Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Ukraine-Konflikt
"Westen scheint die Krim abgeschrieben zu haben"

Russland versuche offenbar, die Ukraine so sehr zu destabilisieren, dass die Wahlen am 25. Mai in Gefahr geraten, sagte Otto Luchterhandt, Jurist für Ostrecht, im DLF. Moskau nutze planmäßig die Übergangszeit aus, um Tatsachen zu schaffen.

Otto Luchterhandt im Gespräch mit Christine Heuer | 19.04.2014
    Barrikade aus Autoreifen, darauf ein Stop-Schild und eine russische Fahne.
    In Luhansk im Osten der Ukraine wurden Gebäude besetzt. (Picture Alliance / ITAR-TASS / Matytsin Valery)
    Bei den Gesprächen in Genf sei es nicht um die Krim gegangen - das sei ein großer Fehler, erklärte Otto Luchterhandt, Jurist für Ostrecht, im Deutschlandfunk. Sollte der Westen die Krim aber schon abgeschrieben haben und Russlands Vorgehen dort als vollendete Tatsache behandeln, hätte das "völkerrechtliche Konsequenzen", sagte Luchterhandt.
    Offenbar gehe es der russischen Seite darum, bis zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai die Ukraine so sehr zu destabilisieren, vor allem von Osten her, dass die Wahlen in Gefahr geraten. Würden diese verschoben, müsste die jetzige Übergangsregierung noch länger regieren. Da deren Legitimität aber schwach sei, wäre dies "für Russland außerordentlich vorteilhaft", so Luchterhandt. Moskau nutze diese Übergangszeit planmäßig aus, um Tatsachen zu schaffen.

    Das Interview mit Otto Luchterhandt in voller Länge:
    Christine Heuer:!! Die Genfer Vereinbarung und was aus ihr werden kann, das möchte ich jetzt mit Otto Luchterhand besprechen, er ist Ostrechtler an der juristischen Fakultät der Universität Hamburg, ein renommierter Kritiker Wladimir Putins, guten Tag, Herr Luchterhandt!
    Otto Luchterhandt:!! Guten Tag, Frau Heuer!
    Heuer: Bricht die russische Regierung gerade die Genfer Vereinbarung, weil sie fordert, erst einmal den rechten Sektor auf dem Maidan zu entwaffnen?
    Luchterhandt: Nein, das würde ich so nicht sagen. Ich habe mir die Erklärung durchgelesen: Sie ist so allgemein und abstrakt formuliert, es bezieht sich auf die gesamte Ukraine, übrigens unter Einschluss der Krim. Allerdings im Detail – in welchen Schritten, in welchen Abfolgen hier vorgegangen wird, ist dann immer eine Frage der Interpretation. Und Russland vertritt hier seine Positionen, kann sich natürlich auch darauf stützen auf das, was in Genf festgelegt worden ist, und der Westen denkt vor allen Dingen an die Ostukraine, und die Krim hat man anscheinend von westlicher Seite ausgeklammert. Man könnte ja jetzt auch bei der Diskussion über die Implementierung dieser Genfer Vereinbarung über die Krim sprechen. Das tut man von westlicher Seite offenkundig nicht, was ich für einen gefährlichen Mangel halte, denn das scheint doch in die Richtung zu gehen, dass man die Krim bereits abgeschrieben hat und das, was Russland hier gemacht hat, als vollendete Tatsachen behandelt. Das hätte auch völkerrechtliche Konsequenzen.
    Heuer: Ja, den Eindruck hat man ja schon seit einigen Wochen, dass die Krim de facto abgeschrieben ist. Ich möchte trotzdem mit Ihnen kurz über die Ostukraine sprechen und diese Genfer Vereinbarung. Ist es richtig, verstehe ich Sie richtig, dass es jetzt aber jedenfalls kein falscher Schritt wäre, die Übergangsregierung in Kiew würde auf dieses Anliegen Russlands eingehen und tatsächlich sich deutlicher von den zum Teil ja faschistischen Gruppen auf dem Maidan distanzieren?
    Luchterhandt: Das wäre natürlich für die russische Seite, für das russische Interesse außerordentlich günstig. Es würde dazu führen, dass eine neue Konfrontation im Zentrum, in Kiew entstehen würde, und es würde die Position der Übergangsregierung bis zu den Wahlen Ende Mai erheblich schwächen. Das ist natürlich beabsichtigt. Ich glaube, man sollte hier vonseiten der Übergangsregierung eine klare Sprache der Abgrenzung sprechen, aber man sollte sich, glaube ich, hier nicht in eine auch unter Umständen militärische oder polizeiliche Konfrontation mit anderen Kräften hier des Maidan begeben. Das wäre, glaube ich, außerordentlich ungeschickt und gefährlich.
    Russland will vollendete Tatsachen schaffen
    Heuer: Was treibt Putin denn genau an?
    Luchterhandt: Putin, glaube ich hier, testet den Westen einmal in Bezug auf die Ukrainepolitik insgesamt, aber es geht ganz offenkundig der russischen Seite darum, bis zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai die Ukraine so weit zu destabilisieren, vor allen Dingen vom Osten her, dass diese Wahlen in Gefahr geraten und die jetzige Übergangsregierung, deren Legitimität ja schwach ist, eigentlich noch länger agieren müsste wegen fehlender Wahlen beziehungsweise Wahlentscheidungen. Und das wäre für Russland außerordentlich vorteilhaft. Die russische Seite nutzt ja planmäßig diese Übergangszeit aus, indem Schlag auf Schlag vollendete Tatsachen geschaffen werden beziehungsweise im Osten entsprechend vorgegangen wird und die Übergangsregierung kann dem ganz offenkundig, wie wir gesehen haben in den letzten Wochen, nichts entgegensetzen.
    Heuer: Wie sollte darauf der Westen reagieren, Herr Luchterhandt?
    Luchterhandt: Der Westen ist in einer sehr, sehr schwierigen Lage, eigentlich in der Zwickmühle, und zwar deswegen, weil objektiv der Westen hier zwischen Russland in dem Ukraine- und Krim-Konflikt und dem Westen eine dreifache Asymmetrie besteht. Wir haben hier auf russischer Seite, auf Putins Seite eine politische Philosophie, geostrategische Philosophie des 19. Jahrhunderts, während auf westlicher Seite, europäischer Seite insbesondere eine ganz andere konkrete, konträre Philosophie existiert, nämlich die, sozusagen nicht in geopolitischen Interessenssphären zu denken, sondern hier international vernetzt eher friedlich im wirtschaftlichen Austausch und im politischen diplomatischen Diskurs zu agieren. Das ist ein ganz, ganz wesentlicher Punkt.
    Zweitens haben wir auf russischer Seite eben Präsident Putin, der als Einziger hier agiert und er wird also zum Teil als Marionettenspieler, nicht wahr, bezeichnet, man kann ihn auch als Schachspieler bezeichnen, weil er hat natürlich einen strategischen Vorteil gegenüber dem Westen, der mit fast drei Dutzend Regierungen zu tun hat, mit entsprechenden öffentlichen Meinungen und Parlamenten, die ihre Regierungen kontrollieren. Und drittens hat der Westen natürlich keine Möglichkeit, das, was Russland macht, nämlich militärisch vorzugehen. Russland setzt ja Militär ein, und der Westen hat definitiv aus guten und völlig verständlichen und richtigen Gründen darauf verzichtet. Und im Übrigen, eins muss ich noch sagen, Frau Heuer. Das größte Problem besteht natürlich darin, dass hier der Staat, um den es geht, die Ukraine, wirtschaftlich völlig am Boden liegt und wie ich sagte in politischer Hinsicht über keine verhandlungsfähige, legitimierte Regierung verfügt.
    Heuer: Ein ganz wichtiger Punkt, die wirtschaftliche Lage. Trotzdem: Lassen Sie uns kurz bei der Diplomatie bleiben. Sie haben die Zurückhaltung des Westens beschrieben. Ich würde Ihnen gerne mal vorspielen, wie sich heute Morgen der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich im Deutschlandfunk geäußert hat:
    Rolf Mützenich: Zurzeit müssen wir versuchen, Gesprächskanäle offenzuhalten, auch die Möglichkeiten der Sanktionen auch wieder rückgängig zu machen, wenn es eine Verhaltensänderung gibt, auf der anderen Seite aber auch denjenigen deutlich machen, denen wir mit Sanktionen drohen, dass eine weitere Eskalation auch zu Schritten führen kann, die im diplomatischen und zivilen Bereich angesiedelt sind.
    Ein Opfer gestrategischer Philosophie des 19. Jahrhunderts
    Heuer: Wie kommen solche Äußerungen, Herr Luchterhandt, im Kreml an, wenn sie denn dort überhaupt ankommen?
    Luchterhandt: Diese Äußerungen von Herrn Mützenich sind dieselben, die man schon vor fünf bis sechs Wochen, nachdem es auf der Krim losging, formuliert hat, und insofern wird man wahrscheinlich das beiseite legen und zur Tagesordnung übergehen. Das hat gar keine Wirkung. Es ist allerdings auch ganz klar, es ist die Linie, die auch Herr Steinmeier in seinem großen Interview jetzt in der aktuellen "Zeit" zum Ausdruck gebracht hat: Der Westen hat gar keine andere Möglichkeit. Er kann nur in der Tat mit Sanktionen drohen, Verschärfungen, und gleichzeitig, wie Herr Mützenich völlig korrekt und richtig meiner Ansicht nach gesagt hat, Gesprächskanäle offenhalten.
    Eins ist völlig klar, glaube ich: Also wirtschaftliche Sanktionen bringen überhaupt nichts, das sollte man lassen. Sie würden nach einiger Zeit ja wieder eingestellt, man müsste zurückrudern. Was viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang, ist, dass Russland ein Opfer dieser geostrategischen sozusagen Philosophie des 19. Jahrhunderts wird, denn das passt nicht in die heutige Welt einer sich globalisierenden Wirtschaft, und wir sehen es ja an den Rückwirkungen der russischen Politik auf der Krim und gegenüber der Ukraine, dass Russland oder besser gesagt, Präsident Putin die schärfsten wirtschaftlichen und Finanzsanktionen dadurch bewirkt, dass die russische Wirtschaft ganz erhebliche Verluste hat: Kapitalabfluss, sinkendes Wachstum, Rubelschwäche, Börsenschwäche in Moskau und vieles andere mehr, vor allen Dingen, dass westliche Investoren immer zurückhaltender werden und Russland sich also isoliert, vor allen Dingen aber auch politisch isoliert. Das kann sich in dieser heutigen Welt überhaupt gar kein Staat leisten, vor allen Dingen nicht ein Staat mit den Ambitionen Russlands, sich wirtschaftlich weiter zu schwächen und politisch zu isolieren. Das ist kontraproduktiv, und die Wirkungen zeigen sich natürlich noch nicht heute, aber die Wirkungen zeigen sich morgen oder übermorgen.
    Von daher kann der Westen das machen, was er während des gesamten sogenannten Kalten Krieges gemacht hat: Er hat da seine Politik der Entspannung und der Modernisierung schrittweise in dem eigenen Bereich, in den eigenen Ländern voran getrieben, während die Sowjetunion immer weiter den Bach runtergegangen ist und letztlich daran gescheitert ist. Sie hat diesen Kalten Krieg verloren, weil sie wirtschaftlich – das ist der entscheidende Bereich, wo heute Konkurrenz stattfindet – überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig war. Russland ist auch wirtschaftlich nicht mehr konkurrenzfähig. Russland verkauft seine Rohstoffe, aber hat ja überhaupt auf dem Weltmarkt außer Rüstungsgütern überhaupt nichts Konkurrenzfähiges anzubieten. Also das wird immer schlimmer in Russland.
    Heuer: Otto Luchterhand, Ostrechtler an der juristischen Fakultät der Universität Hamburg war das, Herr Luchterhand, ich danke Ihnen für das Gespräch!
    Luchterhandt: Ja, bitte schön, Frau Heuer, auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.