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Umstrittene Unabhängigkeits-Konzepte

Tausende christliche Iraker verlassen ihre Wohnorte - sie kehren dem Land den Rücken oder flüchten in sicherere Landesteile, zum Beispiel in den Norden. Dort lebt inzwischen eine große christliche Gemeinde. Einige Mitglieder fordern ein autonomes Gebiet.

Von Mona Naggar | 10.07.2010
    Die Kirche ist gut gefüllt. Ungefähr 200 Männer, Frauen und Kinder sitzen auf Holzbänken und lauschen der auf Aramäisch gehaltenen Messe. Einige murmeln die Gebete nach. Der Altarraum ist mit Marmor ausgekleidet. Im Hintergrund hängt ein großes Kreuz. Der riesige Gebetsraum wirkt schlicht. Die Wände sind grau verputzt. Von der Decke hängen einfache Kristallleuchter.

    Die Mar Youhanna-Kirche, nach Johannes dem Täufer benannt, liegt in Einkawa, einer kleinen Stadt wenige Kilometer von Erbil, der Hauptstadt der Region "Irakisch-Kurdistan" entfernt. Das Stadtbild von Einkawa ist von ein- bis zweistöckigen Häusern geprägt – sie sind umgeben von kleinen Gärten, in denen Zitronenbäume blühen. Auffällig sind die vielen Kirchen in der Stadt. Einkawa wirkt wie ein Mikrokosmos des christlichen Lebens im Zweistromland. Alle Konfessionen der stark zersplitterten orientalisch-christlichen Kirchen sind hier vertreten.

    Einkawa ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Die Nummernschilder der Autos auf den Straßen verraten die Herkunftsorte der Menschen, die hierher kamen: Bagdad, Basra, Mosul. Pater Bashar Warda ist Rektor des chaldäisch-katholischen Priesterseminars und Sekretär der "Babel Hochschule für Theologie". Auch er gehört zu den neuen Bewohnern von Einkawa.

    "Vor fünf Jahren lebten ungefähr 2000 Familien in Einkawa. Nun sollen es 6000 Familien sein. Wir haben im Irak keine zuverlässige Statistik. Aber ich denke, dass die Zahlen sich ungefähr auf diesem Niveau bewegen. Es ist beruhigend für die Christen, in Gemeinschaft zu leben. Sie fühlen sich sicher."

    Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein 2003 sind im Irak etwa 105.000 Zivilisten getötet worden. Das ergeben aktuelle Zählungen der Initiative "Iraq Body Count". Die Menschen sind Opfer von Bombenanschlägen und Entführungen, die auf das Konto radikal-islamistischer Gruppen gehen, auf das Konto von Anhängern des gestürzten Baath-Regimes und sunnitischer wie schiitischer Milizen. Und sie sind Opfer von Kriegshandlungen amerikanischer Soldaten.

    Über die Zahl der Christen im Irak gibt es keine verlässlichen Angaben, auch nicht über die Opfer. Die Organisation "Gesellschaft für bedrohte Völker" schätzt, dass rund 650.000 Iraker christlichen Glaubens am Ende der Baath-Herrschaft im Zweistromland lebten. Die Hälfte von ihnen soll in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen haben. Sie sind nach Syrien oder Jordanien geflüchtet, in den Westen ausgewandert oder sie haben sich im Nordirak niedergelassen.

    Auch Aziz Al-Zebari musste vor fünf Jahren aus seiner Heimatstadt Mosul fortgehen. Heute lebt er in Einkawa und unterrichtet an der Universität von Erbil Pädagogik:

    "Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Innerhalb von drei Tagen wurden in Mosul 300 christliche Familien vertrieben. Maskierte gingen durch die Straßen und haben über Lautsprecher gerufen: Ungläubige verschwindet! Sie haben es geschafft, Angst und Schrecken zu verbreiten. Viele Familien flüchteten nach Kurdistan."

    Diese Erfahrungen haben Aziz Al-Zebari dazu gebracht, heute von der Schaffung eines autonomen Gebietes für die Christen zu sprechen. Einzig ein solches Gebiet könne, so Al-Zebari, das Überleben der christlichen Iraker in ihrem Heimatland sichern:

    "Um unsere physische und kulturelle Existenz zu bewahren, brauchen wir ein politisches Gebilde innerhalb des irakischen Staates. Wir fordern eine Selbstverwaltung in den Gebieten, in denen unser Volk die Mehrheit ausmacht. Es ist sehr erfreulich, dass Artikel 35 der neuen kurdischen Verfassung dieses Recht auch unserem Volk zugesprochen hat. Sobald sie durch ein Referendum bestätigt worden ist, können wir damit anfangen, unsere verfassungsmäßigen, gesetzgeberischen und juristischen Institutionen aufzubauen."

    Al-Zebari ist Mitglied des "Chaldäisch-Syrisch-Assyrischen Volksrates". Die Partei ist 2007 gegründet worden und steht der Kurdisch Demokratischen Partei KDP nahe. Ihr Gründer und derzeitiger Chef Sarkis Aghajan war viele Jahre Wirtschafts- und Finanzminister in der kurdischen Regierung in Erbil.

    Der Volksrat ist sowohl im neu gewählten irakischen Parlament in Bagdad als auch im Parlament der Region "Irakisch-Kurdistan" vertreten. Er macht sich für die Schaffung eines autonomen christlichen Gebietes in der Niniveh Ebene stark. Wobei der Begriff "Autonomie" – realistisch betrachtet – als "kommunale Selbstverwaltung" verstanden werden muss. Versehen mit einem wichtigen Vorzeichen: Die christliche Region soll, so will es der Volksrat, unter kurdischem Schutz, damit auch unter kurdischer Kontrolle stehen.

    "Autonomie" aber klingt in den Ohren vieler christlicher Iraker gut, denn das Wort weckt Wünsche und Begehrlichkeiten. Was die Partei dazu veranlasst, "Autonomie" gerne und oft heraufzubeschwören. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen im letzten Jahr bestätigen den Kurs: Der Volksrat bekam 60 Prozent der christlichen Stimmen in der Niniveh-Provinz.

    Das Konzept einer "Autonomie unter kurdischer Fahne" ist dennoch höchst umstritten. Zu den stärksten Rivalen des Volksrates gehört die Ende der 70er Jahre gegründete "Assyrische Demokratische Bewegung". Die Bewegung spricht sich klar gegen das Autonomiekonzept des Volksrates aus. Nizar Hanna leitet das Parteibüro in Einkawa. Auch er setzt sich für mehr Rechte und eine kommunale Selbstverwaltung ein, doch, und auch hier ist das Vorzeichen wichtig: unter der Fahne Bagdads:

    "Die Vorstellung echter Autonomie ist unrealistisch. Es gibt bis jetzt keine konkreten Pläne, die zeigen, wie das funktionieren soll. Wenn wir etwa von einer Autonomie in der Niniveh-Ebene sprechen, dann vergessen viele, dass es sich nicht um ein zusammenhängendes Gebiet handelt, in dem nur Christen leben.

    Nein, es leben dort auch Shabak, Yazidis, Kurden und Araber. Das sind doch alles nur Parolen! Daher sagen wir: Wir müssen für unsere bürgerlichen Rechte im Zentralstaat Irak kämpfen. Wir fordern zum Beispiel, dass die aramäische Sprache in der irakischen Verfassung festgeschrieben wird. Als Nationalsprache neben Arabisch, Kurdisch und Turkmenisch."

    Die Niniveh-Ebene liegt im Nordosten des Irak. Sie grenzt an Irakisch-Kurdistan, an die Türkei und Syrien. Teile dieser Region gehören zu den Gebieten, um die sich die Regierung in Bagdad mit der Regierung in Erbil – also Irakisch-Kurdistans – streitet. Bei diesen Gebieten handelt es sich größtenteils um fruchtbares Land. Auch Erdöl wird dort vermutet. Die im vergangenen Jahr verabschiedete kurdische Verfassung definiert diese Gebiete ausdrücklich als Teil Irakisch-Kurdistans. Obwohl eine Einigung mit Bagdad nicht in Sicht ist, werden Teile dieser "umstrittenen Gebiete" bereits von Erbil kontrolliert.

    Die christlichen Iraker befinden sich heute in einem Dilemma. Im Streit zwischen Bagdad und Erbil, zwischen Kurden und Arabern, drohen sie, zerrieben zu werden. Die Regierung in Bagdad, so sagen viele, sei nicht fähig, sie zu beschützen und die Morde aufzuklären.

    In den kurdischen Gebieten dagegen würden sie mit offenen Armen empfangen, finanziell unterstützt und ermutigt, eine Autonomie zu fordern. Und dann gibt es die anderen Stimmen. Sie befürchten, zum Spielball zwischen Arabern und Kurden zu werden und von den Kurden für ihre Gebietsforderungen missbraucht zu werden. Darüber hinaus ist die Angst groß, wegen eigener politischer Ambitionen erst recht zur Zielscheibe nationalistischer und religiöser Fanatiker zu werden. Pater Bashar Warda:

    "Wenn wir ein eigenes Gebiet forderten, dann hieße das, bei der Politisierung von Religion mitzumachen. Das aber stellt im Moment das eigentliche Problem in unserem Land dar. Ein autonomes christliches Gebiet im Irak zu fordern, machte alles nur noch schlimmer! Die Kirche hält sich bei all dem zurück und sie hat ehrlich gesagt auch keine Vorstellung, was genau unter Autonomie zu verstehen ist. Unter den christlichen Politikern ist das nicht anders. Das ist so mein Eindruck."