
Ein Friedhof soll einer Zufahrtsstraße weichen, die Gräber umgebettet werden. Auch das Grab der mittleren Tochter Alma muss umziehen. Ein Anlass, der die weit verstreute Familie zusammenbringt – auf Initiative der Jüngsten, Liv, die sich verzweifelt für das Bild einer heilen Familie abstrampelt. Soweit der klassische Dramenbeginn. Und wie in psychologischen Kammerspielen so üblich, öffnen sich nach und nach die Abgründe einer Familie, die niemals eine war – obwohl sie nach außen immer perfekt das europäische, weltoffene Bildungsbürgertum verkörpert hat. Eine einst berühmte Fotografin, ein einst renommierter Schriftsteller. Doch warum ist Alma überhaupt gestorben? Warum hat die Mutter Lili ihre Töchter von drei verschiedenen Männern einst verlassen? Warum ließ sie sie bei ihrem Ex-Mann Jørgen, der diese mutmaßlich missbraucht hat? Schon beim ersten Zusammentreffen des Ex-Ehepaars skizziert Autor Jens Albinus gekonnt und latent bedrohlich die alten Konflikte kurz vor dem Ausbruch.
Lili: Dieses Haus. Mein Haus.
Jørgen : Was willst du damit sagen?
Lili: Ich brauche das Geld. Dringend. Ich benötige das Haus hier, um es zu vermieten – später. Ich brauche Einkommen, dringend. Tut mir leid.
Jørgen: Es ist dir klar, dass diese Straße – genau diese Zufahrtsstraße der Grund ist, warum Alma überhaupt umgebettet werden muss?
Lili: Wieso sagst du mir das? Natürlich ist das klar.
Jørgen: Also, es macht dir nichts aus?
Lili: Wieso? Es ist ein Grab. Oder? Sie liegt jetzt da, und irgendwann – bald – liegt sie halt ein bisschen südlicher.
Jørgen: Westlicher.
Jørgen : Was willst du damit sagen?
Lili: Ich brauche das Geld. Dringend. Ich benötige das Haus hier, um es zu vermieten – später. Ich brauche Einkommen, dringend. Tut mir leid.
Jørgen: Es ist dir klar, dass diese Straße – genau diese Zufahrtsstraße der Grund ist, warum Alma überhaupt umgebettet werden muss?
Lili: Wieso sagst du mir das? Natürlich ist das klar.
Jørgen: Also, es macht dir nichts aus?
Lili: Wieso? Es ist ein Grab. Oder? Sie liegt jetzt da, und irgendwann – bald – liegt sie halt ein bisschen südlicher.
Jørgen: Westlicher.
Auf der Bühne wird das vor und auf einem gediegenen, riesigen Holztisch unter Designerlampen verhandelt, es könnte auch eine Terrasse sein – oder ein edles Parkett. Die Insignien der erfolgreichen Kreativen von heute. Ihn umgeben lose, schief hängende Papiertapeten – und zeigen, wie leicht entflammbar und fragil die vermeintliche Toleranz ist. Das zeigt sich etwa, wenn sich die älteste Tochter Katie immer wieder stöhnend selbstzerstörerisch die Haut aufritzt. Melanie Kretschmann spielt sie in einer Mischung aus Arroganz und einsamer Liebesbedürftigkeit.
Und das zeigt sich vor allem am Familienvater und Exmann Jørgen, sehr vielschichtig gespielt von Ronald Kukulies: Am Anfang ganz der gemütlich geerdete Teddybär in Holzfällerhemd, ein sympathischer Versager – der sich zunehmend er sich als schmerbäuchiges, pädophiles und brandstifterisches Monster entpuppt, der vielleicht die Töchter missbraucht hat. Auch Birgit Walter changiert als Lili gekonnt zwischen eiliger Karrierefrau und emotional gescheitertem Eisblock. Und dann ist da ja auch noch der Freund der jüngsten Tochter, Toby, erfrischend naiv und nervig liebebedürftig, wird er von den Familienmitgliedern entweder verleugnet oder geschlagen. Über all dem hängt, wie eine latente Bedrohung der vermeintlichen europäischen Unversehrtheit, der sogenannte Flüchtlingsstrom in die benachbarten Baracken. Die Reaktionen des Vaters sind wie ein Abbild der gesellschaftlichen Ratlosigkeit: mal ein wüster Gegner, dann ein offener Willkommenshelfer – und schließlich vielleicht ein Brandstifter.
Jørgen: Wo solche Initiativen auftauchen, lauert das Feuer. Da kann man sich nicht sicher sein. Jeder von denen hat ja ein eigenes Smartphone. Die brauchen ständig Strom, damit sie Kontakt zu ihren Familien aufrechterhalten können (...), aber diesmal habe ich die Spuren im Voraus gelesen.
Bis er zum Schluss das eigene Haus anzündet und das Versicherungsgeld auch noch selbstzerstörerisch ans Heim spendet. Und auch wenn gewaltige Themen wie Flüchtlingskrise, sexueller Missbrauch, Selbstzerstörung und Sinnkrisen ganz schön viel sind für knappe zwei Stunden, ist Jens Albinus zweite Uraufführung am Schauspiel Köln bei weitem nicht so überfrachtet wie sein Erstling, "Helenes Fahrt in den Himmel". Trotz mancher Langatmigkeiten: ein intensives, düsteres und psychologisch genau gespieltes Kammerspiel. Es erzählt von einer typischen westlichen Familie, mit all ihrer Luxussehnsucht nach Glück und Größe, die letztlich durch und durch verlogen schon am Kleinsten scheitert. Geradezu ein trauriges Sinnbild für Europa.