen werden.
    "Es gibt diesen sehr verletzenden Spruch: 'Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein' Wenn dieser Spruch gegen eine Person oder eine kleine Gruppe speziell gerichtet ist, dann ist das der Tatbestand der Beleidigung, der Volksverhetzung. Aber allgemein diese Aussage erfüllt eben keinen Straftatbestand."
    Allgemeinpolitische Slogans werden von den Gerichten immer wieder als freie Meinungsäußerung gewertet – auch wenn viele Juden dies anders sehen. Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus setzt darauf, dass sein Projekt nun eine wichtige Lücke füllt: Viele jüdische Opfer suchten einen Anlaufpunkt, wo sie Verständnis, Zeit und Anonymität fänden.
    "Wir werden nie das Vorzimmer der Polizei sein. Sondern wir sind nach wie vor eine zivilgesellschaftliche Einrichtung, die sich auch in Zukunft herausnehmen wird, polizeiliches Verhalten offen und kritisch anzusprechen. Das hat Gründe, warum die Leute zu uns kommen und nicht zur Polizei gehen."