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Überlegungen zur Freiheit

Wolfgang Huber war 15 Jahre lang evangelischer Bischof in Berlin und bis 2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Vor seiner Kirchenkarriere war er Professor für Sozialethik und für Systematische Theologie. Zu seinem 70. Geburtstag hat der C. H. Beck Verlag seine gesammelten Aufsätze veröffentlicht.

Von Christoph Fleischmann | 13.08.2012
    Moderne Freiheitsgeschichte und Christentum – passt das zusammen? Schließlich mussten sich doch viele, die für Freiheit und Autonomie stritten, nicht nur gegen staatliche, sondern auch gegen kirchliche Bevormundung durchsetzen. Andererseits: Eine von Martin Luthers reformatorischen Programmschriften trägt den Titel "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Wolfgang Huber hat – wie die nun aus Anlass seines 70. Geburtstages versammelten Aufsätze zeigen – in immer neuen Anläufen versucht, neuzeitliches Autonomiestreben und christliches Freiheitsverständnis in Beziehung zueinander zu setzen:

    "Luther hat ohne Zweifel einen weiteren Freiheitsbegriff. Und ich bin fest überzeugt, das dieser weitere oder auch tiefere Freiheitsbegriff für die moderne, neuzeitliche Auseinandersetzung wichtig ist, denn es ist ja eine Verengung, wenn man Freiheit nur als Autonomie in dem Sinn versteht, als sei der Mensch sich selbst genug. Der Mensch empfängt seine Freiheit, bevor er sie gestaltet, so wie er auch sein Leben empfängt, bevor er mit ihm verantwortlich umgeht. Und diese Dimension von Freiheit als Gabe, von Freiheit als Befreiungserfahrung, von Freiheit als Freiheit von Schuld und von Tod, diese Dimension ist in der neuzeitlichen Entwicklung nicht mehr so präsent."

    Luthers Freiheitserfahrung war die Erfahrung, einen Gott zu haben, der ihm gnädig ist, der ihm seine Schuld nicht anrechnet und deshalb dem Tod seinen Schrecken nimmt. Im ersten von drei Kapiteln fragt Wolfgang Huber nach der bleibenden Bedeutung der Reformation, das Zweite Kapitel versammelt grundsätzliche Überlegungen zum Freiheitsverständnis; abgeschlossen wird das Buch durch Aufsätze, die konkreten ethischen Fragen nachgehen. Luthers Freiheitserfahrung, einen gnädigen Gott zu haben, kann heute nur noch von wenigen Menschen nachvollzogen werden. Huber versucht deswegen Erfahrung und Gehalt dieses christlichen Freiheitsbegriffes säkular zu übersetzen:

    "Freiheit meint nicht Selbstverfügung, nicht Selbstbesitz, sondern die dem Kommen Gottes verdankte Identität und damit eine radikale Unverfügbarkeit der menschlichen Person: Weder ich selbst noch ein anderer, weder eine gesellschaftliche noch eine politische Macht kann über mein Person-Sein verfügen."

    Die Unverfügbarkeit der Person, sodass kein Mensch als bloßes Mittel zu einem Zweck verwendet werden darf: Dies wäre – säkular gesprochen – der jedem Menschen vorgegebene Freiheitsraum. Der Gedanke, dass man Freiheit nicht selber schaffen kann, sondern empfangen muss, wird von Huber auch sozial entfaltet:

    "Menschliches Leben ist ja von allem Anfang an ein Mitleben mit Anderen: Wir gebären uns nicht selbst, sondern wir werden geboren. Wir ernähren uns nicht selbst, sondern wir werden genährt, wir empfangen unser Leben und das, was wir für unser Leben brauchen zuerst von anderen, von der Mutter, vom Vater, von Menschen in unserer Umgebung, bevor sich schrittweise eine Selbstständigkeit entwickelt, die aber auch weiterhin immer einschließt, dass ich immer, Tag für Tag, nicht nur in Beziehung zu mir selbst, sondern in Beziehung zu Anderen lebe. [...] Ich lebe in einem Geflecht mit Anderen, und innerhalb dieses Geflechts entwickele ich meine Selbstständigkeit."

    Der Andere ist also nicht, wie es der liberale Freiheitsbegriff will, nur die Grenze meiner eigenen Freiheit, er ist der Lebensgrund einer – wie Wolfgang Huber sagt – kommunikativen Freiheit. Da Freiheit in Beziehungen gelebt wird, gehört für Huber auch die Verantwortung zur Freiheit:

    "Der Ausgangspunkt dabei ist, dass ich diese Freiheit zunächst mal als etwas mir Anvertrautes ansehe, also etwas, womit ich nicht beliebig umgehen kann. Also, es ist nicht ein Begriff von Freiheit als Beliebigkeit, sondern von Freiheit als einer mir anvertrauten Handlungs- und Lebensmöglichkeit. Und die kommt zu ihrer Erfüllung, wenn ich sie dazu einsetze, dass auch Andere in Freiheit leben können. Insofern ist die Rücksichtnahme auf die Freiheit Anderer nicht eine Einschränkung meiner Freiheit, sondern Ausdruck meiner Freiheit, weil meine eigene Freiheit reicher, vielfältiger dadurch wird, dass ich sehe, dass die Freiheit anderer dadurch gefördert wird, dass ich selbst mit meiner Freiheit verantwortlich umgehe."

    Das steht in großer Nähe zu der berühmten Definition aus dem Kommunistischen Manifest, wonach die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist. Aber auch wenn Huber seinen Freiheitsbegriff durchaus auf gesellschaftliche Institutionen bezieht, vermeidet er doch den Kontakt zu Marx.

    Statt der freien Entwicklung aller betont Huber das bürgerliche Konzept der Verantwortung – und zwar so stark, dass die Verantwortung über die Freiheit zu siegen scheint, wenn er schreibt:

    "Deshalb ist es kein Selbstwiderspruch, wenn ich die Verantwortung für Handlungen übernehme, zu denen ich keine Alternative hatte. Verantwortung bedeutet, dass ich aus Freiheit zu diesen Handlungen stehe."

    Wenn man notgedrungen das Richtige tut – etwa ein Kind aus dem Teich zieht, um es vor dem Ertrinken zu retten – so handelt man verantwortlich. Aber handelt man dann auch in Freiheit oder hat man eben nur der Not gehorcht? Wenn das Pathos der Verantwortung gewinnt, wird die Freiheit letztlich zur Einsicht in das Notwendige. Das aber wäre eine arg begrenzte Vorstellung von Freiheit.

    "In einer Zeit, in der wir lernen, welche Fehlentwicklungen sich damit verbinden können, wenn wir Freiheit nur als Selbstmächtigkeit des Menschen ansehen. Wir erleben das in den bioethischen Fragen, wir erleben es angesichts der Vergötzung des Geldes, die dann zu Finanzmarktkrisen und dergleichen führt. Immer an diesen Stellen ist es wichtig, das Verständnis von Freiheit als etwas, was mir geschenkt, anvertraut, zugesprochen ist, diese Dimension neu zur Geltung zu bringen."

    Das ist nicht ganz falsch, atmet aber doch den Geist schlechter Predigten, wo die Anstrengungen der Menschen, selbst etwas zu schaffen, schnell als Hybris, als Hochmut gegenüber Gott gedeutet werden.

    Auch ergeben sich die konkreten ethischen Forderungen, die Huber nennt, nicht immer so leicht und zweifelsfrei aus seinem Freiheitsbegriff, wie er das nahelegt. Aber Hubers grundsätzliche Überlegungen geben eine Hilfe, die Fragen präzise zu stellen: Ab wann verstoßen biomedizinische Optimierungen gegen den jedem Menschen geschenkten Freiheitsraum? Und verbietet es die Unverfügbarkeit der Person, dass der Mensch das Geschenk von Freiheit und Leben im assistierten Suizid dem Schöpfer wieder in die Hände gibt?

    Hubers immer neue Anläufe, das Thema Freiheit zu buchstabieren, sind kein großer runder Entwurf. Sicher ist das auch der kirchlichen Karriere des Professors geschuldet. Aber Hubers Überlegungen zur Freiheit geben weit mehr zu denken als Joachim Gaucks einseitiges Freiheits-Pathos.

    Buchinfos:
    Wolfgang Huber: Von der Freiheit: Perspektiven für eine solidarische Welt. C.H. Beck Verlag, 240 Seiten, 12,95 Euro, ISBN: 978-3-406-63723-0