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Überlebenskampf im Eis

Ein Wettlauf durch das ewige Eis: 1911 versuchen Roald Amundsen und Robert Falcon Scott jeweils als Erster, den Südpol zu erreichen. Der Sieger, Amundsen, gilt als unbeugsam und Rekord versessen. Bis zu seinem Tod treibt ihn die Suche nach Abenteuern und Ruhm an. Tor Bormann-Larsen schildert in "Amundsen" das Leben des Polarforschers.

Von Thomas Zenke | 17.02.2008
    Amundsens Blick war "kühl, fast kalt, die großen Flächen seines Gesichts verschlossen den Mann wie Eisen". So sah ihn der Schriftsteller Alfred Andersch. Ganz anders Fridtjof Nansen: "Über seinem Gesicht lag der Ausdruck intensiver Offenheit". Er sei "einer der letzten Humanisten aus dem 19. Jahrhundert" gewesen. Amundsen hingegen habe schon zur Generation der Byrd und Papánin gehört, also der Polarforscher, die auf Maschinen setzten und nicht nur auf Menschen, Schlitten und Hunde.

    Amundsens Kältepanzer, so legt Anderschs Typologie nahe, zeigt den entschiedenen Pragmatiker, der kalkuliert und ohne Skrupel nutzt, was einzig dazu dient, die Grenze zu überschreiten und Konkurrenten zu schlagen. Aber der Panzer schützt auch vor Entblößung. Roald Amundsen ist zutiefst gespalten. Fridtjof Nansen wirft einen Schatten, dem zu entkommen, ihm einfach nicht gelingen will. Seine behauptete Selbstgewissheit wird gestört durch das, was dieser Nansen, die Autorität weltweit, vorzuleben scheint, nämlich Polarforschung auch als eine moralische Disziplin. Erst anderthalb Jahre vor seinem Tod wird Amundsen sich in seinen Memoiren eingestehen, dass "Unternehmungen in den Polarregionen" vor dem Hintergrund eines Forscherlebens betrachtet werden müssten. Der Charakter, kommentiert Tor Bomann-Larsen ungerührt, könne eben "ein wichtigerer Maßstab" sein als Breitengrade; damit hat der Biograf sein Erkenntnisinteresse formuliert.

    Roald, "der Ruhmreiche" nach norwegischer Mythologie, wird am 16. Juli 1872 geboren - als der jüngste von vier Söhnen. Kurz nach seiner Geburt zieht die Familie nach Kristiania, dem heutigen Oslo, in die Villa Uranienborg, gleich hinter dem Königsschloss. Eine "erste Adresse". Der Vater kann sie sich leisten. Er ist Reeder, hat wie die Amundsens vor ihm als Schiffseigner und Kapitän viel Geld verdient, vor allem mit Sklavenhandel im Chinesischen Meer. Er ist auf See ein unumschränkter Herrscher gewesen, hat sogar eine Meuterei niedergeschlagen. Aber das ist Vergangenheit, jetzt dirigiert er seine Schiffe vom Land aus.

    Als er stirbt, hofft die Mutter, dass die Söhne "nicht im Kielwasser des Vaters segeln würden". "In ihren Träumen", schreibt Tor Bomann-Larsen, "sah sie Studentenmützen auf ihren widerspenstigen Köpfen und wie sie feierlich ihren jeweiligen akademischen Karrieren zuschritten". Roalds drei Brüder erfüllen ihre Erwartungen nicht. Der Erstgeborene wird ein unsteter Geschäftsmann mit hochfliegenden Plänen; "sein größter Wurf sollte die Produktion von Trockenmilch nach eigenem Patent werden". Der Zweitälteste besucht die Kriegsakademie, wird zum Leutnant und schließlich zum Kapitän befördert. Auch ihn zieht es ins Wirtschaftsleben. Er hat glänzende Ideen, verspekuliert sich aber. Der Dritte, Leon, teilt die ökonomischen Ambitionen der beiden Älteren, verliert jedoch nie den Sinn für das Machbare.

    Und Roald? "Die Mutter", so beginnt das Kapitel "Der Polarstudent", "war der erste Mensch, den Roald Amundsen hinters Licht führte". Er hat ihr versprochen, Medizin zu studieren. Um sie nicht zu enttäuschen, inszeniert er aus Scham und Berechnung ein Doppelleben. Er besucht die Universität zum Schein; im Geheimen hat er "unwiderruflich" beschlossen, Polarforscher zu werden.

    Naturwissenschaftliche Neugier ist es nicht, die Roald beflügelt, sondern eine Legende: Sir John Franklin. Der britische Polarforscher war bei seinem Versuch, die Nordwestpassage in ost-westlicher Richtung zu durchsegeln, im Packeis gescheitert. Er starb an Bleivergiftung; seine Männer kamen durch Erfrieren, Entkräftung und Skorbut um; sogar Kannibalismus soll geherrscht haben. Das ist ein Stoff, an dem sich der junge Amundsen berauschen kann. Auch er will "für eine erhabene Sache" leiden, ein heroischer Märtyrer sein im Lichte des öffentlichen Interesses.

    Einen Triumphzug, wie er sich ihn erträumt, kann er am 30. Mai 1889 beobachten. An diesem Tag kehrt Fridtjof Nansen nach Kristiania zurück. Er hat als erster Mensch Grönland durchquert - auf Skiern. "Schneeschuhlaufen" sei die "nationalste" aller nordischen Sportarten, wird der Patriot in seinem Reisebericht schreiben. Es geht ja nicht zuletzt um die Verteidigung der norwegischen Verfassung gegen den Unionskönig in Stockholm, um die Unabhängigkeit von Schweden also. Und Heldentaten wie die Nansens stärken den Nationalstolz.

    Im September 1893 stirbt auch die Mutter. Für Roald ist Betty, das Kindermädchen, längst zu einer Ersatzmutter geworden; er wird einen Berg in der Antarktis auf ihren Namen taufen. "Es passte ganz zu Roald Amundsens Charakterzügen", kommentiert sein Biograf, "dass er eine Muttergestalt auf der Lohnliste seines Haushalts einer selbstbewussten Mutter vorzog, die ihm vorschreiben wollte, wo es langging". Roald kann nun nichts mehr aufhalten. Er stählt seinen Körper; nur hat er einen Makel: Kurzsichtigkeit. Er wird daraus ein Leben lang ein Geheimnis machen, denn ein sehbehinderter Entdecker, ein Wikinger mit Brille, das entspricht nicht seinem Image.

    Im Frühjahr 1895 legt er seine Steuermannsprüfung ab, 1902 wird er sein Kapitänspatent erhalten. Er trainiert das Skilaufen, geht jedes Risiko ein. Sein Abenteuer auf der Hardangervidda, eine Schlüsselszene der Biografie, wird zum Kampf auf Leben und Tod. Er und sein Bruder Leon haben die Orientierung verloren. Ausgezehrt von Hunger, erschöpft durch Kälteeinbrüche und Stürme, fallen sie in Schlaf. Als Roald in der Nacht erwacht, ist er in einen Eissarg eingeschlossen, ihm droht der Erstickungstod. Leon kann ihn retten. Bezeichnenderweise wird Amundsen diese Heldentat später umdeuten und sich als Retter aufspielen.

    Die erste Polarexpedition, an der Amundsen teilgenommen hat, und zwar als erster Steuermann, ist die Belgica-Expedition zum magnetischen Südpol. Bevor die in Norwegen gebaute Belgica unter der Führung des Belgiers de Gerlache 1897 in die Antarktis aufbricht, bekommt sie hohen Besuch: Fridtjof Nansen. Nansen hat erneut triumphiert. Er hat die angenommene ostwestliche Strömung im Nordpolarmeer bewiesen, indem er die Fram, ein Polarschiff nach eigener Konstruktion, im Packeis nordwärts treiben ließ.

    Er und Hjalmar Johansen waren sogar so tollkühn, ausgerüstet mit Schlitten, Hunden und Skiern die Eiswüste zu durchqueren und erst beim 86. nördlichen Breitengrad den Rückweg anzutreten. Jetzt ist der hünenhafte Forscher Professor für Zoologie in Kristiania, und der Polarstudent schaut zu ihm auf. Seine Universität wird die Belgica-Expedition und der Schiffsarzt Frederick Cook sein Lehrmeister. Er studiert das Eis, die Nahrungsmittel, die Mangelerkrankungen, verbessert die Kleidung, entwirft Schlafsäcke für die Polarnacht, bildet mit Cook eine Seilschaft über Gletscherspalten. Und er lernt Innere Führung. De Gerlache erweist sich als der Expedtion nicht gewachsen und verliert an Autorität, für Amundsen eine Chance, Chef-Qualitäten zu beweisen. Auch wenn die Fahrt in die Antarktis zu einem Albtraum wird, er kann stolz sein. Er hat das Land um den Südpol gesehen. Fridjof Nansen nicht.

    Nordwestpassage, Südpol, Nordostpassage, Nordpol - das sind die Stationen dieses rastlosen Forscherlebens. Amundsen reizen die Strömungen im Eismeer der Nordwestpassage und der magnetische Nordpol. Ein Plan wie eine Kopie der Fram-Expedition. Das gefällt Nansen, sieht der junge Mann doch aus wie "ein maßgeschneiderter Nachfolger und Erbe". Ist er das? Clever und berechnend hat er den Nestor der Forschung instrumentalisiert, "seinen", den schwedischen König und auch die Royal Geographical Society in London als Förderer gewinnen können. Ein Rollenspiel nur. Hinter all seinen Finten und Masken verbirgt er, dass er ein Getriebener ist, hungrig nach Abenteuer, ein Hasardeur, der das Wagnis liebt, der sich in unbekannten Regionen erproben will; die lästige Wissenschaft ist für ihn ein Alibi, legitimiert nur das Kapital, das er für seine Expeditionen eintreiben muss.

    Auf der Flucht vor seinen Gläubigern sticht er am 17. Juni 1903 um Mitternacht wie ein Dieb in See. Am 20. November 1906 kehrt er in Norwegens Hauptstadt zurück, stürmisch gefeiert als der erste, der die so lange gesuchte Nordwest-Passage durchfahren hat. Vergessen ist, dass seine Expedition sich "in einem Zustand innerer Auflösung" befand. Er war nicht die Integrationsfigur. Das ewige Eis, die Vereinsamung, die Monotonie der Polarwinter veränderten ihn. Der "Chef" spaltete die Mannschaft, alles erfahrene Männer, in ihrem Urteil über ihn. Die einen schätzten seine ordnende Hand, andere beklagten, dass er Kritik nicht zuließ, "scharf, dass man sich an ihm schneiden könnte".

    Der Erfolg muss vermarktet werden. Sein Bruder Leon, der Vertraute seit seiner Jugend, lenkt die Geschäfte. Amundsen braucht Geld, viel Geld, um seine Schulden zu bezahlen und Neues zu wagen. Er allein hat das Recht auf Veröffentlichung - so will es der Vertrag mit den Expeditionsteilnehmern. Ende 1907 erscheint sein Buch "Die Nordwest-Passage". Er ist indes kein Stilist wie Fridjof Nansen, sein Wort ist "knapp und zupackend". Er braucht Ghostwriter, will er seine Leser faszinieren. Er beauftragt Agenten, hält Vorträge in aller Welt, hofiert Investoren. Auch Nansen setzt sich für ihn ein. Aber er hat die Rolle des Polarfahrers "unendlich aufgewertet", ihn zum Vorkämpfer von Norwegens Freiheit gemacht. Das ist Amundsens Sache nicht; er bedient sich nationaler Symbole, soweit sie ihm nützen. "Roald Amundsen erbaute keine Nation," so sein Biograf treffend, "er erbaute sich selbst".

    Amundsen bespricht mit Fridjof Nansen seine Zukunftspläne. Nansen ist nicht mehr der Mann für eine Drift zum Nordpol; nur eine "Blitzattacke" auf den Südpol nach dem Muster der Grönlanddurchquerung käme für ihn noch in Frage; das Projekt liegt sozusagen in der Schublade. Geschickt bringt Amundsen eine wissenschaftliche Erforschung "des nördlichen Polarbassins" ins Spiel und verschweigt zugleich sein wahres Ziel, den Nordpol. Würde er ihn bezwingen, hätte der Schüler seinen Mentor besiegt. Dazu braucht er die Fram, das einzige norwegische Polarschiff.

    Wie Nansen den Konflikt löst, zeigt seine Größe. Er hat sie wie kein Zweiter erfahren, die tiefe Kluft zwischen Abenteuerlust und seriöser Forschung, und was das heißt, selbst die Familie dem Ehrgeiz zu opfern. Für einen Amundsen besteht diese Kluft nicht, und Frauen sind allenfalls Fluchtpunkte seiner Eitelkeit oder eine Illusion von Glück, sie sind imaginierte Galionsfiguren seiner Expeditionen, fordern sie den Eroberer allzu sehr, kann er sie fallen lassen. Fridjof Nansen ringt mit sich und verzichtet. Er gibt Amundsen die Fram. Er wird sein Land diplomatisch vertreten, den Völkerbund mitbegründen und später dessen Hochkommissar für Flüchtlingsfragen werden.

    Im September 1909 kommt die sensationelle Nachricht, dass der Amerikaner Peary den Nordpol bezwungen haben soll. Auf einen Schlag ist Amundsens Projekt eine Fehlinvestition. Er entschließt sich zu einem "Handstreich", um sein Prestige als Entdecker zu retten. Er täuscht sie alle, Fridjof Nansen, das Parlament, die Geographischen Gesellschaften, die Finanziers. Sein neues Ziel ist der Südpol.

    Am 14. Juni 1909 war Ernest Shackleton aus der Antarktis zurückgekehrt. Seine Expedition war nicht nur am weitesten vorgedrungen, ein paar Meilen fehlten noch bis zum Pol; sie hatte auch den Mount Erebus bestiegen, den Beardmore-Gletscher bezwungen und bewiesen, dass der Südpol auf einer Art Eisschild liegt. Britannien hat einen neuen Helden, Shackleton einen anderen in den Schatten gestellt: Robert Falcon Scott. Auch Scott ist vom Südpol besessen, und so kommt es zum Duell mit Amundsen. Wie so oft im heroischen Zeitalter der Polarforschung stehen zwei sich gegenüber, die unterschiedlicher nicht sein können.

    Scott ist ein Mann von viktorianischem Format. Die Kriegsmarine hat ihn groß gemacht; die nächste Stufe seiner Karriere wäre Konteradmiral. Tatkraft, eiserner Wille, Führungsfähigkeit, Siegeszuversicht - das sind seine Tugenden. Er plant, als ginge es in eine Materialschlacht. Motorschlitten sollen eingesetzt werden, Ponys, Hunde. Seine Selbstüberschätzung lässt ihn Fehler auf Fehler machen; vor allen Dingen sichert er nicht den Rückweg. Logistisch ist ihm Amundsen weit überlegen. Er wählt ein Basislager, das näher am Pol liegt als das von Scott. Er schätzt, dass sie 100 Tage unterwegs sein werden, berechnet, wie viel Nahrungsmittel die Männer brauchen, wie viel Parafin für die Mahlzeiten, wie viel Futter die Hunde, legt Depots an und vergisst nicht, die Strecke zur späteren Orientierung zu markieren. Der Ausgang des Duells ist bekannt: Roald Amundsen steht am 14. Dezember 1911 als Erster am Südpol. Das Empire hat das Nachsehen.

    Geschichte zu schreiben, reicht Amundsen nicht. Er muss seinen Gegner demütigen. Er hat am Pol einen Brief an Scott hinterlassen mit der Aufforderung, seinen Triumph seinem, Amundsens, König zu übermitteln, und degradiert den Geschlagenen so zum Briefträger. Eine weitere Episode ist wichtig für das Charakterbild. Zur Mannschaft gehört Hjalmar Johansen, Fridtjof Nansens Gefährte bei der Durchquerung der Eiswüste in Richtung Nordpol und jetzt sozusagen sein Stellvertreter. Er wird zu Amundsens schärfstem Kritiker.

    In seinen Augen war es ein Fehler, ohne den Winter abzuwarten, einen Vorstoß zum Pol zu riskieren. Bei dieser Kälte wäre ein derartiger Plan ein Vabanquespiel; und Amundsen sollte in der Tat Hundegespanne zugrunde richten und sogar das Leben seiner Männer aufs Spiel setzen. Ein Ernest Shakleton hätte die Einsicht gehabt, in aussichtloser Lage umzukehren. Nicht so Amundsen, sein blinder Ehrgeiz kennt Aufgeben nicht. Warum achtet er nicht das oberste Gebot einer Polarexpedition: die Mannschaft zusammenzuhalten? Als der jüngste Expeditionsteilnehmer Erfrierungen an Beinen und Füßen hat und Hilfe braucht, lässt ihn der Chef auf seinen Vorteil bedacht kaltherzig im Stich. Johansen wird den Mann retten und Amundsen erregt zur Rede stellen. Amundsen hat Angst, an Autorität zur verlieren; Kritik von einem so erfahrenen Polarfahrer sei "doppelt gefährlich". Er wählt "die Höchststrafe", schreibt Bomann-Larsen. Er schickt Johansen zurück und nimmt ihm damit den Pol weg, womit er auch Fridjof Nansen trifft. Wäre der Vorfall publik geworden, hätte man mit Recht gesagt, Amundsen sei ein Mann, der über Leichen gehe um des Sieges willen.

    Das Flugzeug sei die Zukunft der Polarforschung, erklärt Amundsen in "Mein Leben als Entdecker" und verweist damit, wie sein Biograf pointiert, Fridjof Nansens Hunde, Skier und Schlitten ins Museum. Amundsen kommt zu seiner Erkenntnis "in der Umarmung des Eises". Am 24. Juni 1918 legt die Maud in Kristiania ab, sie soll ihn in das unerforschte Gebiet zwischen Nordpol und Alaska bringen. Alles verläuft zunächst nach Plan, aber dann holt sie das Eis ein. Amundsen ahnt, dass er die Expedition nicht überleben könnte. Ein Kampf mit einem Eisbären hat Narben hinterlassen; er hat Probleme mit dem Herzen, dem Atmen, dem Puls, seinem zweimal gebrochenen Arm; er ist niedergeschlagen, kann seine Männer nicht begeistern und fordern - quälende Winter lang.

    Nicht zuletzt laufen die Geschäfte zu Hause nicht, so sehr sich Leon auch einsetzt. Der Bankrott ist nicht abzuwehren; die Brüder werden sich darüber entzweien. Amundsen ist, wie Tor Bomann-Larsen formuliert, "ein Mann ohne festen Ankergrund, ein Schiff auf der Drift, der Fliegende Holländer". Wie sich aus dieser Krise befreien? Das Flugzeug soll die Rettung sein - und ein neues Wagnis: ein Flug zum Nordpol. War das Flugzeug schon konstruiert worden, mit dem man dieses Ziel erreichen konnte? Die ersten Versuche abzuheben, scheitern kläglich.

    Doch den Wagemutigen verlässt das Glück nicht. Der Amerikaner Lincoln Ellsworth, Sohn eines Multimillionärs, bringt die Wende; er will mitfliegen und verfügt über das nötige Kapital. Am Abend des 21. Mai 1925 starten die N-24 und die N-25, zwei Flugboote gebaut in Italiens Dornier-Werken, und nehmen Kurs auf den Nordpol. An Bord der N-25 sind der erfahrene Pilot Hjalmar Riiser-Larsen, ein deutscher Mechaniker und Amundsen, der Chef, als Beobachter. Amundsen sei zwar ein Pionier der modernen Technik gewesen, kommentiert sein Biograf, "doch sein eigentlicher Beitrag beschränkte sich auf die Phantasie", er spielte mit der Technik eher, als dass er sie wirklich verstand.

    Damit ist das Kapitel "Im Reich des Todes" eröffnet, eines der packendsten des Buches. Zu klären ist, ob es im Polarbassin geeignete Landeplätze gibt. Amundsens Pilot Riiser-Larsen entdeckt eine Eisrinne, in der das Flugboot wassern kann - unbeschädigt, jedoch eingeklemmt zwischen den sich auftürmenden Eiswänden. Drei Mann können das Flugboot nicht wieder flottmachen. Auch N-24 mit Ellsworth an Bord ist inzwischen gelandet, auf 87 Grad 43 Minuten nördlicher Breite, zur allgemeinen Enttäuschung nicht am Nordpol. N-24 hat ein Leck, der Motor versagt, der Pilot ist schneeblind; der Crew bleibt nur, die norwegische Flagge zu hissen.

    Amundsen sieht sie durch seinen Feldstecher. Sie verständigen sich mit Signalflaggen. Aber "Treibeis ist ein trügerisches Element, abwechselnd meterhoch und millimeterdünn, hart wie Feuerstein und weich wie Moos, unüberwindliche Barrieren wechseln mit offenem Wasser". Die gar nicht so große Distanz zwischen den Flugbooten wird zu einem Albtraum. Amundsen hört schreckliche Schreie: Hat der Polarstrom Opfer gefordert? Ellsworth gelingt es jedoch, seine Gefährten aus dem eisigen Wasser zu ziehen. Endlich sind die Kräfte vereint, und alle können gemeinsam darangehen, die N-25, Amundsens Flugboot, startklar zu machen. Dazu müssen sie der Natur eine Startbahn abringen, ist doch das Presseis in ständiger Bewegung. Es kann nicht mehr um den Nordpol gehen, nur noch darum, zu überleben.

    Sie schuften in der tödlichen Kälte, zerschneiden Eisblöcke, schaufeln Schnee und stampfen ihn fest - wegen der knappen Essensrationen nur acht Stunden am Tag. Die N-25 droht vom Eis in die Tiefe gedrückt zu werden. Ein Startversuch nach dem anderen misslingt. Zudem ist es Sommer, die Temperatur klettert, wird die Startbahn aufweichen. Am 15. Juni ein letzter Versuch. Ausrüstung, Proviant, Skier - alles wird zurückgelassen, damit die Maschine an Gewicht verliert, um abheben zu können. Der Pilot riskiert den Start. Kurz vor dem Ende der Eisscholle steigt das Flugboot in den Himmel. Amundsens Auferstehung? Der wahre Held ist der Pilot.

    Oberst Umberto Nobile betritt die Bühne, ein Luftschifflenker, kein Polarfahrer, ein Ingenieur, ein Mann des Reißbretts, nicht des Eises. Hinter ihm steht kein Geringerer als Mussolini. Amundsens neues Projekt, mit einem in Italien entwickelten Zeppelin zum Nordpol zu fliegen, dem "krönenden Ziel", ist ein Prestigeunternehmen ganz nach dem Geschmack des Duce. Man verbeugt sich zwar vor dem "Brudervolk" und dem berühmten Amundsen und nennt das Luftschiff Norge, das Gerangel um Posten und Funktionen an Bord vergiftet indes sehr schnell die Zusammenarbeit. Bomann-Larsen zeigt, dass Amundsens Führungsanspruch unhaltbar ist: Läuft alles glatt, haben der Pilot und seine Techniker das Sagen. Allein bei einer Bruchlandung auf dem Eis hätte man Amundsen gebraucht.

    Am 11. Mai 1926 steigt die Norge in den Polarhimmel auf. Amundsen bietet ein groteskes Bild: Der alte Polarfahrer sitzt in der Führergondel auf einer Art Thron wie der Zuschauer in einer Theaterloge und starrt durch den Feldstecher auf der Suche nach unentdecktem Land zwischen Pol und Alaska, "seinem" Roald-Amundsen-Land. Als sie den Polpunkt überflogen haben, legt er den Feldstecher in den Schoß. "Es gab nur Eis", schreibt sein Biograf, "er hatte entdeckt, dass es nichts zu entdecken gab". Wieder an Land ist er eine tragische Figur: Die Menge will den Zeppelin sehen, nicht aber einen Arktisveteranen, sie feiert den Piloten des denkwürdigen Fluges, nicht den Kopf des Unternehmens - wie das kleine Mädchen, das nicht dem "Polfahrer aller Polfahrer" den Willkommensstrauß reicht, sondern Oberst Nobile in seiner glänzenden Uniform.

    Ein in seinem Narzissmus zutiefst gekränkter Held: Vielleicht liegt hier der Grund, dass Amundsen in seinen Memoiren, "Teufel, sind die böse", mit allen abrechnet, die ihn, glaubt er, daran gehindert haben, zu triumphieren. Er überwirft sich mit der ganzen Welt. Natürlich mit Nobile, seinem Erzfeind; es solle ihm nicht vergönnt sein, "sich eine Ehre zuzuschanzen, die ihm nicht zukommt". Aber auch mit der Großmacht England, die er, der Sieger über Scott, zu den "bad losers" zählt. Er schafft diplomatische Verwicklungen, wittert überall Verräter, verstößt Freunde. Ist er noch satisfaktionsfähig? Die moralische Instanz Fridtjof Nansen urteilt: Amundsen habe "vollständig die Balance verloren" und sei nicht länger für seine Handlungen verantwortlich. Sein Ort, stellt sein Biograf fest, ist von nun an das innere Exil.

    Scott war der Unterlegene am Südpol; für die nach Sensationen fiebernde Öffentlichkeit ist der Erste alles, der Zweite nichts. Der Zeitzeuge Stefan Zweig kommt 1927 indes zu einem anderen Schluss. Scotts Scheitern sei in unserer neuzeitlichen technischen Welt ein "Anruf an die Menschheit", sein heroischer Tod "gesteigertes Leben". Das zähle mehr als die Pioniertat des Norwegers. Seltsam, auch Amundsen gelingt am Ende so etwas wie eine Apotheose. Sein Glück ist, dass Umberto Nobile mit seinem Luftschiff Italia über dem nördlichen Polarbassin vermisst wird. Aufgefordert, sich an einem Rettungseinsatz zu beteiligen, antwortet Amundsen: "Right away".

    Ein Mussolini hätte nach seinem Ehrenkodex Nobiles Tod "in Glorie" vorgezogen. Der alte Amundsen will den Lorbeer, will vor aller Welt Größe zeigen, sich für seinen Erzfeind aufopfern. Geht es ihm wirklich um Nächstenliebe? Sucht er nicht sein Grab? Er äußert gegenüber einem Reporter: "Oh, wenn Sie nur wüssten, wie großartig es dort oben ist! Da würde ich gern sterben, ich würde mir nur wünschen, dass der Tod auf ritterliche Weise käme." Am 17. Juni 1928 steigt Amundsens Doppeldecker in den Himmel. Um 18 Uhr 45 noch ein Funkspruch. Dann Stille für immer. Der Polarfahrer hat sein Leben in die Waagschale geworfen und im Tod triumphiert.

    Nobile wird aus dem Eis zurückkehren, aber als ein Mann ohne Ehre, da er sich als Erster vor seiner Crew von einem Schweden hat retten lassen. Nobile wird von Mussolini degradiert. Amundsen steigt auf in den Pantheon der Polarforscher aus heroischer Zeit. So will ihn das patriotische Norwegen sehen. Tor Bomann-Larsen, Amundsens Biograf, resümiert dagegen kalt: "Während er einen Meilenstein nach dem anderen hinter sich ließ und der Menschheit vermehrt geographische Kenntnisse anbot, bewegte er sich selbst als Person auf eine immer größere innere Verarmung zu."

    Tor Bomann-Larsen: "Amundsen. Bezwinger beider Pole"
    Marebuchverlag, 29,90 Euro