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Ukraine-Konflikt
"Es gibt Interesse, zu deeskalieren"

Das Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russlands ist nach Ansicht von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz eine Chance den Konflikt beizulegen. "Leute, die miteinander reden, schießen nicht aufeinander", sagte Schulz im Deutschlandfunk. Das Gespräch könne auch die gemeinsamen Interessen verdeutlichen.

Martin Schulz im Gespräch mit Bettina Klein | 26.08.2014
    Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments
    Mit den Sanktionen und auch mit der Ausweitung der Stufen der Sanktionen seien Signale gesetzt worden, sagte Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments. (AFP / John MacDougall)
    "Es ist natürlich schon bizarr, sich in einer Hauptstadt einer solchen Diktatur treffen zu müssen, um Versöhnungsgespräche führen zu müssen", sagte der Präsident des Europäischen Parlaments mit Blick auf die weißrussische Hauptstadt Minsk. Und dennoch: Das direkte Treffen zwischen Petro Poroschenko und Wladimir Putin sei "ein Hinweis darauf, dass es auf beiden Seiten ein Interesse gibt, zu deeskalieren".
    Im Vorfeld des Treffens habe es zwar auf beiden Seiten Provokationen gegeben, sagte Schulz. Doch "Leute, die miteinander reden, schießen nicht aufeinander. Diese Binsenweisheit trifft in diesem Fall zu, und das halte ich für einen Fortschritt." Mit am Tisch sitzen EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, Energiekommissar Günther Oettinger und Handelskommissar Karel de Gucht. Sie müssten verdeutlichen, dass die Sanktionen gegen Russland ernst gemeint seien, sagte Schulz. "Russland verhält sich in seiner gesamten Strategie völkerrechtswidrig und die Europäische Union kann das nicht hinnehmen. Dennoch: Die Angebote, dass man kooperieren kann und will, die sollen da sowohl im Energiebereich als auch im Handelsbereich vorgetragen werden."
    "Bevor die Sanktionen wirklich zu einem drastischen Absinken von Deviseneinnahmen führt, die die Russische Förderation braucht, ist es doch sinnvoll auszutesten, welche gemeinsamen Interessen haben wir", sagte der SPD-Politiker. Die Ukraine brauche Gas, Russland wolle Gas verkaufen, weil es Deviseneinnahmen benötige.
    Präsident Putin müsse sich nun dazu verpflichten, die Waffenlieferungen an die pro-russischen Aufständischen zu verhindern und die Grenze der Ukraine zu respektieren. Schulz betonte, die Gespräche müssten auch zur Energiesicherheit für Europa und die Ukraine beitragen. Nötig seien weitere EU-Finanzhilfen für die Ukraine, damit Kiew offene Gasrechnungen in Russland begleichen könne und "keine Kurzschlussreaktionen an den Tag legt". Auf der anderen Seite müsse Moskau kontinuierliche Gaslieferungen zu vernünftigen Preisen garantieren.
    Martin Schulz

    Martin Schulz, geboren 1955 in Hehlrath, Nordrhein-Westfalen. Ausbildung zum Buchhändler. Der SPD-Politiker Schulz ist seit Januar 2012 Präsident des Europäischen Parlaments, dem er seit 1994 angehört. Zehn Jahre führte er dort die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE). Im März wählte die SPE Schulz auf einem Parteitag in Rom zum Spitzenkandidaten für die Europawahl, allerdings ging die Fraktion aus der Wahl nur als zweitstärkste Kraft hinter der Europäischen Volkspartei hervor.

    Das Interview mit Martin Schulz in voller Länge:
    Bettina Klein: Krisentreffen für die Ukraine heute in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Die Präsidenten der Ukraine und Russlands kommen dort zusammen, in Begleitung von mehreren hochrangigen EU-Vertretern.
    Am Telefon begrüße ich Martin Schulz (SPD). Er ist Präsident des Europaparlaments. Guten Morgen, Herr Schulz.
    Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Klein.
    "Dass der Dialog stattfindet, ist schon ein Fortschritt"
    Klein: Krisentreffen im Land von Europas "letztem Diktator", wie er auch genannt wird. Treffen in Weißrusslands Hauptstadt Minsk. Von vornherein ein schlechtes Omen?
    Schulz: Ich hoffe es nicht. Es ist natürlich schon bizarr, in einer Hauptstadt oder solchen Diktatur sich treffen zu müssen, um Versöhnungsgespräche zu führen, aber ich hoffe, dass der Ort nicht den negativen Einfluss hat, sondern dass es zu Fortschritten kommt. Ich finde überhaupt, dass der Dialog stattfindet, ist schon ein Fortschritt.
    Klein: Hochrangige EU-Vertreter sind dabei, ich habe es erwähnt. Unter ihnen die Außenbeauftragte Ashton und der deutsche EU-Energiekommissar Oettinger. Welches Mandat haben die denn eigentlich?
    Schulz: Ob sie ein Mandat haben, das definiert ist, das kann man so nicht sagen. Sie sind dabei, um anzubieten, dass wir sowohl in der Energiepolitik als auch in der Handelspolitik als Europäische Union hilfreich sein wollen. Die Ukraine – das ist ja gerade auch gesagt worden – braucht Energieversorgung. Sie braucht auch Geld, um diese Energieversorgung bezahlen zu können. Wir brauchen die Klarheit - ich hoffe, dass diese Klarheit auch von Frau Ashton dort vermittelt wird -, dass die Sanktionen ernst gemeint sind. Russland verhält sich in seiner gesamten Strategie völkerrechtswidrig und die Europäische Union kann das nicht hinnehmen. Dennoch: Die Angebote, dass man kooperieren kann und will, die sollen da sowohl im Energiebereich als auch im Handelsbereich vorgetragen werden. Auch das ist die Rolle, die diese Vertreter dort spielen müssen.
    "Wirkungsmacht dieser Sanktionen ist durchaus möglich"
    Klein: Um bei einem Punkt gleich einzuhaken: Sie sagen, Russland verhält sich völkerrechtswidrig, die Europäische Union könne nicht zuschauen. Die EU sieht aber insofern zu, als sie ja hinnimmt, was dort passiert, und eigentlich nicht eingreifen kann oder eingreifen will.
    Schulz: Eingegriffen haben wir schon. Ich glaube, dass mit den Sanktionen, auch mit der Ausweitung der Stufen der Sanktionen Signale gesetzt worden sind. Ich habe mir gestern noch mal angeschaut, dass die Wirkungsmacht dieser Sanktionen durchaus möglich ist: das Einfrieren von Konten, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Entscheidungsträgern. Ich habe gestern eine Studie eines Londoner Instituts gesehen, die auf einer Skala von eins bis fünf mal dargestellt haben, dass das die Russen im Verhältnis vier zu eins im Durchschnitt im Verhältnis zu den EU-Staaten trifft. Das sind schon Maßnahmen, die nicht eine kurzfristige, aber eine langfristige Wirkung haben. Also man nimmt das nicht nur tatenlos hin.
    Aber in einem Punkt haben Sie Recht: Die Frage, ob man jemand, der militärisch agiert, auch militärisch in die Schranken weisen muss, dort ist bisher jedenfalls - und ich finde das auch richtig - die Antwort, wir wollen nicht, dass es dort zu Krieg kommt.
    Schulz: Das Treffen ist ein Chance
    Klein: Herr Schulz, Sie sprechen hier mehrfach über die Wirkungsweise der Sanktionen, über die Frage nach den Zeiträumen, in denen diese EU-Sanktionen Wirkung entfalten könnten. Im Augenblick sieht es ja nicht nach Zeichen einer Entspannung aus. Im Gegenteil: Moskau hat gestern offenbar den nächsten, nicht mit Kiew abgesprochenen Konvoi angekündigt. Eine Kolonne, so hörte man von ukrainischer Seite, von mehr als 50 Panzerwagen ist bereits über die Grenze gelangt. Wie viel Geduld bringt die Europäische Union denn dann auf, wenn Sie sagen, eigentlich kann sie nicht zuschauen?
    Schulz: Die Tatsache, dass sich um dieses Treffen herum, um das heutige Treffen herum Ereignisse abspielen - die kann man nicht ignorieren -, dass da auf beiden Seiten provoziert wird, dass diese Aufständischen in der Ukraine provozieren, dass teilweise Russland provoziert; es gibt, glaube ich, auch auf der ukrainischen Seite, das muss man genauso sagen, Freischärler, die vor keiner Provokation zurückschrecken. Das wissen wir. Aber die Tatsache, dass sich heute die Präsidenten dieser beiden Konfliktländer treffen, auf neutralem Gebiet und, wie wir eben richtigerweise gesagt haben, auch in der Hauptstadt einer sehr merkwürdigen Diktatur, ist nichts desto Trotz eine Chance. Denn Leute, die miteinander reden, schießen nicht aufeinander. Diese Binsenweisheit trifft aber in diesem Fall zu, und das halte ich für einen Fortschritt.
    "Oettinger muss dazu beitragen, Energiesicherheit zu gewährleisten"
    Klein: Gut. Ich lerne: Es bleibt weiterhin bei Geduld und bei der Hoffnung, die Sanktionen mögen irgendwann Wirkung zeigen. Schauen wir mal auf die konkrete Rolle, die zum Beispiel EU-Kommissar Günther Oettinger dort heute spielen soll. Wie wir aus Brüssel hören: Es geht um Energielieferungen und offenbar um die Befürchtung und Vermutung, die Ukraine könnte ihrerseits die Ventile schließen, damit Russland keine Einnahmen mehr aus der Europäischen Union bekommt, die EU aber andererseits praktisch ohne Gaslieferungen dastehen würde. Ist das sozusagen das zentrale Ziel, das Oettinger dort verfolgt, das zu verhindern?
    Schulz: Ich glaube, Oettinger muss dazu beitragen, Energiesicherheit zu gewährleisten. Die Europäische Union hat Energiereserven. Es ist nicht so, dass man die Ukraine einseitig erpressen können kann. Das heißt, dieses Vorgehen, wir drehen euch den Hahn zu, dann habt ihr kein Gas mehr, da muss die Europäische Union, glaube ich schon, auch signalisieren, dass sie in der Lage ist, zumindest für einen bestimmten Zeitraum Gasausfälle zu kompensieren. Auf der anderen Seite ist es so, dass Oettinger sicher da ist, um darüber zu reden, wie man zu einem fairen Deal kommen kann. Die Russen haben mehrfach - und ich glaube, Putin wird das heute ansprechen - darauf hingewiesen, dass es offene Rechnungen gibt und dass sie dieses Geld haben wollen. Dann wird man auch darüber reden müssen, wie kann man Poroschenko mit Geld helfen, damit er seine Rechnungen bezahlen kann. Umgekehrt: Wie können die Russen anschließend darauf verpflichtet werden, kontinuierlich und zuverlässig Gas zu liefern. Ich glaube, das ist ein hoch komplexes Thema, und das ist genau der Grund, warum Herr Oettinger da ist.
    Klein: Haben Sie denn eine Vorstellung, Herr Schulz, wie ein solcher Deal, von dem Sie gesprochen haben, aussehen könnte, denn dahinter steht ja offenbar die Befürchtung, dass es im Winter kalt bleiben könnte in der Europäischen Union?
    Schulz: Die entscheidende Frage ist, welche Interessenlagen sind da, und da spielen die Sanktionen noch mal eine Rolle. Bevor die Sanktionen wirklich zu einem drastischen Absinken von Deviseneinnahmen führen, die die Russische Föderation braucht, ist es doch sinnvoll, auszutesten, welche gemeinsamen Interessen haben wir, und ich glaube, dass gemeinsame Interesse lässt sich eigentlich relativ leicht darstellen. Die Ukraine braucht Gas, nicht nur für die Energieversorgung der Bevölkerung, sondern auch für die Wiederankurbelung der Wirtschaft. Russland will Gas verkaufen, weil es Deviseneinnahmen braucht. Und deshalb: Wie kann man das in einem dauerhaften Prozess wieder einbringen? Und zweitens: Was kostet es? Und dann muss man ausloten, wer hat welches Geld und wie viel können wir zur Verfügung stellen, um der Ukraine vor allen Dingen dabei zu helfen, das bezahlen zu können, und kann man die Russen davon überzeugen, dass sie die Preise vernünftig halten müssen, und kann man die Ukraine davon überzeugen, dass sie keine Kurzschlussreaktionen an den Tag legt. Ich glaube, das ist das, was da verhandelt werden muss. So weit sind wir aber noch nicht, sondern zunächst mal müssen die beiden Herren überhaupt miteinander reden.
    Klein: Sie haben viele Fragen gestellt, Herr Schulz. Aber Antworten haben Sie darauf auch nicht?
    Schulz: Sie haben mich gefragt, was wird dort diskutiert, und ich hoffe, dass wir am Ende auf die Fragen, die ich gerade aufgelistet habe, nach dem heutigen Tag einen Schritt in die Richtung haben, dort zu nachhaltigen Vereinbarungen zu kommen. Das wäre ja schon mal ein Fortschritt.
    "Territoriale Integrität der Ukraine ist völkerrechtlich zu garantieren"
    Klein: Ich habe schon gefragt nach Ihrer Vorstellung von einem konkreten Deal, wie der aussehen könnte, um quasi auch für die Europäische Union die Gaslieferungen sicherzustellen, denn das ist ja offenbar das Interesse, das Oettinger dort verfolgt.
    Schulz: Ja, genau. Ich glaube, dass man zunächst mal an diese Interessenlagen herangehen muss. Sehen Sie, die Tatsache, dass sich diese beiden Präsidenten treffen, ist in meinen Augen auch ein Hinweis darauf, dass es auf beiden Seiten ein Interesse gibt, zu deeskalieren. Und wenn ab heute die Möglichkeit bestünde, dass die Deeskalation beginnt - die könnte zum Beispiel darin beginnen, dass Putin sich darauf verpflichtet, die Grenzen zu kontrollieren auf illegalen Waffenhandel und illegale Waffenversorgung. Ich habe eben gesagt, völkerrechtswidrig. Die territoriale Integrität der Ukraine ist völkerrechtlich zu garantieren. Dann muss man Russland daran erinnern, dass es nicht zulassen darf, dass an der Grenze ständig Waffen, mit denen am Ende Flugzeuge abgeschossen werden können, in die Ukraine gebracht werden. Das ist ein heißes Thema, das sicher auch heute dort besprochen werden wird.
    Klein: Genau. Der Ukraine ist zum Beispiel im Budapester Memorandum volle staatliche Souveränität und Integrität garantiert worden, und die ist verletzt worden, nicht zuletzt durch die faktische Annexion der Krim.
    Schulz: Eindeutig! Und deshalb wird man darauf wahren müssen, dass das keine Weiterungen haben darf. Ich glaube, was die Leute da im Donbass, diese Aufständischen, was die da fabrizieren, ist sicher nicht akzeptabel, und man muss die Russen daran erinnern, dass sie auch eine Verpflichtung als vetoberechtigtes Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen haben, die Rechtsgrundlagen dieser Vereinten Nationen zu wahren und sie nicht zu beschädigen.
    Die von Russland initiierte Zollunion
    Klein: Das Treffen ist heute eigentlich nur ein Anlass für eine Art Krisengespräch zwischen Poroschenko und Putin. Eigentlich geht es ja um die von Russland initiierte Zollunion. Wertet die Europäische Union eigentlich dieses Bündnis damit auf, das ja bisher eher als eine Konkurrenz zur EU betrachtet wurde? Was soll das Signal sein, das in dieser Frage da von heute ausgeht?
    Schulz: Sowohl die russische als auch die ukrainische Wirtschaft sind auf enge Kooperation mit der EU angewiesen. Das heißt, Sie haben die Bundeskanzlerin ja auch eingespielt in Ihrer Anmoderation. Wir haben Interessen dreifacher Art: die EU mit Russland, Russland mit der EU und beide mit der Ukraine und die Ukraine mit Russland und der EU. Das ist schon eng verwoben und deshalb ist es ganz klar, dass auch über diese Zollunion geredet wird.
    Für uns ist zunächst mal von großem Interesse, dass wir das jetzt unterzeichnete Abkommen zwischen der EU und der Ukraine mit Leben erfüllen. Das ist für die wirtschaftliche Gesundung der Ukraine von großer Bedeutung, kann aber nicht heißen, dass wir nicht mehr mit den Russen Handel und Wandel treiben und über die Energieversorgung reden. Diese Zollunion, glaube ich, die wird ja mit zwei Staaten, die sich immer am Rande eines militärischen Konfliktes befinden. Wenn die jetzt diskutiert wird, dann, glaube ich, ist das - ich bleibe dabei - ein Fortschritt. Noch mal: Dass Putin und Poroschenko sich heute überhaupt treffen, halte ich für einen Fortschritt.
    Klein: Vor den Gesprächen heute in Minsk war das heute Morgen im Deutschlandfunk Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments. Er gehört der SPD an. Danke Ihnen, Herr Schulz, für das Gespräch.
    Schulz: Ich danke Ihnen, Frau Klein.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.