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Umberto Eco: „Auf den Schultern von Riesen"
Fortschritt durch Rückblick

Bestsellerautor Umberto Eco hielt kurz vor seinem Tod zwölf Vorlesungen auf dem Mailänder Kulturfestival "La Milanesiana". Diese sind nun als Buch erschienen. Er untersucht darin Muster und Wesen des menschlichen Fortschritts - und steckt mit seiner Lust am Denken an.

Von Philine Sauvageot | 29.11.2019
Der Schriftsteller Umberto Eco und sein Roman „Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis“
Bemerkenswerte 49 Ehrendoktorwürden wurden ihm zu Lebzeiten verliehen: dem 2016 gestorbenen italienischen Intellektuellen Umberto Eco. (Buchcover Hanser verlag / Portrait Copyright Peter-Andreas Hassiepen )
Umberto Eco ist ein Universalgelehrter. Eine seltene Spezies. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an den rund 400 Seiten dicken Band "Auf den Schultern von Riesen". Eco ist selbst so ein Riese und beweist wieder, wie weit er uns intellektuell voraus ist, wie er uns überfordert. Im Positiven: Der begnadete Kulturtheoretiker schafft es, dass seine Lust am Denken ansteckt und dass man ihn trotz komplexer Gedankengänge gut versteht. Denn er spricht wirklich zu uns. In zwölf Vorträgen, wie er sie auf einem Kulturfestival in Mailand gehalten hat – angenehm mündlich und pointiert.
"Auf den Schultern von Riesen" heißt sein erster Vortrag. Darin erklärt Eco den menschlichen Fortschritt. Er will ein Muster ausgemacht haben, nach dem wir unsere Kultur ständig erneuern. Die Welt bestehe aus Zwergen und Riesen, aus Jung und Alt, die sich normalerweise feindlich gegenüberstehen. Als Metapher für den Generationenkonflikt wählt Eco den Vatermord. Abraham ist bereit, seinen Sohn zu opfern. Ödipus erschlägt Laios. Saturn verschlingt seinen Sohn. Dabei war auch die mordende Medea keine vorbildliche Mutter. Eco hält es aber offenbar nicht für notwendig, auch weibliche Figuren ausfindig zu machen, die diesen Grundkonflikt leben. Hier scheint schon eine Schwäche auf: Eco gibt sich tief quellentreu, als sei er kein eigenständiger Denker. Und erklärt:
"Nur um mich an die einschlägige Literatur zu halten, benutze ich hier die Maskulinformen, wohl wissend, dass es eine ebenfalls jahrtausendealte gute Gewohnheit ist, auch die Mütter zu töten."
Vorwärts durch Vatermord
Den metaphorischen Vatermord begehe jede neue Generation. Auch in dem Moment, als das Mittellatein das klassische Latein ablöst. Die europäischen Sprachen etablieren sich. Ende des 5. Jahrhunderts ist man stolz auf die sprachliche Innovation, wie Dante, der sich selbstbewusst als Erneuerer versteht. Die Älteren wie Gregor von Tours beklagen das "Ende der Literatur". Der heilige Hieronymus empört sich über die "barbarischen Schreiber". Alles blähe sich auf und erschlaffe wieder "wie eine kranke Schlange". Die Sprache ist dem Untergang geweiht, manche denken auch heute so.
Dass Söhne ihre Väter töten, ist ein drastisches Bild. Es meint ebenjenen radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Aber, und da entwickelt Eco endlich eine eigene These, diese Opposition erfolge immer durch den Rückgriff auf einen Vorfahren, den man für besser als den Vater hält. So fuße man seine "neuen" Ideen immer auf eine Autorität, die die Väter vergessen haben oder die man neu auslegt. Ein Thomas von Aquin habe zwar die christliche Philosophie revolutioniert, schreibt Eco. Er hätte aber sicher von sich gesagt, er wiederhole nur, was acht Jahrhunderte vor ihm schon der heilige Augustinus gesagt hatte. Das Bild von den Zwergen und Riesen hat Bernhard von Chartes kreiert:
"Wir sind wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, sodass wir mehr als sie und weiter sehen können, nicht weil wir scharfsichtiger oder größer wären, sondern weil die Größe der Riesen uns hochhebt und über sie hinausschauen lässt."
Zwerge, die auf Riesen sitzen
Unsere Väter sind Riesen und wir Zwerge sitzen auf ihren Schultern, profitieren von ihrer Weisheit und können so hoch oben sogar weiter sehen als sie. Das kann demütig oder hochmütig gemeint sein. Eco lässt es offen.
"Jeder heutige Denker, der ernst genommen werden will, muss irgendwie zeigen, dass er etwas anderes zu sagen hat als seine unmittelbaren Vorgänger, und selbst wenn das nicht der Fall ist, muss er zumindest so tun als ob."
Seine Theorie überdehnt Eco etwas, wenn er beschreibt, wie mit dieser Tradition gebrochen werde, seit es den Computer gibt: Ein Vater habe ihn ins Haus gebracht, ihn dem Sohn vorgesetzt und der habe ihn nicht abgelehnt – im Gegenteil, der Sohn habe ihn dankbar aufgenommen und an seinen Sohn weitergegeben. Der Computer trenne die Generationen nicht, er verbinde sie eher. Unverständlich bleibt, dass sich Eco so auf den Computer einschießt, schließlich wurde auch die Erfindung des Feuers oder das erste Auto weitergegeben und weiterentwickelt – ohne dass ein grundlegender Vater-Sohn-Konflikt aufscheint. Der Computer, behauptet Eco, habe den Vater-Sohn-Konflikt erstmals aufgelöst. Hier spricht der Kritiker der Massenkultur. Niemand verfluche seinen Sohn, weil er im Internet surft, niemand opponiere deshalb gegen seinen Vater. Ganz so pauschal wie Eco kann man es allerdings nicht sagen, sind die digitalen Screens doch Auslöser für viele familiäre Konflikte. Und so eindeutig ist die Begeisterung der Jüngeren nicht. Ein Jaron Lanier, Digitalpionier, warnt vor dem twitternden US-Präsidenten, davor, dass uns Soziale Netzwerke psychologisch verändern und dass sie die Demokratie gefährden. Überhaupt lässt sich nicht jeder Konflikt so auslegen, dass wie bei Eco die Jungen den Alten gegenüberstehen. Protestbewegungen wie Gilets Jaunes oder Fridays for Future sind heterogener als ihr Ruf.
Kein Neuanfang ohne Vorhergehendes
Was ist mit den Revolutionen, die alle Mauern hinter sich eingerissen haben? Wiederholen wir wirklich immer nur, was Andere gesagt haben?
"Die Aufklärung empfand sich als radikal modern, und gleichsam als Kollateralschaden tötete sie den Vater dann wirklich, indem sie Louis XVI. als Sündenbock nahm. Aber auch hier, man lese nur Diderots und d’Alemberts Encyclopédie, waren die Riesen von einst sehr gefragt."
Darin steckt ein Funken Wahrheit: Denn ein Picasso entstellt das menschliche Antlitz, erst inspiriert von den antiken Minotauren. Duchamp karikiert die Mona Lisa mit einem Schnurrbart, benötigt dafür aber die Mona Lisa, um den Schnurrbart zu malen. Und Magritte muss, um zu leugnen, dass das, was er malt, eine Pfeife ist, eine Pfeife malen. Alles was neu oder originell sein will, braucht das Alte, um sich abzugrenzen.
Selbst die Generationenrevolte schlechthin, die Achtundsechziger, seien so neu nicht gewesen – mit Slogans wie "Viva Marx!" und der Ikone Che Guevara. Es ist in Ordnung, Ecos Sicht nicht immer zu teilen. Weil es eine Freude ist, ihn zu lesen – gerade die humorvollen Seitenhiebe. Wenn er etwa erklärt, eine Mauer sei absolut, weil man sich eine blutige Nase holt, sollte man versuchen, durch sie zu gehen. Oder wenn er Roland Barthes widerspricht und schreibt, die Sprache sei kein Käfig. Ein Franzose, der mit "glace" so verschiedene Dinge wie gefrorenes Wasser, Eiszapfen, Speiseeis, Spiegel und Fensterglas bezeichnet, betrachte sich morgens beim Rasieren bestimmt nicht in einem Speiseeis.
Hochkultur und Menschheitsthemen
Man hält mit Umberto Ecos "Auf den Schultern von Riesen" ein wertvolles Buch in den Händen, wunderbar illustriert mit Banksys "Graffiti is a crime", dem "Wanderer über dem Nebelmeer" von Caspar David Friedrich oder der "Donna grottesca" von Quentin Metsys – alles Bilder, die Eco in seinen Vorträgen an die Wand projizieren ließ. Dieser nimmt die Sprache kleinlich auseinander, der Spezialist für Semiotik ist am Werk. Als stünde er am Rednerpult der Universität, zitiert er aus der Bibel, spricht über Nietzsche, Kardinal Ratzinger, Darwin, Voltaire, einen Charles Dickens, Victor Hugo. Ein kurzer Abriss eines jahrhundertealten Hochkultur-Kanons und aller großen Themen, die ihn in seinem Leben beschäftigt haben: von Verschwörungstheorien bis zur Theorie vom Hässlichen und Schönen.
Sein Zitate-Sammelsurium kann man ihm vorhalten, weil er selten eigene Thesen entwickelt. Aber zumindest bleibt er sich treu, als Anhänger der Intertextualität. Eco glaubte, dass sich Texte immer aufeinander beziehen – und dass man das nur beweisen müsse. In diesem Buch wird Eco zu einem Riesen der Kultur- und Geistesgeschichte, auf dessen gelehrte Schultern man sich setzen kann, um unsere Welt besser zu verstehen.
Umberto Eco: "Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis", aus dem Italienischen von Martina Kempter und Burkhart Kroeber
Carl Hanser Verlag, München, 416 Seiten, 32 Euro