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Ukraine
Kinder des Kriegs

Im Osten der Ukraine wächst eine neue europäische Kriegsgeneration heran: In der Region werden Kinder und Jugendliche fast täglich mit Tod und Gewalt konfrontiert. Morgens erwartet sie ein Schulweg unter Gewehrsalven, nachmittags sammeln sie Brennholz für die Nächte im Schutzkeller.

Von Roman Schell | 06.02.2017
    Ein Bewohner der umkämpften Stadt Awdijiwka in der Ost-Ukraine läuft durch eine zerstörte Straße mit Ruinen / AFP PHOTO / Aleksey FILIPPOV
    Ein Junge in den Ruinen der umkämpften Stadt Awdijiwka in der Ost-Ukraine (AFP Aleksey FILIPPOV)
    Nikita Chawikow rennt um sein Leben.
    Tief gebückt sprintet der 15-jährige Schüler von einem Haus zum nächsten. Für wenige Sekunden bleibt er auf seinen Knien sitzen, steht auf und läuft weiter. Die Kugeln pfeifen.
    Der große schlanke Junge hasst den Weg von der Schule nach Hause. Heute ist er extra früher losgegangen - um 13. Uhr. Denn normalerweise fallen die ersten Schüsse gegen 16 Uhr. Erst in den frühen Morgenstunden lässt das Donnern der Artillerie nach. Heute brach schon gegen Mittag die Hölle los.
    "Seit drei Jahren läuft dieser Krieg schon. Drei Jahre lang höre ich das alles… Mensch! Komm! Komm!"
    Dach und Scheune sind von Gewehrkugeln durchlöchert
    Zu Hause angekommen, versteckt er sich sofort in seinem Zimmer. Das einzige Fenster ist mit Brettern zugenagelt - wegen der Splittergefahr.
    Das Hausdach und die Scheune nebenan sind von den Kugeln durchlöchert. Wir sind am Stadtrand von Awdijiwka - etwa 100 Meter von ukrainischen Stellungen entfernt. Die meisten Häuser stehen leer. Es gibt viele Zerstörungen. Die Eltern von Nikita wollen hier aber nicht weg.
    "Denn wir können nirgendwo hin. Außerdem wollen wir unser Haus nicht verlassen. Es wird dann ausgeraubt. Wertvolle Sachen werden verschwinden. Es kann auch zerstört werden - alles, was wir lange Jahre aufgebaut haben."
    Mehrere Menschen wurden in den letzten Tagen auf der ukrainischen Seite getötet oder verletzt - darunter auch Zivilisten. Im Separatistengebiet lauert ebenfalls der Tod.
    "Wir wollen nicht frieren!"
    Hier ist die Heimat von Andrej Sujew - der 14-jährige Schüler hat heute Glück. Sein Haus wird nicht beschossen. Nach dem Unterricht kann der kleine schlanke Andrej in seinem Dorf Brennholz sammeln.
    "Wir brauchen so viel Holz wie möglich! Zu viel ist besser als zu wenig. Wir wollen nicht frieren!"
    Dieses Holz ist für den "Bunker" gedacht. So nennt der kurzhaarige Andrej den Keller des zerstörten Kindergartens. Vor wenigen Tagen erst versteckte er sich hier mit dutzenden Dorfbewohnern, als die Ortschaft Betmanowe beschossen wurde. Der Junge mit grauen Augen ist sicher - die nächsten Angriffe werden kommen. Deswegen die Vorsorge.
    Der Keller ist etwa 100 Quadratmeter groß. Dunkel, feucht, kalt. Es gibt einige Räume mit alten Betten, Tischen und Stühlen. Die Wände haben die Kinder mit bunten Farben bemalt.
    Hoffnung trotz ständiger Angst
    "Hier steht: Ich will Frieden! Das hat meine jüngere Schwester geschrieben. Und hier steht noch einmal: Ich will Frieden! Das hat meine ältere Schwester geschrieben. "
    Andrej ist voller Hass. Er wünscht sich eine offizielle Grenze zur Ukraine.
    "Hier landeten verschiedene, unzählige Geschosse. Granaten, Panzer und Raketen haben unseren Dorfrand in Ruinen verwandelt… Die Ukrainer kamen zu uns mit Panzern, und unsere Männer kämpften für ihr Land, für den Donbass, gegen die Feinde!
    Trotz ständiger Angst hofft Nikita auf der anderen Frontseite dagegen, dass die Demarkationslinie irgendwann verschwindet und dass die Jugendlichen auf beiden Seiten ihren Hass überwinden.