Donnerstag, 28. März 2024

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Umgang mit Plausibilität
Die Daten zum Coronavirus als vieldeutiger Text

Germanisten und Virologen haben gemeinsam, dass sie auslegen müssen: Bei den Germanisten sind es vieldeutige Texte, bei den Virologen komplexe Daten. Ständig müssen sie diese Uneindeutigkeit interpretieren und ständig wirft dies neue Fragen der Plausibilität auf.

Von Arno Orzessek | 29.05.2020
Eine FFP2 Atemschutzmaske
Die Daten zum Coronavirus ermöglichen vielfältige Auslegungen - unter Umständen mit schwerwiegenden Folgen (/imago images / Bildgehege)
Vor mehr als vier Jahrzehnten spottete der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler: "Es darf nicht nicht interpretiert werden." Kittlers boshaft-ironische Ansage galt damals der Manie der Geisteswissenschaften, literarische Texte immer neuen Interpretationen zu unterziehen, die methodisch oft unvereinbar sind und sich inhaltlich elementar widersprechen.
Nun ist das Coronavirus Sars-CoV-2 ein Krankheitserreger und kein schöngeistiger Text. Doch was die Auslegung der Daten zum Phänomen Corona angeht, ähneln die Virologen und Politiker durchaus den Germanisten, die sich über einen vieldeutigen Text beugen. Mit dem Unterschied, dass die Interpretation von Germanisten in der Regel für niemanden über Sein oder Nichtsein entscheidet. Wie der stündlich anschwellende Strom neuer Statements zu Corona beweist, hält sich praktisch alle Welt an die Parole: "Es darf nicht nicht interpretiert werden" – und zwar völlig ironiefrei.
Größtmögliche Plausibilität
Hätte man das Coronavirus nämlich nicht irgendwann als massive Bedrohung interpretiert und entsprechend gar nichts unternommen – wehe dann unseren Kliniken, unserem Pflegepersonal und unserem Leben! Indessen ist das Qualitätsmerkmal einer Gedichtinterpretation ihre größtmögliche Plausibilität – niemals aber die unstrittige Wahrheit. Analog dazu kann auch die Interpretation diverser Coronadaten nicht mehr als eine hohe Plausibilität erreichen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Noch bis Ende Januar – heute klingt es aberwitzig – interpretierte das Robert-Koch-Institut die Daten aus Fernost dahingehend, dass das Virus aus China wohl nicht herauskomme. Später ergänzte Gesundheitsminister Jens Spahn, Deutschland sei im Zweifel gut vorbereitet. Und nicht nur Donald Trump hat das Corona-Virus mit der Grippe verglichen – und damit latent gleichgestellt –, sondern zunächst auch RKI-Präsident Lothar Wieler. Angela Merkel wiederum interpretierte den Wissensstand im März dahingehend, dass sich ohne Impfstoff ohnehin 60 bis 70 Prozent aller Bundesbürger infizieren werden.
Einige Plausibilitäten
Wie plausibel das alles war, ist selbstverständlich hoch umstritten – denn schon damals kursierten völlig andere Interpretationen der Lage. Und wer solche vertreten hat, sah sich hinterher im Recht. Gab – und gibt – es also doch unstrittig richtige Interpretationen der Coronadaten? Es gibt in der Tat einige Plausibilitäten, die zumindest für den Augenblick als Gewissheiten gelten müssen:
Das Virus wird hauptsächlich per Tröpfcheninfektion übertragen; ein Impfstoff ist noch nicht vorhanden; viele Infizierte sind an oder mit Covid-19 gestorben; andere sind nicht einmal erkrankt; und so weiter. Doch das sind, um im Bild zu bleiben, die Silben im Corona-Text. Es ist deren uneindeutige Bedeutung, die zur permanenten Interpretation nötigt und ständig neue Fragen der Plausibilität aufwirft.
Darunter die absolut kniffelige Frage mit dem höchsten Streit-Potential in Interpreten-Kreisen: Haben die Interpretationen ausreichend Plausibilität, ist es also zum Beispiel angemessen, per Shutdown möglichst viele potenzielle Opfer vor dem Coronavirus schützen, wenn der Shutdown selbst viele wirtschaftliche Existenzen vernichtet und auch viele Leben fordert?
Alternative Interpretationen möglich
Man darf unterstellen, dass die Exekutive sich um die bestmögliche Interpretation bemüht hat. Wenn man jedoch Tag für Tag den Stand der Dinge durchgeht, waren alternative Interpretationen und entsprechend andere Maßnahmen sehr wohl möglich und in der Öffentlichkeit durchaus im Gespräch. Politiker – für Germanisten gilt dasselbe – können sich indessen nicht für alle Interpretationen gleichzeitig entscheiden. Entscheidend ist ihre Entscheidung, auch wenn sie morgen revidiert werden muss.
Es dürfte das Mütchen der Unzufriedenen nicht kühlen, aber Jürgen Habermas hat wohl recht mit der Auskunft: "So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie." Glauben wir also nicht, dass alles richtig ist, was uns seitens der Exekutive widerfährt. Seien wir aber gewiss, dass unsere eigene Interpretation auch nicht vollkommen sein kann.