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Ukraine-Krise
"Kiew in fürchterlichem Dilemma"

Bei der Deeskalation des Ukraine-Konflikts bleibt Kiew keine andere Wahl: Die Übergangsregierung müsse gleichzeitig offensiv gegen prorussische Separatisten vorgehen und provoziere so eine weitere Eskalation, sagte der Sicherheitsexperte Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF.

Markus Kaim im Gespräch mit Jochen Fischer | 25.04.2014
    "Kiew befindet sich in einem fürchterlichen Dilemma", sagte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Deutschlandfunk. "Auf der einen Seite aus Gründen der Selbstbestimmung bleibt eigentlich keine andere Möglichkeit als im Osten der Ukraine jetzt massiv gegen die separatistischen Gruppierungen - wer sich auch immer dahinter verbergen mag - vorzugehen. Auf der anderen Seite werden genau diese Signale, dieses offensive Vorgehen als Vorwand der russischen Führung interpretiert und genutzt werden, selber militärisch zu eskalieren. Und der jüngste Truppenaufmarsch an der ostukrainischen Grenze deutet ja genau in diese Richtung."
    Eine Woche nach der Genfer Vereinbarung zur Entschärfung des Ukraine-Konflikts mit Russland sei ein Signal der Deeskalation aus Moskau unterblieben, sagte der Politologe. Auch habe der Kreml eine weitere Annexion ukrainischer Gebiete nicht ausgeschlossen. "Das überwölbende Motiv der russischen Führung ist ja eine Westbewegung der Ukraine um jeden Preis zu verhindern." Es räche sich, dass die NATO sich der Ukraine unter Verweis auf die guten Beziehungen zu Moskau nicht angenähert habe.

    Das Interview mit Markus Kaim zum Nachlesen:
    Christoph Heinemann: Nach der Ankündigung neuer russischer Militärmanöver an der Grenze zur Ukraine hat US-Außenminister John Kerry mit weiteren Sanktionen gegen Moskau gedroht. Man sehe dazu keine Alternative, sollte der Kreml nicht sofort Schritte zur Deeskalation der Lage einleiten, sagte Kerry in Washington. Und er fügte hinzu, das Fenster für einen Kurswechsel schließt sich. Zudem warf er Russland vor, sich nicht an den Genfer Friedensplan zu halten, der zu einer Entschärfung der Krise beitragen soll. Russland hatte der Ukraine gestern gedroht und weitere Militärmanöver an der gemeinsamen Grenze angekündigt. Die ukrainische Armee hat ihre Militäroperation in der Ostukraine unterbrochen, und darüber hat mein Kollege Jochen Fischer mit Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik gesprochen und ihn gefragt, ob die Regierung in Kiew nicht zeigen müsse, dass sie Herr im eigenen Land ist?
    Markus Kaim: Ich glaube, das ist der Hauptgrund, dass sie militärisch gegen die Separatisten vorgeht. Sie hat ja auch kaum eine andere Wahl. Wenn sie Zweifel daran aufkommen ließe, dass sie Herr im eigenen Hause ist, dann würde sie weiter an Legitimation und Glaubwürdigkeit verlieren. Von daher bleibt ihr trotz der existierenden militärischen Schwäche, die sie hat, kaum eine andere Wahl, als offensiv vorzugehen.
    Jochen Fischer: Moskau nennt das ja Krieg gegen das eigene Volk, Präsident Putin spricht von Verbrechen. Gibt es für Moskau denn keine Separatisten in der Ukraine?
    Kaim: Ich glaube, das ist eines der Grundprobleme, dass das Signal der Deeskalation aus Moskau in den letzten Wochen unterblieben ist. Es wäre vergleichsweise einfach zu signalisieren, dass die politische Souveränität und territoriale Integrität der Restukraine jetzt unangetastet bliebe, und ein Signal auch an die separatistischen Gruppen in der Ukraine, dass nämlich ein weiterer Anschluss ukrainischen Territoriums an Russland nicht infrage kommt. Und dieses Signal ist unterblieben und von daher muss sich Moskau auch die Eskalation der letzten Tage durchaus zuschreiben lassen. Und das erklärt, weshalb auch das, was in Kiew als Separatismus gelesen wird, sezessionistische Bewegung, in Moskau als Signal der Selbstbestimmung gelesen wird.
    Fischer: Das heißt aber, egal, was Kiew tut, es tut immer das Falsche!
    Kaim: Kiew befindet sich in einem fürchterlichen Dilemma. Auf der einen Seite, aus Gründen der Selbstbestimmung bleibt eigentlich keine andere Möglichkeit, als im Osten der Ukraine jetzt massiv gegen die separatistischen Gruppierungen - wer sich auch immer dahinter verbergen mag - vorzugehen, auf der anderen Seite werden genau diese Signale, dieses offensive Vorgehen als Vorwand der russischen Führung interpretiert und genutzt werden, selber militärisch zu eskalieren. Und der jüngste Truppenaufmarsch an der ostukrainischen Grenze deutet ja genau in diese Richtung.
    Ukraine-Konflikt ist bereits internationalisiert
    Fischer: Der russische Außenminister Lawrow hat ja gesagt, die Regierung in Kiew werde aus den USA gesteuert. Das hört sich ja so nach längst vergangenen Sowjet-Zeiten an, da musste immer eine ausländische Verschwörung herhalten zur Begründung. Heißt das, Russland will den Ukraine-Konflikt nun mit aller Macht internationalisieren?
    Kaim: Er ist ja bereits internationalisiert, weil, das überwölbende Motiv der russischen Führung ist ja, eine Westbewegung der Ukraine um jeden Preis zu verhindern. Es geht nicht darum, eine Einflusssphäre zu schaffen, die frei von westlichen Einflüssen ist, dafür ist die russische Gesellschaft mittlerweile selber zu westlich geworden, sie soll aber frei sein von westlichen Institutionen, das heißt frei von der Europäischen Union, frei von der NATO. Und vor diesem Hintergrund geht es längst nicht mehr in diesem Konflikt um Fragen des ukrainisch-russischen Verhältnisses, sondern es geht letztlich um die Frage, welchen Kurs schlägt die Ukraine oder genau genommen jetzt die Restukraine ein. Und das ist der Punkt, der der russischen Führung zu denken gibt.
    Fischer: Sie haben ja schon die russische Militärpräsenz erwähnt, die an der Grenze zur Ukraine stattfindet, gerade wieder neu angeordnete Manöver. Wie soll denn die NATO darauf reagieren?
    Kaim: In kurzfristiger Perspektive kann die NATO wahrscheinlich wenig machen, weil, die Ukraine ist nicht NATO-Mitglied und es bleibt wenig mehr als eine Politik der Rückversicherung gegenüber den östlichen NATO-Mitgliedern, also Polen und den baltischen Staaten, also das, was die NATO in den vergangenen Tagen auch geleistet hat. Für die Ukraine selber kann die NATO im Moment vergleichsweise wenig tun, sie ist kein Bündnismitglied und niemand hat ein Interesse an einer militärischen Eskalation. Ich glaube, über kurz oder lang wird die Frage einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft oder, vorsichtiger formuliert, einer Annäherung an die NATO, wahrscheinlich sich kaum von der Tagesordnung nehmen lassen, weil, genau diese ist in den vergangenen Jahren ja immer mit Verweis auf die russische Haltung dazu abgebogen worden. Das Argument war immer, wir vermeiden eine ukrainische NATO-Mitgliedschaft, um ein gutes Verhältnis zu Russland zu erhalten. Und diese Arbeitsgrundlage ist jetzt durch die jüngsten Wochen einfach weggefallen. Und ich glaube, nach der Regierungsbildung am 25. Mai in der Ukraine wird man noch ein bisschen Zeit gewinnen können, aber ich glaube, in mittel- und langfristiger Perspektive wird sich die Frage nicht vertagen lassen.
    Fischer: Halten Sie diese Regierungsbildung für gefährdet?
    Kaim: Wir müssen abwarten, was in den nächsten Tagen passieren wird. Die russische Regierung tut ja alles dazu, um sozusagen die Legitimation der Wahl am 25. Mai zu unterminieren, aber ich glaube, man darf sich davon nicht blenden lassen. Sie ist für den weiteren politischen Weg der Ukraine unerlässlich und ich glaube, wir gehen alle davon aus, dass die aktuelle Regierung nicht die zukünftige sein wird, und die zukünftige Regierung mit Unterstützung der Europäischen Union mindestens einen holprigen, von Rückschlägen gekennzeichneten Weg gen Westen einschlagen wird. Und diesen gilt es zu unterstützen, vor allen Dingen in dem Bereich, der gerade die ukrainische Bevölkerung in den letzten Jahren so geknechtet hat, nämlich im Bereich der schlechten Regierungsführung, also Stichwort Korruption und Nepotismus.
    Christoph Heinemann: Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Fragen stellte mein Kollege Jochen Fischer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.