Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Um ein Haar am Abgrund

In Birma pilgern täglich Tausende von Menschen Goldenen Felsen - in Vollmondnächten sollen es bis zu 50.000 sein. Seit tausend Jahren, so erzählt es die Legende, hält ein einziges Haar von Buddha den Goldenen Felsen im Gleichgewicht.

Von Lottemi Doormann | 01.04.2012
    Unsere Tour zum Goldenen Felsen beginnt in Yangon, bis vor wenigen Jahren die Hauptstadt von Birma. Viele Gebäude in der Altstadt sind in einem jämmerlichen Zustand. Abgeblätterte Fassaden, bröckelndes Mauerwerk. Doch auf den schmalen Bürgersteigen herrscht ein reges Treiben.

    Längs der Straße sind dicht an dicht kleine Marktstände aufgebaut, wo Frauen in Longyis, den traditionellen Wickelröcken, Obst, Gemüse, Fische, Kiebitzeier und Selbstgebrutzeltes verkaufen. Viele haben ihre Wangen mit weißer Tanaka-Paste aus Sandelholz eingesalbt, als Schutz vor der Sonne. Vor heruntergekommenen siebenstöckigen Häusern mit ihren einst prachtvollen Fenstern und Balkonen baumeln Schnüre herunter, an die Körbe oder Beutel gehängt werden, um die Einkäufe in die oberen Stockwerke hochzuziehen.

    Am Rande der Stadt überquert eine Reihe buddhistischer Bettelmönche die Asphaltstraße, barfüßig, in bordeauxroten Roben, vor der Brust den Almosentopf. Neun Kinder sind darunter. Allgegenwärtig ist der Buddhismus in Birma und hat sich als erstaunliche Widerstandskraft gegen die Macht der Generäle erwiesen. Gleichzeitig bestimmt auch der Geisterglaube das Alltagsleben. Unzählige Nats, gute und böse Geister, mischen sich in das Schicksal der Einzelnen ein und fordern ihren Tribut.

    Unser Chauffeur hält an der Straße vor dem Nat-Schrein der Autofahrer. Er kauft mehrere Sträuße Glücksblumen und befestigt sie gerade am Rückspiegel und innen vor der Windschutzscheibe, als ein dicker Mann im Toyota in voller Geschwindigkeit auf den Schrein zufährt., bremst, wieder zurücksetzt, es dreimal wiederholt. Unsere Tour-Begleiterin Kati Weise erklärt, wozu:

    "Ja, also dreimal hin und her. Kommt jetzt zum Nat und holt sich den Segen für das Auto, dass er es lange haben möge."

    Es ist ein neu gekaufter Gebrauchtwagen, irrsinnig teuer.

    Der Priester des Nat-Schreins hält eine Zeremonie ab, Glücksblumen ragen aus der geschlossenen Motorhaube, der dicke Mann fährt noch dreimal hin und zurück. Er sitzt übrigens rechts am Steuer, wie in Birma trotz Rechtsverkehr üblich, und blättert einer Asketin vor seinem Seitenfenster noch ein paar Geldscheine hin, bevor er davonbraust.

    Knapp vier Stunden dauert die Fahrt von Yangon zum Goldenen Felsen. Es geht an Nassreisfeldern vorbei, gesäumt von blühenden Wasserhyazinthen. Hier und da Stelzendörfer, Wasserbüffel, eine Kautschukfarm. Wir überholen einen klapprigen Bus voller Pilger aus dem Volk der Shan, alle Frauen tragen orange karierte Tücher um den Kopf gewickelt, die wie Geschirrhandtücher aussehen.

    Dann eine Trauerprozession am Straßenrand mit so lauter Musik, Jubelrufen und fröhlichen Menschen, als wäre der Tod ein freudiges Ereignis.

    Als wir gegen Mittag im Kinpun-Camp ankommen, dem Basislager am Fuße des Kyaikhtiyo-Berges, heißt es umsteigen auf die offene Ladefläche eines Kleinlasters.

    Dicht gedrängt kauern die Passagiere auf schmalen Holzbänken. In halsbrecherischer Geschwindigkeit geht es die holprigen Serpentinen hinauf bis zur Endstation.

    Aus Lautsprechern hallt zur Begrüßung eine Litanei in endloser verzerrter Wiederholung. Hier beginnt der vier Kilometer lange Fußmarsch zum Gipfel.
    Schweißtreibend ist die erste Etappe des Aufstiegs unter der glühenden Sonne auf einem steilen, asphaltierten Weg. Neben mir marschiert der 31-jährige Thun im Wickelrock, dem Longyi. Er hat an der Universität, die wegen Unruhen immer mal wieder geschlossen war, insgesamt 16 Monate Deutsch bis zum Examen studiert. Wir überholen eine Birmanin mittleren Alters.

    "Sie heißt Doagi und kommt aus dieser Dawei-Stadt im nördlichen Teil von Birma... "

    Sie sei mit ihrer Familie unterwegs, sagt sie, und steige schon zum siebten Mal zum Goldenen Felsen hinauf.

    "Sieben Mal! Sie lacht. Also jedes Jahr einmal habe sie ihn besucht. Mit fünf Leuten. Spricht birmanisch... Also Schwester und Onkel sind dabei. Ihre Schwester heißt Dosenya und ist 52 Jahre alt. - Oh, schweres Gepäck. Fällt es ihr schwer, hier raufzugehen? - Spricht birmanisch. Sie lachen. Wenn man langsam läuft, dann geht es. Also ihr Onkel heißt Uanshit, 72 Jahre alt. – Sieht so jung aus!"

    Sie wollen zwei Nächte bleiben, sagen sie. Um religiöse Verdienste zu erwerben, das sei gut für das Karma der Wiedergeburt.

    Nach einer halben Stunde erreichen wir einen überdachten Treppengang, gesäumt von Verkaufsbuden mit allerlei Devotionalien, Gebetsketten, Betelnüssen, selbst gekochten Süßigkeiten aus Früchten und Sandelholzpulver für die Tanaka-Gesichtspaste. In den Hinterzimmern dieser roh gezimmerten Buden lebt oft die ganze Familie.

    An den Ständen traditioneller Apotheken sind Wildziegenköpfe, Bärentatzen und Stachelschweinborsten zu sehen, erbeutet von Wilderern in den Wäldern der Umgebung, die schon lange unter Naturschutz stehen. Kati Weise berichtet:

    "Da gab es ursprünglich also Tiger und Bären, Wild, Gämsen, Ziegen, Schlangen, Wildschweine. Und je mehr Pilger hier hochkamen, desto häufiger wurden diese Tiere erschossen, um sie für diesen Sud, diesen Medizinsud einzulegen. Es ist einfach eine mit Alkohol übergossene Mischung aus verschiedenen Tieren, denen man heilende Wirkung zuspricht. Den ganzen Tag scheint die Sonne auf diese Sachen, das Fett tropft in diesen Sud, dann haben wir noch ein bisschen Tanaka-Rinde da drin, und das Ganze wird dann in diese Flaschen abgefüllt. Das ist dann für die äußere Anwendung bei Schmerzen, zur Massage oder einfach nur als Körperlotion zu verwenden."

    Ein beliebtes Souvenir sind handgefertigte Bambusgewehre in jeder Größe, ein Kinderspielzeug, das mit Buddha vereinbar zu sein scheint.
    Und dann sehen wir ihn von Weitem zum ersten Mal, einen vergoldeten Klumpen, der an der Kante eines steilen Abhangs klebt.

    Am Eingangstor zum Heiligtum müssen wir unsere Schuhe ausziehen. Hunderte von Pilgern strömen in das weitläufige, geflieste Areal, Großfamilien mit Kind und Kegel, Mönche, Leute mit Turbanen, Asketen im braunen Gewand mit Ziegenbart und hohem Hut, eine fröhlich schwatzende 13-köpfige Gruppe junger Näherinnen aus Yangon. Kahl geschorene Novizinnen in rosa Roben fotografieren uns kichernd per Handy, Touristen aus Europa sind hier selten.

    "Diese Zwei sind also permanente Nonnen, und diese Zwei sind Novizinnen, nur sieben Tage. Aus Yangon."

    In der späten Nachmittagssonne nähern wir uns dem legendären Felsen, der wie ein surreales, rotgolden schimmerndes Kunstwerk wirkt, mit einer Stupa-Spitze auf dem eckigen Rund. Ein Findlingsblock aus Granit, der jeden Augenblick in den 1100 Meter tiefen Abgrund herabzustürzen droht. Und jetzt sehe ich die Männer, die dicht gedrängt an der Unterkante hocken und Blattgoldplättchen auf den Felsen kleben. Frauen ist das versagt, den Stein dürfen sie nicht berühren. Sie knien betend in der Nähe, eingehüllt in den Rauch von Kerzen und Räucherstäbchen. Ein Singsang tönt herüber aus den Klöstern in den Bergen ringsum, während der Fels in der sinkenden Sonne orangerot zu glühen beginnt.

    Seit tausend Jahren, so erzählt es die Legende, hält ein einziges Haar von Buddha den Goldenen Felsen im Gleichgewicht. Mon-König Tissa, Sohn eines Magiers und einer mythischen Prinzessin, soll dieses Haar im 11. Jahrhundert von einem Eremiten erhalten haben. Der hatte ihm eines Tages offenbart, dass er etwas Wunderwirkendes in seinem aufgebundenen Haarknoten trage. Wenn es dem König gelänge, einen Felsen in der Form seines Kopfes zu finden, gehörte die Reliquie ihm. Tissa suchte überall im ganzen Land, bis er schließlich in den Ozean hinabtauchte und auf dem Meeresgrund einen Felsen in dieser Form entdeckte. Mit der magischen Hilfe des Gottes Indra schaffte er den Fels auf einem Schiff hinauf bis zum Gipfel des Kyaikhtiyo-Berges, wo das Schiff versteinerte. Da steht es bis heute, ein heiliger Stein, den auch die Frauen berühren dürfen, nahe dem Goldenen Felsen mit Buddhas Haar.

    Und die geologische Erklärung?

    "Das ist ein Granitgebirge, und durch Ausspülung bilden sich sogenannte Wollsäcke. Und der Goldene Felsen ist nichts anderes als einer dieser Wollsäcke. Der Granit wird durch Unterspülung immer poröser, immer schlanker, und irgendwann fällt der hinab. Aber die Pilger haben natürlich überall Gold angeklebt, um das Ganze zu fixieren. Wahrscheinlich ist das ein alter animistischer Kult gewesen, dass Bergspitzen mit besonderen Formationen, erloschene Vulkane, die Plätze für die Geister sind, für den alten Animismus. Und durch diese Legende ist das Ganze in den Buddhismus integriert worden und ist somit zwar nach wie vor ein Pilger-Ort volkstümlicher Legenden, aber gleichzeitig ein Pilger-Ort für die Buddhisten."

    Auf dem Gelände nahe einer kostenlosen Übernachtungshalle herrscht jetzt Volksfeststimmung. Pilgernde Großfamilien hocken auf ihren Matten, haben ihren Proviant um sich herum ausgebreitet, schwatzen, lachen, essen. Später werden sie ihr Nachtlager in der Halle aufschlagen, wo sie auch Matten und Decken mieten können, mehrere Dutzend Familien dicht beieinander. Weiter unten im Gelände gibt es noch einen ganzen Trakt mit Quartieren. Tausende pilgern täglich zum Goldenen Felsen, in Vollmondnächten sollen es bis zu 50.000 sein.
    Wir verbringen die Nacht in einer Herberge mit einfachen Zimmern, am Hang in der Nähe des Heiligtums gelegen, mit schönem Blick über die Berge.

    Es ist noch dunkel, als ich morgens um fünf zum Tor gehe, über mir die Sterne und eine liegende Mondsichel. Auf einer Mauer sitzt eine Nonne. Mit geschlossenen Augen spricht sie vor sich hin, in ihrem Schoß der Almosentopf.
    Auf der Treppe zum Eingang transportieren junge Frauen lange Bretter mit Ziegelsteinen auf dem Kopf nach oben. Pilger mit Sack und Pack kommen mir entgegen, die zu dieser frühen Stunde zurück nach unten steigen.

    Kerzen brennen in einem schmalen Gang vor dem Goldenen Felsen. Hier hocken dicht an dicht Betende, vor sich tablettgroße Opferschalen, reich gedeckt mit Früchten, Joghurt, Reis. In üppigen Blumensträußen hängen auf Zetteln und Fähnchen ihre Wünsche und Bitten. Manche Pilgerinnen, eine Wollmütze über den Kopf gezogen, murmeln versunken, andere lesen kniend in Texten und verneigen sich immer wieder vor ihren Gaben. Mönche schreiten in Gehmeditation umher, während die Sonne über den Bergen hochsteigt und den Himmel blutrot färbt. Es ist eine berührende Atmosphäre spiritueller Hingabe.

    Als es hell geworden ist, gehe ich den Weg zu den Unterkünften der Einheimischen hinunter, und hier ist die Andacht schon vorbei. Hier wird gegessen, geschnattert, in grellbunten Souvenirbuden eingekauft. Aus kleinen Restaurants tönt eine Kakophonie alltäglicher Musik. An Essensständen werden frisch zubereitete Köstlichkeiten angeboten – Spieße, Pfannkuchen, Reisnudeln, gebratener Fisch. Weiter unten glitzern die Wellblechdächer der Quartiere in der Sonne. Es ist ein riesiges Gelände, in das sich nur selten europäische Touristen verirren.

    Vorm Frühstück schaue ich noch im Nat-Schrein am Goldenen Felsen vorbei. Mon-König Tissa, der nach der Legende den Fels mit Buddhas Haar befestigte, hält dort Hof vor den Nat-Gottheiten, Magiern und Asketen. Vor ihm steht eine Attrappe des Goldenen Felsens, gespickt mit gerollten Geldscheinen, und drei Thailänderinnen kleben gerade Goldplättchen auf die Attrappe. Diese Nachbildung des Heiligtums dürfen auch Frauen berühren.
    Hinter dem König füllt ein Gemälde die ganze Wand. Man sieht drei goldene Felsen nebeneinander, und darüber schwebt Buddha in drei Inkarnationen, als käme er von weither aus dem Himmel geflogen. So als wollte er sich mit der uralten Wunderwelt der Geister verbinden.

    Auf der Rückfahrt nach Yangon halten wir unterwegs in einem Dorf. Beschaulich wirken die zweistöckigen Stelzenhäuser aus Holz oder Rattan in der Trockenzeit zwischen Schatten spendenden Bäumen. Ganz unten leben die Tiere. Doch in der Monsunzeit regnet es so heftig, dass das ganze Dorf überschwemmt ist. In einem der Stelzenhäuser lebt der Bauer Kusotuling:

    " Seine Frau und seine Kinder sind da. Der Jüngere ist über zwei Jahre alt, der Ältere über drei Jahre alt. – Was baut er an? – Reis, schon geerntet, jetzt fangen sie mit den Bohnen an. – Die Rinder hat er die für die Arbeit? "

    Er hat drei Kühe und vier Wasserbüffel für die Feldarbeit. Den Reis verkauft er auf einem nahe gelegenen Markt. Im Hof steht ein Vorratsspeicher. Strom gibt es nicht im Dorf, nur einen Generator, und jede betriebene Lampe muss bezahlt werden. Im Familienschrein hängen Bilder vom Goldenen Felsen, von Buddha und den Nat-Göttern, davor Blumen und Teller mit Opfergaben.
    Auf halber Strecke, nahe der alten Mon-Hauptstadt Bago, erwartet uns in der Shwethalyaung-Pagode ein Liegender Buddha von gewaltigen Ausmaßen.

    "Wir sind hier bei einer der ältesten liegenden Buddha-Skulpturen ganz Burmas. Er ist im Jahre 994 von König Migadeikpa gebaut worden. Knapp
    55 Meter lang und 16 Meter ist er hoch. Er ist aber im 15. Jahrhundert von König Dhammazedi restauriert worden, sodass wir seine dekorative Gestaltung, also das Diadem am Haar und auch die Kissen, auf denen er liegt, die sind eigentlich aus dem 15. Jahrhundert."

    Es ist wohl der schönste liegende Buddha des Landes, ganz abgesehen von seiner enormen Größe. Die Skulptur zeigt Buddha im Augenblick seines Todes, jenem Moment, in dem er ins Nirvana eintritt. Später, nach der Eroberung der Mon-Hauptstadt Bago, wuchs ein großer Grashügel über der Statue, und sie geriet Jahrhunderte lang in Vergessenheit.

    "Erst als 1881 die Engländer hier eine Eisenbahnlinie ziehen wollten, sind sie bei Grabungen – also sie waren immer auf der Suche nach gebrannten Ziegeln, die sie für das Bahnbett brauchten – und haben diese Skulptur gefunden. Und da sie nun aber draußen lag, dem Monsunklima ausgeliefert, hat man 1903 diese Halle darüber gebaut.""

    Während unsere Begleiterin die stilistischen Details auf der Fußsohle des liegenden Buddha erklärt, dringt das Murmeln einer eigenartigen Litanei an unser Ohr.

    Es sind die Tempelfeger, die gerade ihre freiwillige Arbeit mit einem Gebet beenden. Heute ist das Team der am Donnerstag Geborenen an der Reihe. Je nach dem Wochentag der Geburt kommt jeden Tag eine andere Tempelfeger-Gruppe von Männern aus der Umgebung. Und als wir schließlich den liegenden Buddha verlassen, um nach Yangon zurückzufahren, denke ich, dass es vielleicht jenes spirituelle Netzwerk ist, fest verankert im Alltag, das den Menschen in Birma ihre lächelnde Zuversicht verleiht - allen schwierigen Lebensumständen zum Trotz.