Freitag, 29. März 2024

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Übergriffe von Köln
"Kein Polizei-, sondern ein Integrationsproblem"

Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat die Polizei nach den Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof verteidigt. Sie sei von der Intensität der Ereignisse überrascht worden und werde für die Karnevalstage daraus lernen, sagte er im Deutschlandfunk. Pfeiffer sieht das Problem in der Machokultur von Männern aus dem arabischen Raum. Sie lasse sich aber überwinden.

Christian Pfeiffer im Gespräch mit Thielko Grieß | 06.01.2016
    Christian Pfeiffer, ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen
    Christian Pfeiffer: "Da war die Polizei überrascht und sie lernt daraus." (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Thielko Grieß: Die Zahl der Anzeigen, die bei der Polizei in Köln eingeht nach der Silvesternacht rund um den Kölner Hauptbahnhof und im Hauptbahnhof, steigt. Inzwischen sind es mehr als 100 Anzeigen, von der die Polizei berichtet. Diese Polizei in Deutschlands viertgrößter Stadt, in Köln, hat gestern Abend via ARD-Fernsehen in den "tagesthemen" einen Rüffel bekommen von ganz oben, vom Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Das hörte sich so an:
    "Es kann ja nicht sein, dass Folgendes passiert: Hier wird der Vorplatz geräumt und später finden diese Ereignisse statt und man wartet auf Anzeigen. So kann Polizei nicht arbeiten."
    Grieß: Und es gibt viele in Nordrhein-Westfalen und in Köln, die sagen, so kann sich ein Bundesinnenminister auch nicht äußern. Und natürlich gibt es darauf Reaktionen, Kritik an der Polizei und Rechtfertigungsversuche.
    Einspielung Bericht
    Grieß: Und jetzt begrüße ich Christian Pfeiffer am Telefon, den ehemaligen Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Anfang des Jahrtausends auch Justizminister in Niedersachsen für die SPD. Herr Pfeiffer, guten Tag!
    Christian Pfeiffer: Hallo.
    Grieß: Wir wissen nicht viel über die Straftäter, das haben wir auch gerade noch einmal gehört, außer: Es waren Männer und es waren nicht einzelne, sondern viele. Viele Männer als Straftäter – was unterscheidet Männer, die in Gruppen auftreten, zum Beispiel von Frauen? Was macht dieses Verhalten besonders?
    Pfeiffer: So, wie sie sich aufgeführt haben, erscheint eine Gruppenbezeichnung sinnvoll, dass es Männer sind, die stark von Machokultur geprägt sind, die Übergriffe für etwas völlig Normales und ihnen Zustehendes halten, gerade wenn sie angetrunken sind, wenn sie in der Gruppe agieren und dann die Hemmungen sich noch stärker abbauen. Und bisher war zu hören, dass es sich um Männer gehandelt hat, die wohl aus Nordafrika oder aus arabischen Ländern stammen von ihrem Aussehen her oder davon, wie sie sich miteinander verständigt haben.
    Grieß: Schon unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir das alles nicht genau wissen: Halten Sie das so weit für plausibel, diese Zusammenhänge, die von vielen ja suggeriert werden?
    Pfeiffer: Ja. Etwas Entscheidendes fehlt mir noch, das wird die Polizei sicher später noch nachtragen: Gab es irgendeine Form der sprachlichen Kommunikation? Also, konnten die belästigten Frauen, die beraubt wurden, die angegrapscht wurden, konnten die feststellen, ob die Deutsch sprachen? Wenn es nicht der Fall ist, wenn die sich ausschließlich in ihrer Heimatsprache unterhalten haben, dann liegt eher noch die Annahme nahe, dass ein beachtlicher Teil – Genaues wird man nie ermitteln können – zu denen gehört, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, die sozial noch nicht integriert sind und dann solche Verhaltensweisen an den Tag legen. Denn wer hier inzwischen Fuß gefasst hat, der riskiert doch nicht seinen festen Daseinsstatus mit Job und Familie, indem er solche Dinge macht. Also nicht integrierte Männer, das ist nur eine Ferndiagnose, warten wir es ab, was die Polizei da noch an Details veröffentlichen wird!
    "Natürlich haben wir das auch bei deutschen Männern"
    Grieß: Ist dieses Verhalten kulturell bedingt oder ist es auch denkbar, dass sich alkoholisierte Männer, alkoholisierte Deutsche, normal weiße, üblich aussehende – in Deutschland jedenfalls – Männer zusammentun, sich in einen Kreis stellen und die darin befindlichen Frauen antatschen und angrapschen?
    Pfeiffer: Also, natürlich haben wir das auch bei deutschen Männern! Nur, wir wissen genau aus unseren Forschungen… Wir erforschen ja 14- bis 16-Jährige und messen die Orientierung an der Machokultur mit zehn Fragen. Und anonym können die darüber antworten und wir sehen jedes Mal, dass die aus arabischen Ländern, aus Nordafrika Kommenden, auch aus der Türkei, dem früheren Jugoslawien Kommenden, dass die diese Machokultur sehr viel stärker verinnerlicht haben. Und jetzt gibt es eben etwas sehr Erfreuliches, wir messen ja diese Machokultur seit 1998 bei den aus Jugoslawien kommenden, bei den aus der Türkei kommenden, auch bei den aus Russland kommenden Aussiedlern: drastischer Rückgang der Machoorientierungen! Parallel dazu, dass sie zu Hause nicht mehr so viel geprügelt werden, dass die Männer-Frau-Rolle in der Familie sich verschoben hat. Also, es gibt einen erfreulichen kulturellen Anpassungsprozess, der sich auch darin dokumentiert, dass die Gewaltrate der Türkischstämmigen oder aus dem früheren Jugoslawien Kommenden um 30 bis 40 Prozent in den letzten sieben Jahren zurückgegangen ist. Also, wir können sagen: Da hat Integration funktioniert, je besser die Bildung greift, je mehr deutsche Freunde sie haben, je mehr sie sprachlichen in unserer Welt zu Hause sind, umso besser läuft's. Bei den Neuankömmlingen der letzten zwei, drei Jahre sieht das noch nicht so aus, da muss viel Integrationsarbeit geleistet werden, damit das klappt. Und von daher meine ich: Das, was Köln zeigt, ist nicht primär ein Polizeiproblem. Kein Vorwurf, wenn sich jetzt alle noch so sehr den Mund zerreißen, die Polizei hätte und müsste! Das war etwas, was es noch nie gegeben hat in dieser Intensität. Da war die Polizei überrascht und sie lernt daraus und garantiert wird sie im Karneval besser aufgestellt sein. Aber es ist falsch, das Ganze als Polizeiproblem zu bezeichnen, es ist ein Integrationsproblem.
    Grieß: Geben Sie uns vielleicht ein, zwei Beispiele, wie Sie Machokultur – so haben Sie es genannt – messen! Was fragen Sie?
    Pfeiffer: Ein Statement heißt: "Ein richtiger Mann darf seine Frau schlagen, wenn sie fremdgeht." Ein anderes heißt: "Ein richtiger Mann, wenn er beleidigt wird, schlägt sofort zu." "Ein richtiger Mann möchte eine Waffe haben", und so weiter. Also, es sind zehn Statements, wo die immer sagen: Stimme ich voll zu oder gar nicht. Und dann bilden wir einen Summenwert, bilden daraus die Machoorientierung und sehen, dass die Kulturen sich sehr unterscheiden. Und wir sehen deutlich, dass diese Machoorientierung abnimmt, je mehr deutsche Freunde es werden, je besser die Bildung läuft, je mehr sie in unserer Gesellschaft verankert sind. Also, es macht Mut zu sehen, dass uns das bei den aus Jugoslawien und Türkei Kommenden weitgehend gelungen ist, und jetzt haben wir eben die neue Aufgabe mit Ländern, die bisher bei uns schwächer vertreten waren.
    "… dann haben sie diese lange unterdrückten Wünsche nach Sexualität"
    Grieß: Helfen Sie mir und uns ein bisschen mit dem Verständnis: Wenn man sich so verhält, wie es jetzt geschildert wird aus der Silvesternacht – ja nicht nur in Köln, sondern auch in anderen Großstädten, Hamburg wird genannt –, was macht an diesem Verhalten Spaß?
    Pfeiffer: Versetzen Sie sich mal in die Lage ... Jetzt bleibe ich bei meiner These, dass einige von denen Flüchtlinge sind. Die haben irrsinnige Strapazen durchgestanden und die ganze Zeit fehlt ihnen eines: eine Freundin an ihrer Seite. Weil, wir haben ja eine klare Dominanz von jungen Männern, die aus den fernen Ländern zu uns gekommen sind in den letzten Jahren, junge Frauen fehlen aus ihrer Kultur. Und es fehlt ihnen Geld. Und dann sind sie angetrunken. Und dann haben sie diese lange unterdrückten Wünsche nach Sexualität, dann werden die übergriffig. Wenn es so eine Enthemmung gibt, so eine Silvesternacht, wo alle in Partylaune sind und wo dann plötzlich einer anfängt und die anderen machen dann mit. Dann schaltet sich das Gewissen aus. Einzeln ist man ja gar nicht so schlimm, aber in der Gruppe entfaltet sich das dann. Und wie kriegt man das in den Griff? Ich meine zum Beispiel, wir geben den Kommunen, den Sportvereinen viel zu wenig Geld an die Hand, dass sie endlich diese Aufgabe annehmen können.
    Grieß: Aber Herr Pfeiffer, gibt es denn diesen Automatismus, dass, wenn ich, ich nenne das mal: sexuell frustriert bin oder wenig gefordert bin, dass das sich umsetzt in Gewalt auf der Straße? Wenn ich mich mit anderen, die ähnlich ...
    Pfeiffer: Wenn ich aus einer Kultur komme, wenn ich aus einer Kultur männlicher Dominanz komme, wo die Männer sich das nehmen dürfen, was sie brauchen, wo die Frauen gefügig sein müssen, gehorsam sein müssen – das ist nun mal in arabischen Ländern, am stärksten in Saudi-Arabien der Fall, die jetzt hier bei uns nicht vertreten sind, die nenne ich nur als Beispiel –, dann ist das eine andere Ausgangssituation. Aber das Erfreuliche ist, das Mut Machende ist: Das verlernt sich, wenn sie in unserer Kultur wirklich beheimatet werden. Und von daher bleibe ich dabei: Das alles ist zwar auch eine Aufgabe der Polizei, aber wenn wir schon begreifen, wir müssen jetzt ... "Wir schaffen es", sagt die Kanzlerin. Ich glaube das auch, dass wir das schaffen können, aber dazu muss endlich der Staat von diesen Riesenmilliardeneinnahmen des letzten Jahres mehr an die Kommunen abgeben, damit die diese Integrationsaufgabe schultern können. Es ist absurd, was die Politik macht, dass sie ständig redet "wir schaffen das", aber die Kommunen nicht dazu in die Lage versetzt.
    Grieß: Deuten Sie dieses Verhalten auch als ein Statement des Sich-Wehrens oder der Aggression gegen die staatliche Ordnung, gegen das gesellschaftliche Normengefüge Deutschlands?
    Pfeiffer: Nein. Ich meine, das ist situationsbezogen, in einer alkoholisierten Silvesternacht entstanden, wo die Menschen in Partylaune sind, auf der Straße sind und wo dann bei so einer Gruppe von jungen Männern der Wunsch entsteht, jetzt machen wir mal einen drauf, auf fürchterliche Weise.
    Grieß: Ich will es noch mal anders, vielleicht ein bisschen umgangssprachlicher zuspitzen: Das sind nicht junge Männer, sagen Sie, die in der deutschen Gesellschaft viele Verlierererfahrungen gemacht haben, die nicht durchkommen, nicht angenommen, sich nicht akzeptiert fühlen und sagen, jetzt zeigen wir's dieser deutschen Mehrheitsgesellschaft und wir nehmen uns die Schwächsten, die wir finden, und das sind Frauen in der Dunkelheit?
    Pfeiffer: Ja, dann müsste es ja laufend sich ereignen. Das war eine Ausnahmesituation der alkoholisierten Silvesternacht, wo so etwas passiert. Wir haben ja sonst nicht laufend Übergriffe von diesen Machokulturen auf deutsche Frauen. Die Vergewaltigungsraten sind sinkend. Also, wir sind nicht in einer generellen Bedrohung durch diese Männer, wir müssen nur darauf achten, dass sie bei uns auch wirklich ankommen können. Also, ich sehe nicht ... Ich verstehe gut, dass Sie diese Frage stellen müssen, aber dafür fehlt uns eine Verdichtung ...
    Grieß: Ich muss gar nichts!
    Pfeiffer: ... von Fällen.
    Grieß: Ich wollte gerne. Ich muss gar nichts, ich wollte gerne.
    Pfeiffer: Nein, nein, klar.
    Grieß: Aber es gibt in Deutschland auch Stadtteile oder Straßenzüge in bestimmten Großstädten, da würden Sie ja, wenn Sie als Frau unterwegs sind, nach Einbruch der Dunkelheit nicht alleine gerne durchgehen wollen.
    Pfeiffer: Das verstehe ich ...
    Grieß: Der einzige Unterschied ist, dass das jetzt im Kölner Stadtzentrum stattgefunden hat, also am Hauptbahnhof, den jeder kennt.
    Pfeiffer: Also, so ein Kesseltreiben von Frauen gibt es sonst nicht. Das ist schon eine Sondersituation gewesen. Wir verfolgen sehr aufmerksam die ganze Vergewaltigungsszene, wir haben kürzlich auch türkische Frauen und russische Frauen gefragt, ob sie vergewaltigt worden sind und durch wen, und deutsche Frauen gefragt: Die Zahlen sind halb so hoch wie die Vergleichsfragen, die wir 1992 gestellt hatten. Bei uns sind die Vergewaltigungen rückläufig, auf die Hälfte des ursprünglichen Umfangs. Also keine Rede, dass bei uns trotz all der Einwanderung, die wir in den letzten 20 Jahren erlebt haben, die Dinge schlimmer geworden sind, sie sind besser geworden. Also, da stimmt was nicht, wenn man jetzt die These aufstellen würde, es sei in Deutschland schlimmer als je zuvor oder schlimmer als in den letzten zehn Jahren. Nein, es ist besser geworden, die Machokultur baut sich ab. Aber dieses Beispiel Köln ist ein Alarmsignal, dass wir eine starke Gruppe von jungen Männern in Deutschland haben, die dazulernen müssen, dass unsere Kultur anders ist. Und dafür brauchen wir natürlich Polizei, wenn sie richtig übergriffig werden wie hier und so entsetzliche Dinge machen. Aber in erster Linie brauchen wir Sportvereine, die denen Angebote machen. Oder ich nehme ein ganz verrücktes Beispiel: Mein Bruder erzählte mir gerade, er singt in einem Chor in Brandenburg und da hat der Chorleiter entschieden gemeinsam mit allen Mitgliedern: Wir gehen aufs nächste Flüchtlingsheim zu und holen uns zwölf Männer zum Mitsingen. Und es ist gelungen! Dann mussten sie natürlich irgendwelche Lalala-Lieder singen, also keine sprachlichen, aber es hat riesig Spaß gemacht, sie haben zusammen gelacht und sie setzen das fort. Das ist eine Geste, die kostet nichts, aber sie ist machbar. Also, wir kümmern uns großartig um die minderjährigen Flüchtlinge, die unbegleitet kommen, und um die Familien. Die jungen Männer dagegen, da machen wir einen Bogen drum herum. Das ist ein Fehler, aber da fehlt auch die finanzielle Basis dafür, dass all die Vereine, die hier vielleicht gutwillig wären, dass die das Geld nicht haben. Also, es bleibt dabei, die Bundesregierung redet viel von "wir schaffen das", aber sie tut nicht genug, dass die Kommunen es wirklich bewältigen können.
    Grieß: … sagt Christian Pfeiffer, der frühere Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Herr Pfeiffer, danke für Ihre starken Thesen, immerhin, und Argumente!
    Pfeiffer: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.