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Ukraine ein Jahr nach Parlamentswahl
Stockende Reformen und äußere Gefahren

Nach der Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten der Ukraine setzten auch bei der Parlamentswahl viele große Hoffnung in seine neue Partei "Diener des Volkes". Doch vielen der neugewählten Parlamentarier fehlt es offenbar an Expertise. Nach einem guten Start ist die Euphorie verflogen.

Von Peter Sawicki | 21.07.2020
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während einer Parlamentsdebatte zur Ausbreitung des COVID-19-Virus am 30. März 2020(Photo by STR / POOL / AFP)
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kämpt noch mit seiner Unerfahrenheit und dem Einfluss von Oligarchen (AFP / POOL)
An einem warmen Juliabend 2019 berichtet das ukrainische Fernsehen über Teil zwei einer beispiellosen politischen Erneuerung. Zwei Monate zuvor war der TV-Schauspieler Wolodymyr Selenskyj Präsident geworden. Amtsinhaber Petro Poroschenko hatte der Politikneuling mit mehr als 70 Prozent Stimmanteil deklassiert. Kurz darauf löste Selenskyj die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, auf und rief Neuwahlen aus. Sie hätten ohnehin im Herbst stattgefunden, doch der Präsident wollte den Schwung des Wahlsieges nutzen und sich eine Mehrheit im Parlament sichern.
Es gelingt ihm. Seine neue Partei "Diener des Volkes" erringt 43 Prozent der Stimmen. Das reicht für eine eigene Mehrheit. Mehr als 250 "Diener" ziehen in die Rada ein. Alle von ihnen zum ersten Mal. Selenskyj hatte seinem eigenen Vorbild folgend ausschließlich auf neue Kräfte gesetzt. Darunter auf Halyna Yanchenko. Ein Jahr später zieht die frühere Antikorruptionsaktivistin und heutige Vizefraktionschefin der "Diener des Volkes" ein Zwischenfazit:
"Die Erfahrung, große Entscheidungen zu treffen, ist neu für mich. Ich arbeite jetzt bis zu 16 Stunden am Tag. Es gibt zahllose Meetings, wir verfassen Gesetzentwürfe, und ich gebe viele Interviews. Das ist aber nichts im Vergleich zum psychologischen Aspekt, der mit der eigenen Verantwortung einhergeht. Ich habe außerdem begriffen, dass gute Initiativen allein nicht ausreichen. Diskussionen darüber mit verschiedenen Akteuren gehören auch dazu."
Die neue ukrainische Abgeordnete Halyna Yanchenko versucht sich bürgernah zu geben. 
Joggen statt Bürgersprechstunde: Die neue ukrainische Abgeordnete Halyna Yanchenko versucht sich bürgernah zu geben.  (Deutschlandradio / Peter Sawicki)
Statt Sprechstunde joggt man jetzt mit den Bürgern
Für Yanchenko bedeutet das vor allem – Menschen außerhalb des Parlaments einzubinden. Bürgernähe und Transparenz sind für sie zentrale Elemente. Statt einer üblichen Sprechstunde joggt Yanchenko gerne mit Bürgern, anschließend tauscht man sich bei Tee oder Kaffee aus. Ein neuer Stil ist das eine. Inhaltlich war das Kernversprechen der "Diener des Volkes" der Kampf gegen Korruption – nicht zuletzt jene im Parlament. Um zu zeigen, dass man es ernst meint, verabschiedete die Rada zügig ein Gesetz, das die Immunität von Abgeordneten aufhebt. Präsident Selenskyj hatte es schon in seinem Wahlkampf versprochen. Für Parteifreundin Yanchenko ist das gar nicht hoch genug einzuschätzen:
"Die Immunität von ukrainischen Abgeordneten war zuvor praktisch unantastbar. Es konnte keine Anklage erhoben werden, bevor nicht das ganze Parlament darüber diskutierte und grünes Licht gab. Dieses Verfahren war aber zwecklos. Wenn das ganze Land weiß, dass Ermittlungen gegen jemanden angestrebt werden, dann wird diese Person alles tun, um Beweise zu vernichten. Für mich persönlich ist dieses Gesetz der bisher größte Erfolg."
Die neu gewählten Abgeordneten des ukrainischen Parlaments stehen während der Vereidigung.
"Diener des Volkes" - Zwischen Reformen und Oligarchen
Die Partei "Diener des Volkes" von Wolodymyr Selenskyi hat vor einem Jahr die ukrainischen Parlamentswahlen gewonnen. Die Abgeordneten konnten wichtige Gesetze verabschieden – aber ihre Unerfahrenheit und der Einfluss von Oligarchen sind ein Problem.
Wenn man sich rund um den politischen Betrieb in Kiew umhört, gibt es in Bezug auf Halyna Yanchenko viel Lob. Sie und ihre engen Mitstreiter nähmen sich das Versprechen, die Ukraine zu reformieren, zu Herzen. Was aber nicht für alle "Diener des Volkes" gilt. Für Kritiker steht dafür sinnbildlich auch ein Fernsehbericht über den ersten Sitzungstag des neuen Parlaments Ende August 2019.
In der Fraktion "Diener des Volkes" sind neben Akteuren wie Yanchenko, die eine gewisse Vorerfahrung mitbringen, auch Ex-Sportler und Künstler vertreten. Eine Reporterin ging durch die Parlamentsflure, um das fachliche Wissen zu testen. Viele konnten etwa gängige Abkürzungen staatlicher Einrichtungen nicht entziffern. Ein "Diener", der einen Sitz im Agrarausschuss anstrebte, wusste nicht, wie viele Quadratmeter einem Hektar entsprechen. Auch deshalb sieht der Parteiforscher Petro Baykovskyy von der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw die Erneuerung der Werchowna Rada eher kritisch:
"Wir haben heute ein wenig professionelles Parlament, vor allem in der Regierungsfraktion. Sie besteht zu etwa einem Drittel aus quasi zufälligen Leuten ohne Fachkompetenz, die nur Gesetze absegnen. Dass solche Leute gewählt wurden, liegt daran, dass es in der Ukraine ein Bedürfnis nach neuer Politik gab. Aber – nicht immer bringen Neuerungen Gutes mit sich. Im vergangenen Parlament lief zwar nicht alles rund – viele Abgeordnete haben sich um das Allgemeinwohl wenig geschert. Meiner Ansicht nach ist es jetzt aber in vielem schlechter."
Die Oligarchen üben weiter Einfluss aus
Baykovskyy erkennt gleichwohl an, dass einige Gesetze, die das Parlament seit den Wahlen verabschiedet hat, in die richtige Richtung zeigen. Neben dem neuen Immunitätsgesetz hat die Rada zum Beispiel das 2014 geschaffene Oberste Antikorruptionsgericht gestärkt. Außerdem ist ein Gesetz in Kraft, das das Verkaufsverbot von Ackerland aufhebt – eine zentrale Forderung des Internationalen Währungsfonds, der dem Land essentielle Kredite gewährt.
Gleichzeitig beobachtet Politologe Baykovskyy eine Entwicklung, die dem Präsidenten Sorgen bereiten müsse. Schon beim Ackerland-Gesetz hatte es Wolodymyr Selenskyj nicht geschafft, die eigenen Reihen zu schließen und war auf Stimmen der Opposition angewiesen. Ähnlich verlief es bei einem anderen Schlüsselgesetz, für das Selenskyj im Mai persönlich im Parlament warb:
"Wissen Sie – unsere Ärzte retten unsere Leben. Unsere Soldaten beschützen unsere Souveränität. Heute möchte ich Sie respektvoll bitten, für das vorliegende Gesetz zu stimmen. Es dient dazu, unsere Wirtschaft zu schützen – mindestens aber, der Ukraine unmittelbar zu helfen. Vielen Dank!"
Der ukrainische Unternehmer und Oligarch Rinat Leonidowytsch Achmetow verlässt am 13.05.2014 nach einem Gespräch mit Bundesaußenminister Steinmeier (SPD) die Residenz des deutschen Botschafters in Kiew. 
Der ukrainische Unternehmer und Oligarch Rinat Leonidowytsch Achmetow übt viel Einfluss im Land aus (dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka)
Das Gesetz, das Selenskyj anpries, betraf den Bankensektor. Demnach sollten verstaatlichte Geldhäuser nicht mehr an ihre früheren Besitzer zurückgegeben werden können – auch das eine IWF-Auflage. Explizit zielte es auf den Oligarchen Ihor Kolomoyskyj. Dessen "PrivatBank" war Ende 2016 in Staatsbesitz übergegangen. Weil Kolomoyskyj lange als Förderer Selenskyjs galt, wurde befürchtet, dieser würde als Präsident die Verstaatlichung rückgängig machen. Es kam nicht dazu, das Gesetz wurde beschlossen. Allerdings waren erneut Stimmen der Opposition nötig. Für Parteiforscher Petro Baykovskyy aus Lwiw zeigt der Fall, dass Selenskyjs Kontrolle über seine Partei bröckelt, während Oligarchen ihren Einfluss weiter geltend machen. Dabei hätten sie, so Baykovskyy, oft leichtes Spiel:
"Politiker ohne viel Ahnung sind sehr leicht zu beeinflussen. Die meisten neuen Abgeordneten hatten zwar zuvor wohl nichts mit Oligarchen zu tun. Diese haben sich aber Zutritt verschafft. Das kann finanzieller Art sein, muss es aber nicht. Große Oligarchen wie Ihor Kolomoyskyj oder Rinat Achmetow kontrollieren viele Massenmedien. Für ukrainische Politiker wiederum sind Medienauftritte oft überlebenswichtig. Das kostet aber etwas. Und zwar nicht Geld, sondern ein passendes Stimmverhalten."
"Natürlich kommt Selenskyj selbst auch aus dem Orbit eines Oligarchen"
Praktisch seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 versuchen mächtige Magnaten die Politik zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Auch dagegen richteten sich die Maidan-Proteste ab Herbst 2013. Obwohl ab 2014 mit Petro Poroschenko ein Oligarch Präsident wurde, schien deren Macht zunächst zu schrumpfen. Dass sie aber beträchtlich geblieben ist, zeigt aktuell auch die Coronakrise. Im April machte eine vermeintlich großzügige Spende die Runde.
Ohne Maske: Dichtgedrängte Zuschauermenge bei einer Militärparade am 24.06.2020 anlässlich des Sieges über Nazi-Deutschland in der ostukrainischen Stadt Donezk.
Corona - Die Front Ukraine
Die Ukraine hatte mit strengen Auflagen die Corona-Pandemie in Schranken gehalten. Seit die Regeln gelockert wurden, steigen die Zahlen allerdings drastisch. Vor allem spitzt sich die Lage in der weiterhin umkämpften Ost-Ukraine zu.
Umgerechnet knapp zehn Millionen Euro stellte Rinat Achmetow für den Kampf gegen die Pandemie bereit. Der aus Donezk stammende Magnat ist in der Ukraine nicht irgendwer – seit Jahren ist er der reichste Bürger des Landes. Sein Vermögen – derzeit geschätzte drei Milliarden US-Dollar – hat er vor allem im Kohle- und Stahlgeschäft erworben, auch der Krieg in seiner Heimatregion hat ihm nicht nachhaltig geschadet. Achmetow war zuvor mit anderen Wirtschaftsbossen von Wolodymyr Selenskyj zu einem Treffen geladen worden. Weil offenbar auch der Präsident das staatliche Gesundheitswesen für Corona nicht gerüstet sah, wurden die Oligarchen mit ins Boot geholt. Auf einer späteren Pressekonferenz sagte Selenskyj sinngemäß, dass er grundsätzlich bereit sei, Ressourcen von Großunternehmern gezielt für Gemeinwohlzwecke zu nutzen. Nach einer Begrenzung ihrer Macht klang das nicht. Wilfried Jilge ist Osteuropahistoriker und Ukraine-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP. Ihn überrascht Selenskyjs Umgang mit den Oligarchen nicht:
"Man muss zunächst einmal sehen, dass Selenskyj schon in seinem Wahlkampf nicht direkt gesagt hat, dass er den Einfluss der Oligarchen bekämpfen will. Selenskyj hat vor allem eine Kampagne gegen die von ihm als altes Regime bezeichnete Amtszeit von Poroschenko geführt. Das zweite ist: Selenskyj hat diesen Wahlkampf auf der Basis des TV-Kanals 1+1, einer der größten Kanäle in der Ukraine, geführt – der Ihor Kolomoyskyj gehört. Natürlich ist Selenskyj selbst auch, stand im Orbit und kommt aus dem Orbit eines Oligarchen."
Mangel an politischer Expertise
Wie ist vor diesem Hintergrund aber etwa das Bankengesetz zu bewerten, das einen Nachteil für Kolomoyskyj darstellt? Experten sagen, dass Selenskyj hier einerseits keine Wahl hatte. Ohne das Gesetz hätte der Internationale Währungsfonds neue Kredite verweigert. Für Selenskyj selbst hatte es aber auch einen günstigen Nebeneffekt – er konnte demonstrieren, keine Marionette Kolomoyskyjs zu sein, was ihm seine Kritiker vorwerfen. Dennoch stellen Ukraine-Experten wie Wilfried Jilge fest, dass unter Selenskyj Oligarchen neu aufblühen. Der Präsident setze immer stärker auf einen Ausgleich ihrer Interessen – zulasten des Reformprozesses im Land.
Als Beispiel nennt Jilge die Personalpolitik. Im März hat Wolodymyr Selenskyj die Regierung umgebildet. Unter anderem musste der als Reformer geltende Ministerpräsident gehen. Der neue Mann heißt Denis Schmyhal, er arbeitete früher für den Energiekonzern des Milliardärs Rinat Achmetow. Doch auch an der Spitze der Steuerbehörde und des Zolls mussten reformorientierte Kräfte ihren Hut nehmen. Außerdem werden Aufsichtsräte staatlicher Unternehmen immer seltener mit unabhängigen Personen besetzt, dafür mit solchen, die vor allem Ihor Kolomoyskyj nahestehen sollen. Hier zeige sich, so Wilfried Jilge, dass der Präsident mit seinem Politikverständnis an Grenzen stoße:
"Das Problem von Herrn Selenskyj ist: Er versteht nicht den Sinn von Prozeduren, die dafür da sind, dass sie eine Institution gegen externe Einflussgruppen resistent machen. Die Führung macht das, weil sie keine Strategie hat, wie man in Justiz, Wirtschaft und staatlicher Verwaltung die Mechanismen so verändern muss, dass der Oligarcheneinfluss zurückgedreht wird. Was noch nicht mal so schlimm wäre, wenn er ein Team hätte, das die unterschiedlichen Schlüsselbereiche professionell abdecken könnte. Aber hier hat er eben Posten mit seinen Freunden besetzt, von denen er glaubt, dass sie kompetent sind und die er persönlich kennt. Und das ist natürlich ein System, das gut für Oligarchen ist."
Das Friedensversprechen war realitätsfern
Auf diese Weise könnten Wirtschaftsbosse das Umfeld des Präsidenten leichter für ihre Zwecke einspannen. Deren offensichtlicher Einfluss auf einen Teil des Parlaments zeigt aber auch, dass es für Selenskyj quasi unmöglich ist, es immer allen recht zu machen. Im Zweifelsfall müssen Stimmen der Opposition herhalten, um Gesetze durchzubringen. Und damit gegebenenfalls politische Zugeständnisse. Dass Oligarchen weiterhin einen direkten Draht zu Abgeordneten haben, leugnet auch Halyna Yanchenko nicht – die Vizefraktionschefin der Mehrheitspartei "Diener des Volkes". Doch sie betont, dass zumindest in ihren Reihen überwiegend integre Personen seien:
"Also, ich finde: Wenn wir von etwa 20 Abgeordneten ausgehen, die beeinflusst werden, dann ist das nicht viel. Das Kernteam der Fraktion besteht ohne Zweifel aus professionellen und vor allem ehrlichen Personen, denen ich vertraue. Sie sind nicht korrupt und haben mit Oligarchen nichts am Hut. Sie haben gute Ideen und haben die realen Probleme von Menschen im Blick."
Als nächstes Projekt, so Yanchenko, arbeite man an einem Gesetz zu einem besseren Schutz für ausländische Investoren. In der Tat halten Ökonomen externe Investitionen für ein wichtiges Instrument zur Kräftigung der ukrainischen Wirtschaft. Inwieweit allerdings solchen Plänen die Macht der Oligarchen im Weg stehen könnte, muss sich zeigen.
Ein ukrainischer Soldat füllt in einem Materiallager Patronen nach.  
Ein ukrainischer Soldat an der Frontlinie zu den prorussischen Separatisten in der Region Luhansk. (AFP/Anatolii STEPANOV)
Krisenherd Krim bereitet viele Sorgen
Zusätzlich zu den inneren Herausforderungen macht der Ukraine weiter der Krieg im Osten des Landes zu schaffen, mittlerweile seit sechs Jahren. Im Wahlkampf 2019 hatte Wolodymyr Selenskyj zügigen Frieden versprochen. Das war zwar populär – es hat sich jedoch als fernab der Realität erwiesen. An der sogenannten Kontaktlinie, die das von der Regierung kontrollierte Gebiet von jenem der prorussischen Rebellen in den Regionen Luhansk und Donezk trennt, vergeht kaum eine Woche ohne Schusswechsel. Oft gibt es Tote, bis zu 14.000 bisher insgesamt. Für Osteuropaexperte Wilfried Jilge gibt es neben den fortwährenden Kämpfen auch folgendes Hindernis:
"Wir haben keinen Waffenstillstand, davon kann keine Rede sein. Und wir sehen, dass die russische Seite versucht, den Status der Separatisten aufzuwerten. Die sollen im Grunde genommen von Gleich zu Gleich mit der ukrainischen Regierung verhandeln. Damit Russland sich sozusagen aus der Verantwortung zurückziehen kann."
Moskau bestreitet, direkt in den Krieg verwickelt zu sein – trotz vieler Hinweise darauf, etwa der OSZE. Gleichzeitig unterstützt Russland die Rebellengebiete finanziell und vertritt deren Interessen im Friedensprozess. Das im Dezember von Deutschland und Frankreich vermittelte Treffen zwischen Wolodymyr Selenskyj mit Wladimir Putin nährte die Hoffnung auf eine echte Annäherung – bisher vergeblich.
Eine von Putin angestrebte diplomatische Aufwertung der Rebellen, wie sie Wilfried Jilge schildert, ist innenpolitisch kaum durchsetzbar. Umstritten bleibt auch der künftige Status von Donezk und Luhansk. Eine Autonomie für die Regionen, wie sie Moskau fordert, lehnen auch in Selenskyjs Umfeld viele ab – aus Sorge, die Gebiete könnten sich dann endgültig abspalten. Eine baldige Lösung ist nicht in Sicht. Doch auch der zweite seit 2014 schwelende Krisenherd, die von Russland annektierte Halbinsel Krim, bereitet vielen Sorge. Wie prekär die Lage im Schwarzen Meer ist, zeigte sich zuletzt im Herbst 2018. Russische und ukrainische Militärschiffe lieferten sich an der Meerenge von Kertsch direkt vor der Krim Gefechte. An deren Ende wurden die ukrainischen Soldaten festgenommen, die Meerenge zeitweise durch Russland blockiert – der Ukraine damit der Zugang zum eigenen Territorium nördlich der Meerenge verwehrt.

Experten warnen vor einem Angriff Russlands
Frankreichs Präsident Macron (Mitte), mit Wolodymyr Selenskyj (links), Präsident der Ukraine, und Wladimir Putin, Präsident Russlands.
Frankreichs Präsident Macron (Mitte), mit Wolodymyr Selenskyj (links) und Russlands Präsident Wladimir Putin beim Ukraine-Gipfel in Paris (dpa / AP / Pool Sputnik Kremlin / Alexei Nikolsky)
Immer am ersten Julisonntag begeht die Ukraine den Tag der Marine. Gefeiert wird die Gründung der ukrainischen Flotte, es gibt eine Parade, Orden werden vergeben. Zumeist finden die Feierlichkeiten im Hafen von Odessa im Süden des Landes statt. Am diesjährigen Tag der Marine kündigte Präsident Selenskyj eine Stärkung der Seestreitkräfte an, außerdem betonte er, dass die Annexion der Krim inakzeptabel bleibe.
Offiziell strebt Kiew nach wie vor eine Wiedereingliederung der Halbinsel an. Dass das zeitnah geschieht, ist aber schwer vorstellbar. Ex-Parlamentspräsident Oleksandr Turtschynow treibt vielmehr Folgendes um: "Russland hat das Potenzial, die Ukraine von allen Seiten zu attackieren. In Moskau könnten sie bereit sein, etwa in Richtung der Regionen Cherson oder Odessa eine Militäroperation zu starten. Das wäre dann kaum noch als hybrider Angriff zu tarnen, das wäre ein offener Krieg."
Der frühere Russland-Koordinator der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD)
"Russische Politik, die versucht, die EU zu destabilisieren"
Die Entfremdungen zwischen Russland und dem Westen seien nicht lösbar, indem sich Putin und Merkel freundlich unterhielten, sagte der frühere Russland-Koordinator der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), im Dlf.
Turtschynow ist nicht der einzige, der davor warnt. Bereits im Mai zeichnete Ben Hodges, früherer Befehlshaber der US-Truppen in Europa, dieses Szenario. Russland, so Hodges, könnte eine humanitäre Krise auf der Krim inszenieren – als Vorwand, um die Südukraine zu attackieren. Seit langem gibt es Berichte über eine stockende Wasserversorgung auf der Halbinsel. Bis 2014 hatte die Krim den Großteil ihres Wasserbedarfs aus dem Fluss Dnjepr bezogen, der in der Region Cherson nördlich der Krim ins Schwarze Meer mündet. Nach deren Annexion sperrte die ukrainische Regierung den Nord-Krim-Kanal, worüber das Wasser aus dem Dnjepr auf die Halbinsel gelangt war. Was ein mögliches Druckmittel gegenüber Moskau zu sein schien, könnte sich jetzt – so die Befürchtung – als Schwachstelle erweisen.
Osteuropaexperte Wilfried Jilge von der DGAP will Szenarien wie eine Invasion zwar nicht heraufbeschwören. Dass Russland die Ukraine im Schwarzen Meer aber erneut unter Druck setzen könnte – um das Wasserproblem der Krim zu lösen – hält er für realistisch: "Wir haben eine höchste prekäre Situation im nordwestlichen Teil, also in dem Teil des Schwarzen Meeres, wo die Handelsrouten für die ukrainischen Häfen in der Südukraine, also die profitablen Getreideexporthäfen sind. Auch hier könnte so was wie eine Blockadesituation wie im Asowschen Meer entstehen. Deswegen muss man dringend die Beobachtung der Lage am Schwarzen Meer verbessern."
Will heißen – auch westliche Verbündete der Ukraine seien in der Pflicht, diese Entwicklung aufmerksam im Auge zu behalten. Ein Jahr nach der Parlamentswahl ist somit eine gemischte Bilanz sichtbar. DGAP-Experte Jilge will vor allem mit Blick auf die Innenpolitik dennoch eines unterstreichen: "Es stimmt nicht, dass die Ukraine ein Failed State ist, wo nichts gemacht wurde. Es ist vieles gemacht worden. Und deswegen haben wir jetzt diesen Machtkampf. Weil – es geht jetzt um die ganz entscheidenden letzten Reformfelder. Die aber die entscheidenden sind, um die Machtfrage zu lösen."
Auch diesen Prozess, meint Wilfried Jilge, sollten Partner der Ukraine kritisch begleiten. Damit der bereits mit den Maidan-Protesten 2013 eingeschlagene – und vergangenen Sommer fortgesetzte – Reformweg nicht umsonst war.