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Umbruch und Tradition

Higuchi Ichiyo ist die erste und wichtigste Schriftstellerin am Anfang der modernen japanischen Literatur. Sie lebte von 1872 bis 1896 in Tokio und starb im jungen Alter von 24 Jahren an Tuberkulose. Ihre Epoche sind die Jahrzehnte der sogenannten Meiji-Restauration nach 1868, die in Wahrheit eine gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische, wissenschaftliche, technische Revolution war.

Von Ludger Lütkehaus | 11.06.2008
    "Die Welt ist weit, und Eisenbahnzüge fahren heutzutage durch das ganze Land". Der Schluss der Erzählung "In finsterer Nacht" der japanischen Autorin Higuchi Ichiyo ist eigentümlich, verrätselt, ergebnisoffen, wie es für die meisten Texte dieser Erzählerin charakteristisch ist. Abrupt, frappierend sind ihre unschlüssigen Schlüsse immer. Hier wird die Weite der Welt mit ihrer verkehrstechnischen Modernisierung in Verbindung gebracht. Was mag das für die Geschichte der Hauptperson heißen? Die Erzählung "Am letzten Tag des Jahres" endet explizit mit der Frage "Wie mag die Sache danach wohl weitergegangen sein?" Offenbar weiß auch die Erzählerin das nicht. Und eben das passt zu ihrem Leben wie zu dem Leben ihrer Epoche.

    Higuchi Natsuko, die sich pseudonym Higuchi Ichiyo nannte, ist die erste und wichtigste Schriftstellerin am Anfang der modernen japanischen Literatur. Sie hat von 1872 bis 1896 in Tokio gelebt. Im Alter von nur 24 Jahren ist sie an Tuberkulose gestorben. Ihre Epoche - das sind die Jahrzehnte der sogenannten Meiji-Restauration nach 1868, die in Wahrheit eine gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische, wissenschaftliche, technische Revolution war. Mori Ogai hat unter dem Titel "Im Umbau" das literarische Symbol dafür geschaffen. Konstant freilich blieben einstweilen die Hierarchien der Familien, der Geschlechter, die Gesetze der konfuzianischen Moral. Wer gegen sie verstieß, musste mit Sanktionen rechnen.

    In diesem Spannungsfeld ist das Leben und Werk von Higuchi Ichiyo zu lokalisieren. Nach dem frühen Tod des Vaters und dem Abbruch ihrer schulischen Bildung hat sie mit der Führung eines kleinen Ladens für den Lebensunterhalt von Mutter und Schwester gesorgt. Insofern ist sie jener "filialen Pietät" gefolgt, die auf dem Boden der konfuzianischen Tradition von den Kindern, zumal den Töchtern, bedingungslosen Gehorsam und jedes Opfer forderte. Gleichzeitig ist Higuchi Ichiyo in ihrem Leben als Schriftstellerin aus der Tradition ausgebrochen. "Man ist, was man isst", heißt es mit einem Zitat der europäischen Philosophie - der Ludwig Feuerbachs - in ihrem Tagebuch im Juli 1894. "Man könnte zwar untätig die Hände in den Schoß legen und von einem ästhetisch verfeinerten Lebensstil schwärmen, aber wenn es an den einfachsten Lebensmitteln mangelt, muss man vorzeitig aus dem Leben scheiden. Die Literatur ist kein Mittel, den Lebensunterhalt zu verdienen. Ich möchte schreiben, wonach mit der Sinn steht ... Habe ich Zeit, werde ich den Mond betrachten und mir die Blüten anschauen. Dichten und Prosa schreiben will ich, wenn ich Lust dazu bekomme. Diesen Beschränkungen möchte ich entfliehen und zumindest beim Schreiben von Verpflichtungen frei sein."

    Im Mittelpunkt der drei 1894 bis 1896 entstandenen Erzählungen, die jetzt mit einem erhellenden Nachwort des Übersetzers Michael Stein erschienen sind, stehen Geschichten von Frauen, die in unterschiedlicher Weise mit dem traditionellen Rollenhaushalt der Geschlechter konfrontiert werden. "Als Tochter ist die Frau Dienerin der Eltern, als Schwester ist sie Dienerin der Brüder, als Ehefrau ist sie Dienerin des Gatten, und als Mutter ist sie Dienerin der Söhne", so die normative Vorgabe. Auch in Ichiyos Welt gilt sie noch.

    In der dritten Erzählung des Bandes "Die Nacht der Herbstmondfeier" kehrt die von ihrem Mann, einem erfolgreichen Politiker, verhöhnte O-Seki, die eigentlich die Scheidung will, nach der Intervention ihres Vaters in die Käfighaltung ihrer Ehe zurück. "Wenn ich nur mich selbst als tot betrachte, dann wird alles ringsumher harmonisch werden", lautet das Diktat des Verzichts.

    Auch in der zweiten Erzählung "Am letzten Tag des Jahres" reichen die Gesetze der "filialen Pietät" so weit, dass die 18-jährige O-Mine, die als Hausangestellte an eine neureiche Familie verdingt worden ist, ihren Eltern und ihrem Bruder um jeden Preis finanziell helfen will. Doch darüber wird sie in ihrer Not zur Diebin. Das demütige Opfer nimmt die Form eines Rechtsbruchs an.

    Am weitesten geht die Titelerzählung, das bedeutendste Stück der Sammlung. Die schöne, mit der Erzählerin gleichaltrige O-Ran ist von ihrem Verlobten, auch hier einem so erfolgreichen wie korrupten Politiker, verlassen worden; er ist mitverantwortlich für den Selbstmord ihres Vaters nach einer fehlgeschlagenen finanziellen Spekulation. Doch nun sucht die Verschmähte, die zunächst wie die buddhistische Kannon als Göttin der Güte und Barmherzigkeit firmiert, mit Hilfe eines von ihr geretteten Outcasts ihre Revanche. Dieser Plan scheitert zwar an der Unfähigkeit des stellvertretend rächenden Mannes. Aber was die Frau betrifft, weiß man am Ende, dass die Welt weit ist und weiter, als die Männer gedacht.

    Alle diese Frauen haben es mit dem neuen ökonomischen und politischen Establishment der Meiji-Revolution zu tun, ihren Modernisierungsgewinnlern, zugleich den Nutznießern der konventionellen Geschlechtertradition. Aber es zeichnen sich bisher unbegangene Wege für die Frauen ab. Erzählt wird von ihnen in einer Prosa, die Reste der ästhetischen Tradition - Klassiker-Zitate, Metaphernreichtum, die Bilder der vergänglichen, leidhaften Welt, Melodramatik, gelegentliche Tiraden - mit modernen Erzählelementen amalgamiert. Die unschlüssigen Schlüsse sind das strukturell deutlichste Signal, dass das Leben dieser Frauen in Bewegung gerät. Wohin es führen wird, bleibt offen. Diese Autorin verrät sich und ihre Protagonistinnen an keine definitive Lösung. Das ist das Unverwechselbare an der bemerkenswerten Higuchi Natsuko-Ichiyo.

    Higuchi Ichiyo: In finsterer Nacht und andere Erzählungen.
    Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael Stein.
    Iudicium Verlag, München 2008, 99 S., 9,80 Euro