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Ukrainisch-russischer Gasstreit
"Die Stimmung wird zunächst sehr feindselig sein"

In Berlin werden heute die Verhandlungen im Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine fortgesetzt. Die Gesprächsatmosphäre sei durch die Eskalation in der Ost-Ukraine stark belastet, sagte der EU-Energiekommissar, Günther Oettinger, im Deutschlandfunk. Er sieht auch die EU mittelfristig von dem Streit betroffen.

30.05.2014
    Porträt von EU-Kommissar Günther Oettinger
    EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU) (dpa / Christoph Schmidt)
    Oettinger sagte, Russland wolle ab Juni Gas nur noch gegen Vorkasse in die Ukraine liefern. Dies bedeute eine Eskalierung der Gasbeziehungen, die auch die Europäische Union treffe. "Wir müssen deswegen eine geordnete Beziehung Ukraine - Russland auch im europäischen Interesse anstreben", so Oettinger. Die Ukraine müsse heute erklären, dass sie zur Anzahlung eines nennenswerten Betrages bereit sei. Umgekehrt erwarte er von den Russen, der Ukraine nach der Anzahlung einen fairen Preis für weitere Gaslieferungen zu gewähren. Der jetzige Preis sei von der Politik bestimmt.
    Die EU wäre nach Angaben Oettingers mittelfristig von einem Lieferstopp Russlands betroffen. Aufgrund der offenen Rechnungen müsse man davon ausgehen, dass die Ukraine Gas künftig nur noch als Transitland nach Europa transportieren werde - ob das funktioniere, sei jedoch unklar. Es bestünden Risiken, so Oettinger: "Wenn die Speicher nicht voll sind, haben wir im Winter nicht genügend Gas." Ziel sei, in den kommenden Jahren von einem alleinigen Land als Lieferant unabhängig zu werden - auch von Russland.
    Russland droht der Ukraine, den Gashahn in der kommenden Woche zuzudrehen. Gestritten wird zum einen um Altschulden für russische Lieferungen an die Ukraine seit November. Zum anderen geht es um den künftigen Gaspreis. Russland will der Ukraine keinen Rabatt mehr gewähren - die Mehrkosten kann die vor einem Bankrott stehende Ukraine jedoch nicht bewältigen.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Was am Montag noch nicht geklappt hat, es könnte heute zum Abschluss gebracht werden – in Berlin verhandeln Vertreter Russlands und der Ukraine also abermals über Gaslieferungen, über Preise und über Schulden. Unter der vermittelnden Teilnahme des für Energie zuständigen Kommissars der Europäischen Union, Günther Oettinger. Guten Morgen!
    Günther Oettinger: Guten Morgen!
    Heinemann: Jetzt hätte ich sie gern als potenziellen Helden begrüßt, aber das hat mir Frau Riedl ja gerade verboten. Trotzdem mal die Frage: Rechnen Sie heute im Gasstreit mit einer Einigung?
    Oettinger: Wir wollen einige Probleme lösen und werden bei einer weiteren Zahl von Problemen das weitere Verfahren vereinbaren. Worum geht es? Ab Juni will Russland, will Gazprom, die dem russischen Staat mit Mehrheit gehörende weltgrößte Gasunternehmung nur noch Gas gegen Vorkasse in die Ukraine liefern, und dies wäre eine Eskalierung der Gasbeziehungen. Davon wäre auch die Europäische Union betroffen, denn viel Gas geht durch die Ukraine. Und wir müssen deswegen eine geordnete Beziehung Ukraine-Russland auch im europäischen Interesse anstreben. Wir haben jetzt geklärt, welche Gasmengen von November bis Ende Mai aus Russland in die Ukraine geliefert worden sind. Wir haben in den Monaten Januar, Februar und März auch einen unstrittigen Preis, und deswegen muss heute die Ukraine erklären, dass sie eine erste Anzahlung macht, einen nennenswerten Betrag, einen hohen dreistelligen Millionenbetrag in Dollar bezahlt – oder schon bezahlt hat – damit klar wird, sie ist bereit, Zahlungsverpflichtungen zu akzeptieren. Wer Gas bekommt, muss bezahlen. Umgekehrt ist der Preis von 485 Dollar für 1.000 Kubikmeter Gas unzumutbar. Er ist nicht marktgerecht, sondern er ist eindeutig von der Politik bestimmt. Denn man sieht ja auch, dass von Januar bis März der niedrigste Preis mit 268 gezahlt wurde und der Rabatt damals gewährt wurde, und ab 1. April kam die Erhöhung auf einen Schlag um weit über 200 Dollar.
    Heinemann: Welcher Preis wäre akzeptabel?
    Oettinger: Wir haben genaue Analysen, was in den europäischen Mitgliedsstaaten gezahlt werden. Das ist ein Betrag zwischen 350 und 390 Dollar. Diese Höhe ist angemessen, die bezahlen auch andere Abnehmer, auch wir in Deutschland, und deswegen werden wir von den Russen erwarten, dass nach einer Anzahlung seitens der Ukraine ein faires Angebot, ein fairer Preis für die Zukunft gewährt wird, und auf der Grundlage dann kann man über die Restzahlungen in Raten, aber absehbar in den nächsten Wochen, durch die Ukraine an Russland sprechen.
    Heinemann: Herr Oettinger, in welcher –
    Oettinger: Die Fragen wollen wir klären. Und dann haben wir andere Probleme, wie das Krim-Thema, die werden wir heute nicht klären können.
    Verlorene Gasreserven
    Heinemann: Genau. Die Ukraine macht ja geltend, dass Russland mit der Annexion der Krim nicht nur ukrainisches Land, sondern eben auch ukrainische Gasreserven gestohlen habe. Muss dieser Diebstahl mit auf die Rechnung?
    Oettinger: Das wird heute sicherlich angemeldet. Die Ukraine wird sagen, dass ihrer staatlichen Gasunternehmungen nennenswerte Gasmengen in Speichern auf der Krim gehören und ihnen jetzt die Nutzung verwehrt wird. Die Frage ist völkerrechtlich sensibel, und klar ist: Das Vorgehen der Russen auf der Krim ist inakzeptabel. Aber die Frage kann man nicht heute klären, deswegen sollte man sie adressieren und dann ein Verfahren vereinbaren, wie die eigentumsrechtlichen Fragen für das Gas auf der Krim mit den generellen völkerrechtlichen Fragen geklärt werden können. Ich halte das Thema für wichtig, aber es wird nicht in den nächsten Stunden geklärt werden können und sollte deswegen nicht unseren aktuellen Gaskonflikt um die Lieferungen ab 1. Juni beeinträchtigen.
    Heinemann: Russland spricht ja von 5,2 Milliarden Dollar Rückständen, ukrainischen Rückständen. Ist das Ihrer Meinung nach sauber berechnet?
    Oettinger: Für die Monate November bis Ende März ja. Die russischen Vertragspartner legen für April und Mai diesen hohen Gaspreis zugrunde, der politisch bedingt ist. Insoweit muss man bis einige hundert Millionen Abstriche machen, aber die Dimension ist richtig.
    Heinemann: In welcher Atmosphäre finden diese Gespräche statt? Wird da gehandelt, gefeilscht wie auf dem Basar?
    Oettinger: Die Gespräche sind sachlich, das merke ich jedes Mal, dass sich die Ukraine und die russischen Partner sehr, sehr genau kennen. Das sind praktisch Brüder. Aber das Ganze wird eminent belastet durch die Vorkommnisse in der Ostukraine, durch den Bürgerkrieg, wo schon hinter den prorussischen Gruppen und Truppen und Soldaten, Separatisten eine Hilfe Russlands vermutet werden kann. Und nachdem gestern mit dem Hubschrauber, der abgeschossen wurde mit diesen vielen Toten, eine weitere Eskalation eintrat, wird heute mit Sicherheit zunächst einmal die Stimmung und die Atmosphäre sehr, sehr feindselig sein.
    Ein Gaskrieg würde Europa erreichen
    Heinemann: Herr Oettinger, wäre die Europäische Union von einem russischen Lieferstopp Richtung Ukraine betroffen?
    Oettinger: Mittelfristig ja. Wir haben jetzt, Mai, Juni, Juli, August einen relativ geringen Gasverbrauch, aber regelmäßig müssen wir in den Sommerwochen Gas speichern, und zwar in den wertvollen Speichern auch der Ukraine. So müssen wir zumindest davon ausgehen, dass die offene Rechnung dazu führt, dass die Ukraine kein Gas mehr bekommt, sondern nur noch als Transitland Gas nach Europa transportieren soll. Ob dies klappt, mit der instabilen Lage in der Ostukraine oder hier nicht Gas dann, wenn man Gasbedarf hat, aber kein Gas bekommt, trotzdem abgezweigt wird, also eine Art Gasdiebstahl auf der Transitstrecke vorkommt, halte ich für offen, und deswegen bestehen auch für uns Risiken, wenn die Speicher nicht voll sind, haben wir im Winter nicht genügend Gas, und wenn die Ukraine nicht bezahlt, aber wenn Gas weggenommen wird, wird ein Gaskrieg eskalieren, der auch Europa erreicht.
    Heinemann: Kann Europa seine energiepolitische Verwundbarkeit, die Sie ja indirekt mit beschrieben haben, kurzfristig verringern?
    Oettinger: Wir haben in unserer Mitteilung aufgezeigt, was kurzfristig, das heißt, in den nächsten Monaten, getan werden kann. Da gibt es gewisse Möglichkeiten. Wir können jetzt unsere Speicher stärker füllen, als wir es normal tun. Wir können vielleicht noch schneller einige Investitionen in Gasleitungen vornehmen, die die gegenseitige Hilfsmöglichkeit zwischen den Mitgliedsstaaten verstärkt. Aber klar ist, kurzfristig sitzen wir am kürzeren Hebel. Mittel- und langfristig können wir uns jetzt entscheiden, ob wir der Ressource Gas eine steigende Bedeutung beimessen im europäischen Energiemix, oder ob wir, da wir erkennbar sehen, dass die russischen Partner Gas als Instrument einsetzen, Gas in der Bedeutung verringern. Hinzu kommt, wir haben in den letzten Jahren nennenswerte Beziehungen zu Norwegen, zu Algerien aufgebaut. Wir bauen neue Energy-Terminals, das heißt, wir wollen die Quellen, aus denen wir Gas beziehen, weiter verstärken, um so im Fall X in einigen Jahren, relativ unabhängig von einem einzigen Lieferanten, auch von Russland zu sein.
    Oettinger: "Bereit, weiter zu machen."
    Heinemann: Allgemeine Meinung in Brüssel und wohl auch in den Hauptstädten ist, dass Sie in dieser Sache Ihren Job gut machen. Frage deshalb: Werden Sie auch der nächsten Europäischen Kommission als Energiekommissar oder als ein anderer Ressortchef angehören?
    Oettinger: Das sehe ich ganz gelassen. Wir haben ein Mandat, das bis Ende Oktober geht. Und ich habe in der Zeit einen festen Vertrag, ich bekomme mein Gehalt und will deswegen bis Ende Oktober mit großem Fleiß weiterarbeiten. Und ich bin auf beides vorbereitet. Ich bin vorbereitet, dann rauszugehen und in die Wirtschaft zu gehen – nicht Energiewirtschaft, das geht nicht, sondern in andere Sektoren und auch vielleicht andere Länder. Und umgekehrt, ich fühle mich in Brüssel wohl, wir haben ein tolles Team, wir sind gut vernetzt und arbeiten mit den Mitgliedsstaaten hervorragend zusammen. Das heißt, wenn die Bundesregierung sich entscheidet, dass CDU und CSU ein Vorschlagsrecht haben und dann die Kanzlerin mich vorschlagen will, bin ich bereit, weiter zu machen.
    Heinemann: Sie möchten gern?
    Oettinger: Ich bin auf alles vorbereitet, aber ich habe keinen Grund, mich von Brüssel zu verabschieden, ich fühle mich dort wohl, ja.
    Heinemann: Günther Oettinger, der Energiekommissar der Europäischen Union. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Oettinger: Einen guten Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.