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Ukraine
Protesthochburg Lemberg

Nicht nur in der ukrainischen Hauptstadt Kiew demonstrieren Menschen gegen den Präsidenten Janukowitsch. Auch in Lemberg nahe der polnischen Grenze ist der Protest groß: Den Gouverneur haben die Menschen aus dem Amt gejagt, Anhänger des Staatschefs sind in der Minderheit.

Von Martin Sander | 31.01.2014
    Die Kasernen der ukrainischen Militärpolizei liegen am Rande der Lemberger Innenstadt. Dort blockieren Gegner des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch alle Ausfahrten. Vor der Absperrung aus Säcken, Europaletten, Gummireifen und alten Weihnachtsbäumen wärmen sich die Protestierer an Feuern in Blechtonnen. Einige Männer laden Brennholz aus einem Kleinlaster, andere halten Wache:
    "Wir haben alles blockiert, damit sie nicht herauskommen können. In Kiew gibt es Krieg, da sind unsere Leute auf der Straße. Unsere Aufgabe hier in den Regionen ist es zu verhindern, dass das Militär mit Nachschub versorgt wird."
    Dieser junge Mann studiert Wirtschaft und verdient Geld als Gelegenheitsarbeiter in Polen. Die Grenze ist nur knapp 70 Kilometer von Lemberg entfernt.
    "Ich arbeite in Polen, aber jetzt bin ich hierher gekommen in die Ukraine zu meinen Brüdern und Schwestern, meiner Familie. Denn ich möchte nicht, dass meine Kinder in 20 Jahren Russisch sprechen und nicht wissen, was das ist: Die Ukraine. Mit den Polen wollen wir gut zusammenleben. Wir gehören ja zum gemeinsamen Volk der Slawen. Die Russen rechne ich nicht dazu. Das sind keine Slawen. Das sind Mongolo-Tataren."
    Über dem Protestcamp wehen Flaggen in den Nationalfarben blau-gelb - und auch eine rot-schwarze Fahne, Symbol der Ukrainischen Nationalisten und ihrer Aufstandsarmee UPA. Die UPA kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen die Sowjets, teilweise an der Seite Hitlers. Man strebte nach einem ethnisch reinen ukrainischen Nationalstaat. Die UPA war verantwortlich für die Ermordung von Polen und Juden. Ihre Grußformel "Ruhm der Ukraine - Ruhm den Helden" ist in diesen Wochen auch ein Motto der Janukowitsch-Gegner.
    Bürgermeister unterstützt Protestanten
    Die alte Polenfeindschaft spielt keine Rolle mehr für die Westukrainer, wenn sie gegen Janukowitsch kämpfen. Und das tun fast alle. In Lemberg sind Janukowitsch-Anhänger eine verschwindende Minderheit. Lembergs Bürgermeister hat sich nicht nur öffentlich hinter die verschiedenen Gruppen der Protestbewegung gestellt. Er unterstützt auch die sogenannten Selbstverteidiger. Die "Selbstverteidiger" haben in der letzten Woche den Gouverneur des Bezirkes Lembergs, einen von Kiew eingesetzten Oberverwalter, aus dem Amt gejagt, indem sie seine Dienststelle besetzten.
    Vor dem Verwaltungssitz des Gouverneurs in der Innenstadt türmen sich Barrikaden - genau wie vor den Kasernen am Stadtrand. Am Eingang des Gouverneurssitzes tun uniformierte Polizisten Dienst. Im Obergeschoss residiert der Stab der "Selbstverteidiger". Es weht ein Hauch von Revolution. "Selbstverteidigungs"-Kommandant Andrej Sokolow will mehr Eigenständigkeit der Westukraine gegenüber Kiew erreichen. Die Gefahr einer Spaltung der Ukraine in Ost und West sieht er nicht.
    "Separatistische Stimmungen sind hier sehr gering. Man sollte aber über eine Autonomie sprechen. Ich bin Anhänger eines normalen föderalen Staatsaufbaus mit Gleichberechtigung der Regionen."
    Sokolow, ein Gewerkschafter, bekennt sich zu sozialdemokratischen Ideen. Einer Partei gehört er nicht an, sagt er. Der Kommandant ist ein Mann von kräftiger Statur. Nach außen demonstriert er Ruhe und Friedfertigkeit:
    "Wir haben hier keine Waffen. Es gibt dafür keine Notwendigkeit. Wenn es allerdings erforderlich sein sollte, können wir Menschen zusammen bringen, die im Besitz von Waffen sind."
    Auf der Etage der Besetzer wimmelt es von freiwilligen Helfern, viele von ihnen sind weiß gekleidet - vorgesehen für medizinische Hilfsdienste. Zu dieser Gruppe gehört Maryja, eine Studentin der Fremdsprachen in Lemberg.
    "Wir helfen den Leuten, die hier die ganze Zeit sind. Manche haben Probleme mit dem Hals oder auch sie husten, und manche Probleme, ja, mit dem Magen. Vielleicht können verschiedene Situationen passieren. Und alle Leute brauchen Hilfe. Eigentlich ich habe nicht soviel Angst hier in Lemberg. Aber ich habe Angst, weil ganz, ganz viele Leute jetzt in Kiew sind. Und sie könnten verletzt werden."