Samstag, 20. April 2024

Archiv

Uli Grötsch (SPD)
"Anis Amri hätte lückenlos überwacht werden müssen"

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Uli Grötsch fordert nach dem Anschlag von Berlin Antworten auf die Frage, warum die Sicherheitsbehörden den verdächtigen Tunesier Anis Amri aus den Augen ließen. Grötsch sagte im DLF, es müsse geklärt werden, ob Amris Gefährderpotenzial falsch eingeschätzt worden sei.

Uli Grötsch im Gespräch mit Dirk Müller | 22.12.2016
    Uli Grötsch (SPD)
    SPD-Innenpolitiker und Ex-Polizist Uli Grötsch im DLF: "Anis Amri hätte lückenlos rund um die Uhr überwacht werden müssen." (picture alliance / dpa - Maurizio Gambarini)
    Konkrete Schuldzuweisungen wollte der SPD-Innenpolitiker nicht vornehmen. Warum die Überwachung nach Amris Entlassung aus der Abschiebehaft in Nordrhein-Westfalen abbrach und wer dafür verantwortlich sei, müsse jetzt geklärt werden, so Grötsch.
    Der ehemalige Polizist räumte ein, dass es unmöglich sei, alle 500 sogenannten Gefährder in Deutschland 24 Stunden am Tag zu observieren. "Es ist aber Aufgabe der Sicherheitsbehörden zu bewerten, welche Gefährder lückenlos überwacht werden müssen, weil sie konkret etwas planen."
    "Wir erwarten, dass Observation konsequent durchgeführt wird"
    In den vergangenen Jahren habe der Bundestag als Gesetzgeber den Sicherheitsbehörden erheblich mehr Stellen bewilligt - nicht zuletzt dem Verfassungsschutz, der für die Überwachung zuständig sei. "Wir erwarten, dass diese Observation dann konsequent durchgeführt wird".
    Der stellvetretende CDU-Bundesvorsitzende Armin Laschet hatte den Behörden in Nordrhein-Westfalen im DLF schwere Vorwürfe gemacht. Diese hätten den Fall des Tunesiers offensichtlich als erledigt betrachtet, nachdem Amri nach Berlin abgereist sei.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Der mutmaßliche Attentäter war den Sicherheitsbehörden längst bekannt. Er soll sogar laut "Spiegel" Selbstmordpläne angekündigt haben. Am Telefon ist jetzt nun der SPD-Innenpolitiker und Bundestagsabgeordnete Uli Grötsch. Er war viele Jahre lang Polizist und dort auch als Fahnder tätig. Guten Tag, Herr Grötsch.
    Uli Grötsch: Guten Tag.
    Müller: Herr Grötsch, müssen wir immer erst bis zur Tat abwarten?
    Grötsch: Ich glaube, dass jetzt eine Situation ist, in der alle Akteure, egal ob Politik oder wer auch immer, zunächst mal gut beraten sind, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich mit einem vernünftigen Blick die Situation anzugucken, mal tief durchzuschnaufen und dann auf die Situation zu reagieren.
    "Bestehende Regelungen konsequent anwenden"
    Müller: Und die Antwort auf die Frage: Müssen wir abwarten, bis was passiert?
    Grötsch: Nein, ganz und gar nicht. Das haben wir auch nicht gemacht. Wir haben als Große Koalition in den letzten Monaten auch noch vor den Anschlägen gegen das Satire-Magazin "Charlie Hebdo" in Paris schon jede Menge gemacht, wenn es um Terrorabwehr geht. Ich würde so weit gehen und sagen, wir haben in Deutschland mit eine der schärfsten Anti-Terror-Gesetzgebungen der Welt. Wenn es etwa um die Möglichkeit von Überwachungen geht, wenn es um die internationale Zusammenarbeit geht, wenn es um Einschreit-Befugnisse der Polizeibehörden geht, da haben wir richtig viel gemacht. Es geht in dieser Situation nicht darum, Gesetze zu verschärfen, sondern die schon bestehenden Regelungen konsequent anzuwenden.
    Müller: Sie haben viel gemacht, nichts hat hier in dem Fall funktioniert.
    Grötsch: Wie bitte?
    Müller: Sie haben viel gemacht, haben Sie gesagt, aber nichts hat funktioniert. Warum nicht?
    Grötsch: Ich glaube, dass es in dieser Situation keine Frage von fehlendem Rechtsrahmen war, dass es nicht eine Frage ist, ob man schärfere Gesetze, nach denen jetzt wieder reflexhaft geschrien wird, gebraucht hätte, sondern so wie ich den Sachverhalt jetzt kenne, konnte sich Anis Amri in Deutschland offenbar frei bewegen, konnte der untertauchen, obwohl er ein höchst gefährlicher Gefährder war, ein ganz konkreter Gefährder. Ich bin der Meinung, dass der 24/7, also lückenlos rund um die Uhr hätte überwacht werden müssen. Und wieso das nicht passiert ist, diese Frage wird man klären müssen.
    Müller: Wer ist dafür verantwortlich?
    Grötsch: Auch diese Frage wird man klären müssen, wer dann letztendlich die Verantwortung dafür hatte. Es wurde ja durch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin im März 2016 die Überwachung angeordnet. Wieso dann nach seiner Entlassung aus der Abschiebehaft in Nordrhein-Westfalen diese Observation, die Überwachung nicht wieder aufgenommen wurde, das ist eine Frage, die man in den nächsten Tagen klären muss.
    Müller: Das steht schon fest? Seitdem er in Nordrhein-Westfalen war, Kleve und so weiter, danach ist das abgerissen, hat es keine Beobachtung mehr gegeben. Da haben wir andere Informationen, dass er bis November unter Beobachtung stand.
    Grötsch: Dann haben wir unterschiedliche Informationen. Ich war gestern natürlich bei der Sondersitzung des Innenausschusses des Bundestages. Wir haben jetzt natürlich auch eine Situation, in der sich der Sachverhalt stündlich anders darstellt, in der stündlich neue Details bekannt werden. Wir sortieren das und ordnen das jetzt in aller Ruhe und bewerten das dann entsprechend.
    Müller: Jetzt sagen Sie uns noch mal: Wäre das eine reine polizeiliche Überwachung gewesen, oder wer ist da alles dran beteiligt? Welche Behörden sind an dieser Überwachung beteiligt?
    Grötsch: Das ist eine Frage, die die Exekutive, die die Sicherheitsbehörden untereinander abstimmen müssen. Zunächst ist für diese Observation der Verfassungsschutz zuständig. Und wenn es ein Übereinkommen zwischen den Verfassungsschutzbehörden und der Polizei, des Landeskriminalamtes in Nordrhein-Westfalen gab, dass das eine polizeiliche Angelegenheit ist, dann ist natürlich die Polizei zuständig.
    Müller: Aber die Polizei beziehungsweise die Polizeigewerkschaft sagt, auch heute Morgen bei uns wieder im Interview, wir haben viel zu wenig Personal, wir haben viel zu wenig Frauen und Männer, das überhaupt leisten zu können. Die Gefährder - das sind 500 bis 550 in Deutschland - können nicht 24 Stunden lang überwacht werden. Ist das so?
    Grötsch: Ich gebe der Gewerkschaft dahingehend recht, dass man wohl nicht alle 500 lückenlos überwachen kann. Da möchte ich aber auch zwei Sachen dazu sagen. Die eine ist: Es ist auch Aufgabe der Sicherheitsbehörden zu bewerten, welche der Gefährder lückenlos überwacht werden müssen, weil sie konkret etwas planen. Dafür haben wir ja auch Nachrichtendienste, Inlandsnachrichtendienste, um das zu wissen.
    "Klären, ob es zu einer falschen Bewertung kam"
    Müller: Dann ist falsch bewertet worden?
    Grötsch: Das wird man auch in den nächsten Tagen klären müssen, ob es da zu einer falschen Bewertung kam. Ich kann für die bundespolitische Seite sagen, wir bekommen jedes Jahr bei den Haushaltsberatungen Forderungen vonseiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz etwa, oder auch der anderen Sicherheitsbehörden, was wir als Gesetzgeber im Bundeshaushalt machen müssen, damit wir die Sicherheitsbehörden in den Zustand versetzen, in dem sie ihre Arbeit vernünftig machen können. Das hat sehr viel mit Stellen zu tun, mit Personal also, und auch mit Sachausstattung. Wir haben als Große Koalition in den letzten Jahren und auch wieder für den Bundeshaushalt 2017 einen erheblichen Personalaufwuchs bei allen Sicherheitsbehörden, nicht zuletzt beim Verfassungsschutz, der für die Observation zuständig ist, und wir erwarten uns auch, dass diese Observationen dann konsequent durchgeführt werden.
    "Jetzt zu sagen, wir brauchen mehr Personal, das ist auch ein Reflex"
    Müller: Herr Grötsch, würden Sie dann dennoch das Zugeständnis machen können, ist jetzt meine Frage, beispielsweise an die Polizeigewerkschaft, dass es immer noch zu wenig ist, gerade auch vor dem Hintergrund der wesentlich verschärften Situation in Deutschland?
    Grötsch: Wir haben auf die verschärfte Situation von Bundesseite her damit reagiert, dass wir die Forderungen, die uns die Sicherheitsbehörden gestellt haben, im Übrigen auch die Gewerkschaft der Polizei, was etwa die Personalsituation bei der Bundespolizei angeht, das haben wir erfüllt, und zwar eins zu eins. Jetzt zu sagen, wir brauchen noch mehr, das ist auch ein Reflex.
    "Die Länder sind für sich selbst zuständig"
    Müller: Also sind die Länder dran?
    Grötsch: Die Länder sind natürlich für sich selbst zuständig. Darauf hat der Bund auch überhaupt gar keinen Einfluss. Wie sich die jeweilige Landesregierung bei ihrer eigenen Polizei aufstellt, das ist Sache der jeweiligen Landesregierung.
    Müller: Herr Grötsch, wir müssen ein bisschen auf die Zeit achten. Unser Korrespondenten-Kollege und mein Korrespondenten-Kollege Stephan Detjen hat eben gesagt, der ist von Italien, nachdem er dort vier Jahre im Gefängnis saß, weitergereist nach Deutschland. Das hört sich jetzt so an wie ein Tourist, der aus England jetzt rüberkommt und Berlin besucht. Kann man einfach in Deutschland nach wie vor mit dieser Biografie, mit dieser Vita, mit dieser Vorbelastung einreisen?
    Grötsch: Der bewegt sich dann im Schengen-Raum. Wenn er von Italien kommt, dann reist er aus Österreich ein, aller Voraussicht nach, und unterliegt dann von dort keiner Grenzkontrolle mehr. Wenn der im deutschen Grenzraum kontrolliert wird, dann muss sichergestellt sein, dass der auch im Schengener Informationssystem erfasst ist, oder aber ...
    Müller: War er ja!
    Grötsch: Oder aber die italienischen Sicherheitsbehörden teilen im Fall eines solchen Kalibers, wie Amis Amri es ohne Zweifel war, den deutschen Behörden mit: Achtung, bei uns wurde einer entlassen, der eine erhebliche Gefahr darstellt, wir haben Informationen darüber oder den Verdacht, dass sich der weiterhin im Schengen-Raum aufhält, und dann kann der an der Grenze übernommen werden.
    "Man wird klären müssen, wie das passieren konnte"
    Müller: Einreiseverweigerung, habe ich gelesen, zumindest, dass es das gegeben haben soll von der italienischen Seite. Das heißt, er ist aber trotzdem in Deutschland unbehelligt monatelang durch die Gegend geflitzt.
    Grötsch: Wenn das der Fall war, wird man auch klären müssen, wie das passieren konnte. Das kann natürlich nicht sein, dass einer wie Anis Amri unbehelligt nach Deutschland einreist und sich hier frei bewegen kann. Ganz definitiv nicht.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der SPD-Innenpolitiker Uli Grötsch. Die Zeit läuft uns ein bisschen davon, die Nachrichten hier im Deutschlandfunk warten. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Wir werden noch ausführlicher und häufiger über das Thema mit Ihnen reden. Danke Ihnen herzlich.
    Grötsch: Sehr gerne. Schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.