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Ukraine-Konflikt
"Debalzewe ist aus meiner Sicht ein Sonderfall"

Im Fall der von Separatisten eroberten Stadt Debalzewe sei die Waffenstillstandsvereinbarung von Minsk etwas unklar, sagte Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF. Wenn aber die Separatisten weiter marschierten, sei das eine völlig neue Lage.

Wolfgang Richter im Gespräch mit Dirk Müller | 19.02.2015
    Ukrainische Truppen ziehen sich aus Debalzewe zurück.
    Ukrainische Truppen beim Rückzug aus Debalzewe (AFP / Anatolii Stepanov)
    Dirk Müller: Die Vereinbarung von Minsk ist klar verletzt worden. Das sagen jedenfalls die einen. Die anderen meinen, doch nicht so ganz, denn trotz der Eroberung der Stadt Debalzewe durch die Separatisten, trotz der vielen Toten und der vielen Verletzten, trotz der Zerstörungen im übrigen Frontverlauf hält die Waffenruhe im Großen und im Ganzen. Das behaupten jedenfalls auch Sprecher der OSZE-Mission vor Ort. „Im Großen und Ganzen", was das immer auch konkret bedeuten mag.
    Wir haben es gestern bereits detailliert berichtet: Debalzewe ist gefallen. Die Separatisten haben sich militärisch durchgesetzt gegen die ukrainische Armee, und das alles vor dem Hintergrund des Minsker Abkommens. Waffenruhe, das war das große Stichwort, was am vergangenen Wochenende ventiliert wurde - unser Thema jetzt mit Oberst a.D. Wolfgang Richter, jetzt bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Guten Tag!
    Wolfgang Richter: Schönen guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Heißt Waffenruhe auf Ukrainisch, der Krieg geht weiter?
    Richter: Das muss man nicht unbedingt so sehen. Das wird sich jetzt herausstellen. Der Fall Debalzewe ist aus meiner Sicht ein Sonderfall. Es gibt hier eine Bestimmung in den Waffenstillstandsvereinbarungen vom 12. Februar, dass sich Regierungstruppen hinter die aktuelle Frontlinie zurückziehen sollen, was immer das heißt. Das war wohl die Kompromissformulierung, weil man sich über die Rolle Debalzewes nicht so richtig einigen konnte. Es geht hier um einen Keil, der sehr tief in das Separatistengebiet hineinragt, den man da beseitigen wollte. Das Gebiet war weitgehend eingeschlossen, es waren nur noch Feldwege offen, um die Logistik sicherzustellen. Auf der anderen Seite müssen die Separatisten hinter die Linie, die Demarkationslinie des Minsker Abkommens vom 19. September 2014 sich zurückziehen und alle müssen ihre schweren Waffen aus dieser Sicherheitszone heraus abziehen, sodass ein Abstand von etwa 50 Kilometern entsteht. Diese Dinge werden wir in den nächsten Tagen sehen. Wenn es stimmt, dass Debalzewe ein Sonderfall war aufgrund dieser ganz besonderen Lage und dass jetzt eine Chance besteht, den Waffenstillstand wirklich umzusetzen, dann würde ich Minsk II nicht aufgeben und nicht verloren geben. Im Gegenteil: Man muss einen langen Atem haben. Wir wussten alle, dass es sehr schwierig wird und dass es Rückschläge geben wird, aber jetzt sofort die Flinte ins Korn zu werfen, wäre falsch. Ich glaube, jetzt wird sich erst erweisen, ob die Vereinbarung tatsächlich halten kann, denn die Knackpunkte der Vereinbarung, die kommen ja noch.
    "Das war ein Bruch der Waffenruhe"
    Müller: Die Flinten sind ja auch weiter benutzt worden oder werden weiter benutzt. Das ist ja jetzt unser Punkt. Wenn wir vor ein paar Tagen darüber gesprochen hätten mit Blick auf das Wochenende, wo man gesagt hat, hier das Ultimatum beziehungsweise die Vereinbarung tritt dann in Kraft von Samstag auf Sonntag, war das für Sie als Experte, als „Eingeweihter" von Anfang an klar, dass diese Debalzewe-Geschichte ganz anders laufen wird, dass das noch „bereinigt" werden muss?
    Richter: Das war natürlich völlig unklar und ich glaube, damals oder vor ein paar Tagen hätte keiner so richtig sagen können, wie es weitergeht. Wir müssen erst mal feststellen: Das war ein Bruch der Waffenruhe. Aber es bleibt dabei: Die Waffenstillstandsvereinbarung ist an dieser Stelle etwas unklar, weil sich die Frage natürlich stellt, was ist eigentlich die aktuelle Frontlinie, wenn ein Verband eingeschlossen wird. Das hat, meine ich, die Diplomatie offengelassen, weil es nicht zu regeln war in dieser berühmten Nacht, und wir hören ja auch, dass gerade an dieser Stelle Putin sehr hart verhandelt hat. Wenn das so ist, dass er an dieser Stelle hart verhandelt hat, dann besteht natürlich eine gewisse, ich sage mal, Resthoffnung, dass es dabei auch dann bleibt. Wenn jetzt allerdings die Separatisten weitermarschieren würden, sagen wir mal, in Richtung Artemisk oder in Süden in Richtung Mariupol, dann wäre das eine völlig neue Lage. Dann müsste man davon ausgehen, dass der politische Wille nicht mehr da ist, die Waffenstillstandsvereinbarung einzuhalten. Dagegen spricht eigentlich die VN-Resolution vom Montag, die ja Präsident Putin nun selbst auch mit veranlasst hat. Dagegen spricht der Wille von drei Präsidenten und der Bundeskanzlerin im Normandie-Format, sich dafür einzusetzen, natürlich bei ihrem jeweiligen Klientel, dass die Kriegsparteien sich an die Vereinbarung halten. Das heißt, wir werden es noch sehen in den nächsten Tagen, denn die Zeitlinien kommen ja erst noch, die entscheidend sind.
    Müller: Herr Richter, Sie sagen, dagegen spricht. Dafür könnte sprechen, frage ich jetzt, dass die siegreichen Separatisten indem sie sich auf den Vormarsch begeben und noch mehr Territorium, noch mehr Gelände gewinnen könnten und von daher für die nächste Verhandlungsrunde ihre Ausgangsposition noch weiter verbessern können.
    Richter: Das wäre ein klarer Bruch der Vereinbarungen, denn jetzt sind sie verpflichtet, hinter die Demarkationslinie des Minsker Abkommens vom 19. September sich zurückzuziehen.
    "Debalzewe war ein Sonderfall"
    Müller: Aber den Bruch haben wir ja schon.
    Richter: Ja gut! Ich habe ja gesagt, Debalzewe war ein Sonderfall, weil es die Frage gab, wie sieht eine aktuelle Frontlinie in einem eingeschlossenen Gebiet, also in einem Kessel aus. Das war nicht zu lösen in der Nacht und das war auch hinterher der Punkt der Diskussion. Dass das mit Waffengewalt gelöst worden ist, ist natürlich ein klarer Bruch der Waffenruhe, die ab 15. Februar ja gelten sollte. Aber die anderen Punkte der Vereinbarung liegen jetzt erst an. Das heißt, wir werden sehen, ob zum Beispiel der Abschluss des Abzugs der schweren Waffen in 14 Tagen erreicht ist - das wäre am 3. März -, und wir werden sehen, ob es jetzt wirklich darum geht, den Dialog über die künftigen Wahlen und den Status dieser Region nun zu eröffnen. Das hätte mit Beginn des Waffenabzugs stattfinden sollen, also seit dem 17. Februar. Nun müsste das dringend stattfinden und wir wollen mal sehen, wie sich das darstellt.
    Müller: Herr Richter, noch ganz kurz zwischendurch. Ist das für Sie auch ganz klar ausgemachte Sache, dass die russischen Separatisten voll und umfassend logistisch, militärisch aus Moskau unterstützt werden?
    Richter: Ich glaube schon, dass die Separatisten logistische Unterstützung aus Russland erhalten. Ich glaube nicht, dass es reguläre russische Verbände auf ukrainischem Boden gibt. Wenn das der Fall wäre, wäre dieser Krieg seit Langem beendet worden. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass Russland Fachleute, Militärberater und eben auch Logistik den Separatisten zur Verfügung stellt, damit sie sich durchsetzen können insofern, als sie ihr Gebiet halten können. Es gab auch schon mal andere Zeiten, wo die Separatisten doch schwer in Bedrängnis gerieten, und es fiel auf, dass sie dann doch wieder Aufwind erhielten. Wir sollten aber nicht vergessen, dass auch die andere Seite, die ukrainische Armee, natürlich auseinandergefallen ist und ein großer Teil des Waffenarsenals verloren ging. So schwach war sie ja nicht.
    Müller: Herr Richter, Entschuldigung, dass ich da ins Wort falle. Sie sagten, wenn russische Soldaten in russischen Uniformen, also reguläre russische Truppen vor Ort wären, wäre der Krieg längst beendet worden. Warum?
    Richter: Ich spreche nicht von Soldaten und nicht von einzelnen Freiwilligen. Wir wissen, dass es wahrscheinlich 5.000 bis 6000 Freiwillige gibt aus Russland. Aber es ist ein Unterschied, ob man Einzelpersonen dort hinschickt oder sie auch möglicherweise ausrüstet, oder ob man einen militärischen Verband in voller Ordnung, mit vollem Gerät unter einheitlicher Führung dort hinschickt. Das ist eine andere Qualität. Das können wir nicht feststellen.
    Müller: Dann wäre schon alles entschieden, meinen Sie?
    Richter: Ja, das glaube ich schon, wenn das der Fall wäre. Wir können aber keine Zweifel daran haben, dass es logistische und personelle Unterstützung gibt.
    "Dann wäre ein Umdenken nötig"
    Müller: Jetzt versetzen wir uns in die Perspektive des Westens. Wenn die russischen Separatisten weitermachen, und zwar in der Form, militärisch weiter vorzugehen gegen die ukrainischen Regierungstruppen, sollen wir, der Westen, dann mit Waffen Kiew helfen?
    Richter: Wenn es zu einem Bruch der Vereinbarung kommt und wenn es ein größeres strategisches Ziel gäbe, eine Offensive durchzuführen, die nun weit in die übrige Ukraine geht - ich spreche jetzt nicht mehr über den Donbass oder die gegenwärtigen Gebiete, um die es geht -, wenn das der Fall wäre, dann wäre ein Umdenken nötig. Dann wären die Grundlagen, auf denen man Minsk II aufgebaut hat, völlig zerstört. Dann wäre das Verhältnis zu Russland völlig zerrüttet und dann würde die Situation sich anders darstellen. Noch ist das nicht der Fall und ich glaube, Russland ist sich dessen bewusst, dass Russland völlig isoliert werden würde, wenn das eintreten würde, und nicht umsonst hat die Bundeskanzlerin davon gesprochen, dass eine gesamteuropäische Friedensordnung mit Russland aufgebaut werden muss und nicht gegen Russland. Aber das hat natürlich Russland jetzt auch selbst in der Hand und ich glaube, der Präsident hat das auch erkannt, und es sieht so aus, als ob er einerseits natürlich seine, wie man dort sagt, Landsleute nicht aufgeben will, aber auch nicht darüber hinausgehen will, denn das würde die gesamte strategische Lage in Europa völlig verändern.
    Müller: Heißt das Ja zu Waffenlieferungen?
    Richter: Wenn eine solche Situation einträte, würde ich das anders bewerten als jetzt. Im Moment sage ich Nein zu Waffenlieferungen, solange wir eine Hoffnung haben, dass Minsk II hält.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Wolfgang Richter, jetzt bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Danke ganz herzlich für das Gespräch, auf Wiederhören.
    Richter: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.