Donnerstag, 25. April 2024

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Ultraschall Berlin
Neue Musik in ihrer ganzen Verschiedenheit

Beim Berliner Festival "Ultraschall" stand in diesem Jahr Solomusik im Mittelpunkt. Und das kann ja vieles sein. "Neue Musik" gilt oft als anstrengend, kopflastig, unemotional, rhythmusfeindlich. Das diesjährige "Ultraschall"-Festival wollte dagegenhalten und zeigen, wie facettenreich die Neue Musik sein kann.

Von Julia Spinola | 24.01.2016
    Eine so schmissige Musik assoziiert man hierzulande eher selten mit dem Begriff "Neue Musik". Der puertoricanische Komponist Roberto Sierra hat sie dem Saxofon-Virtuosen James Carter auf den Leib komponiert. Dieser schien in den drei Sätzen des Konzerts für Tenor- und Sopransaxofon mit seinen Instrumenten geradezu körperlich verschmolzen zu sein.
    Die unglaubliche Bandbreite von schnalzenden, heulenden, singenden oder krähenden Lauten über perkussive Klangeffekte und sogenannte Multiphonics - also virtuose Mehrfachklänge - riss das Publikum im Konzert mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin immer wieder zu spontanem Applaus hin. Eine hitzige Großstadtmusik. Und doch steckt mehr in ihr, als nur das effektvolle Liebäugeln mit dem Jazz: Die raffinierten rhythmischen Konstruktionen erinnern stellenweise sogar ein wenig an die Musik György Ligetis, dessen Schüler Sierra Ende der Siebzigerjahre in Hamburg war.
    Dreiklangsüchtiger Wellnesssound eines Streichorchesters
    Das diesjährige "Ultraschall"-Festival wollte die Neue-Musik-Szene in ihrer ganzen Verschiedenheit darstellen. Und so warf das Eröffnungskonzert mit dem DSO unter Kristjan Järvi einen Blick auf Amerika, wo man wesentlich unbefangener mit den Grenzen zwischen der sogenannten E-Musik und den diversen Genres der Unterhaltungsmusik umgeht. Die weiteren Werke des Abends freilich boten in diesem Sinne allzu leichte Kost: In Aaron Jay Kernis' "Musica Celestis" wird der Zuhörer mit dem dreiklangssüchtigen Wellnesssound eines Streichorchesters berieselt wie man ihn aus Spa-Einrichtungen kennt. Und der Lebenszyklus, den Philip Lasser in seinem Klavierkonzert "The Circle and the Child" darstellen möchte, klingt wie ein lascher Aufguss aus den Klangzaubereien von Maurice Ravel, der Polytonalität von Charles Ives und jeder Menge Hollywood-Herzschmerz.
    Um wie viel stimmiger, eigenständiger und anspruchsvoller wirken da die musikalischen Stimmen von drei jungen Berliner Komponisten. Sie streben eine neue rhetorische Ausdruckskraft in der Musik an, ohne sie simplen Programmen zu unterwerfen.
    Die Musik des gebürtigen Israelis Eres Holz, eines ehemaligen Schülers von Hanspeter Kyburz, zählt zu den spannendsten Entdeckungen, die man bei "Ultraschall" machen konnte. Holz sucht nach einer harmonischen Verbindlichkeit jenseits der Dur-Moll-Tonalität. Das Ensemblewerk "Kataklothes" von Eres Holz exponiert eine Akkordverkettung, deren Fortschreiten zugleich eigentümlich logisch und offen wirkt: genauso wie der Lebensfaden, den die altgriechischen Moiren - auf die der Titel anspielt - spinnen. Entstanden ist eine ungeheuer farbige und plastische Musik, die Harmonie als ein sich beständig wandelndes Phänomen erfahrbar macht, als etwas, das nicht statisch, sondern in sich beweglich ist.
    Verschiedenartige Gesichter der Neuen Musik
    Die Neue Musik hat heute so verschiedenartige Gesichter wie selten zuvor. Wo sich die stilistischen Verbindlichkeiten aufgelöst haben, muss die innere Stimme den Komponisten als verlässlicher Kompass dienen. Die Musik von Johannes Boris Borowski klingt irrlichtern und exzentrisch: "Dex" heißt sein neues Ensemblestück, nach der Abkürzung eines Dopingmittels. Das Ensemblewerk "Soma - oder die Lust am Fallenlassen" von Stefan Keller dagegen schraubt sich zunächst mit physischer Wucht in die Höhe - um sich anschließend Phasen eines nachhallenden Schwindels zu überlassen.
    Das Duo Mixtura wiederum hat sich mit der Kombination der altertümlichen Schalmei und des modernen Akkordeons einem Spagat zwischen alter und neuer Musik verschrieben. In einem durchkomponierten Konzert mit szenischen Elementen standen vier Uraufführungen zwischen Werken des Renaissance-Komponisten Francesco Landini.
    Am eindringlichsten nutzte die Komponistin Sarah Nemtsov diesen Assoziationsrahmen mit ihrem Stück "Briefe - Heloisa" in einer Fassung für Solo-Akkordeon: Die Erweiterung der Klangmöglichkeiten durch Elektronik, eine hinzutretende Stimme und Geräusche riss einen riesigen Resonanzraum auf, der wie ein Zeittunnel in die Tiefen der Erinnerung zu führen schien.