Donnerstag, 25. April 2024

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Vorlesungsreihe über Kinderbuchklassiker
Umstrittener "Struwwelpeter"

Der Kinderbuchklassiker "Struwwelpeter" gehört bis heute zu den erfolgreichsten deutschen Kinderbüchern und wurde in der ganzen Welt verbreitet. Aus Anlass des 200. Geburtstages seines Schöpfers Heinrich Hoffmann widmet die Uni Frankfurt dem "Struwwelpeter" eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe. Denn bis heute polarisiert das Kinderbuch Erzieher und Eltern.

Von Peter Leusch | 30.04.2009
    "Gegen Weihnachten des Jahres 1844, als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: 'Das brave Kind muss wahrhaft sein'; oder: 'Brave Kinder müssen sich reinlich halten' und so weiter."
    Kurz entschlossen kaufte sich der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann - erzählt er rückblickend - ein leeres Schreibheft und begann selber ein Kinderbuch zu schreiben und zu zeichnen. So entstanden die "Lustigen Geschichten und drolligen Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren" - wie der Struwwelpeter ursprünglich hieß, eben jener Kinderbuchklassiker, der bis in die letzten Winkel der Erde Verbreitung gefunden hat. Warum ist er so erfolgreich? Zunächst einmal, so der Frankfurter Jugendbuchforscher Hans-Heino Ewers, weil er mit dem romantischen Klischee des Kindes gebrochen hat,

    "Das romantische Kindheitsbild ist sehr stark idealisierend - zumindest auf der Ebene der Ideologie und auch der Illustrationen und des Kinderbuchs: Kinder sind brave, engelsgleiche Wesen, nahezu ohne ein Triebleben, und sie sind brav - kleine Engel. Hoffman war Arzt, er hat sehr viele Kinder behandelt. Und für ihn sind Kinder in ihrer ganzen Normalität das ganze Gegenteil von dem, was die Romantiker sich ausgemalt haben: Kinder sind unruhig, Kinder sind aggressiv, sie zappeln, sind nervös, trotzig - das ist für Hoffman völlig normal, da hat er einen ganz nüchternen Blick auf Kinder und das äußert sich in seinem Buch. Kinder sind so, man solle bitte gar nichts anderes erwarten."
    Die zehn Episoden des Struwwelpeter bieten kein Happy End wie die Märchen. Kinder werden auch nicht behutsam belehrt, sie werden abgeschreckt und bestraft - in bös-lakonischen Versen und skurrilen Bildern. Hoffmann wusste, dass krasse Darstellungen und Karikaturen Kinder besonders faszinieren und fesseln. Als Arzt hat er manchmal spontan solche Zeichnungen angefertigt, um seine kleinen Patienten abzulenken.

    Weltweiten Erfolg hat der Struwwelpeter aber wohl auch, weil die Geschichten wichtige Entwicklungskonflikte der Kindheit thematisieren: der böse Friedrich zum Beispiel quält die Mitkreatur, weil er sich noch nicht in andere hineinversetzen kann und muss dies vom Hund gebissen erst schmerzlich lernen.

    Paulinchen wiederum hat noch kein Verantwortungsbewusstsein entwickelt. Kaum sind die Eltern aus dem Haus, greift sie zu den verbotenen Streichhölzern und verbrennt elendiglich.

    "Paulinchen, das mit dem Feuer spielt, ist eine meisterhafte Darstellung, von einer Entwicklungsphase, die Kinder mitmachen, mit drei, vier wo die Gesetze nur gelten, wenn der Erwachsene anwesend ist, und sie müssen sich mit diesen Gesetzen identifizieren, damit sie eine eigene reale, vom Erwachsenen unabhängige innere Wertewelt haben. Und beim Paulinchen ist das eine sehr drastische Sache, damals wurden gerade die Streichhölzer entwickelt, also es war auch eine reale Gefahr, dass die Kinder die Holzhäuser abbrennen, aber er hat es so dargestellt, dass es nicht nur ein zeitbedingte Gültigkeit hat, sondern auch Kinder heute in Afrika und China müssen diesen Loslösungsprozess von den Erwachsenen durchmachen, indem sie sich mit dem Werteraum der jeweiligen Kultur ein Stück weit identifizieren."
    Die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohlen vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt kritisiert allerdings, dass Heinrich Hoffmann zwar Entwicklungskonflikte anspricht und gestaltet, aber nicht in einer aufgeklärt-toleranten Weise, die den Kindern hilft, sie zu verarbeiten.

    Der Struwwelpeter unterstützt das Kind nicht, sondern straft es ab, er verstärkt seine Ängste, statt sie abzubauen. Ist der Struwwelpeter - so die Kritiker - Inbegriff einer schwarzen, reaktionären Pädagogik? Gehört das Buch also schleunigst aus allen Kinderzimmern verbannt?

    Hans-Heino Ewers verteidigt den Struwwelpeter gegen solche Globalkritik, da Kinder sehr souverän mit den Geschichten umgehen können.

    "Der Struwwelpeter ist so angelegt, dass die Kinder wie Voyeure sind, sie gucken sich die bösen Figuren an und projizieren ihre Lust auf Bösartigkeiten auf diese Figuren, und am Ende der Geschichte gehen diese Figuren unter, aber nicht der Leser, der Leser kommt fein heraus. Indem die Struwwelpeter-Kinder verbrennen, untergehen, beschnitten oder schwarz getauft werden, sind die Leser und sollten die Leser befreit sein von Angst, - es ist interessant, dass Hoffmann seine Zeichnungen nicht zum Angstmachen sondern zum Angstbeseitigen eingesetzt hat, - hier würde ich fast von Katharsis sprechen. Jemand auf der Bühne nimmt stellvertretend Regungen auf sich, die eigentlich verboten sind, und indem er bestraft wird, sind die Zuschauer gereinigt und aus dem Spiel."
    Bei der Katharsis folgt der Identifikation mit der Hauptfigur und ihrem Schicksal die Loslösung, spätestens wenn der Zuschauer das Theater verlässt. Es ist aber zu bezweifeln, ob kleinere Kinder zu einer solchen Distanzierung in der Lage sind - und ob sie nicht vielmehr der Angst machenden Wirkung erliegen, besonders in der Geschichte vom Konrad, dem Daumenlutscher, zumal dort tief sitzende unbewusste Konflikte berührt werden, Kastrationsängste, wie die Psychoanalyse sagt.

    Marianne Leutzinger Bohlen:

    "In dem Alter zwischen drei und vier entdecken die Kinder in allen Kulturen den Geschlechtsunterschied. Das ist eine kindliche Phantasie, wenn sie das weibliche Genital mit dem männlichen vergleichen, dass sie denken, da ist etwas abhanden gekommen oder abgeschnitten worden, in der gleichen Zeit erkunden die Kinder ihren Körper, eine wichtige Funktion, um die Basis auch für ein erotisches Körpergefühl zu legen, wir sind dafür viel toleranter, aber in der Zeit von Hoffmann wurde Onanie massiv bestraft und wurde eben auch beim Daumenlutscher mit dem Schneider Meck-Meck-Meck, der den Daumen abschneidet auf brutale Weise bestraft - viele Kinder haben Nachtängste, da bräuchten sie den Erwachsenen, der sie tröstet, der sie emphatisch in den nächsten Entwicklungsschritt führt, und da gibt es heute wunderbare Kinderbücher, die das machen, aber im Struwwelpeter sind die Erwachsenen die uneinfühlsamen, strafenden, strengen, kalten Autoritäten, die dem Kind in brutaler Weise seine Ängste schüren und stimulieren."
    Im Struwwelpeter haben die Eltern die Kinder allein gelassen. Entweder sind sie gar nicht da, wie beim Hans-Guck-in-die-Luft, der ins Wasser fällt, oder aber sie sind innerlich abwesend - wie beim Zappel-Philipp, wo es heißt: "Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum" - während der Vater, ganz Patriarch, nur auf sich, seine Gebote und sein Essen fixiert ist.

    Der Struwwelpeter spiegelt das konservative Familienbild der Entstehungszeit, auch wenn sein Schöpfer Heinrich Hoffmann ein liberal gemäßigter Parteigänger der 48er-Revolution war und sich in Frankfurt um die Reform der Psychiatrie verdient gemacht hat.

    Inzwischen weist der Kinderbuchklassiker eine lange Wirkungsgeschichte auf mit vielen Adaptionen und Parodien, vom Struwwelhitler 1941 in England bis zum antiautoritären Anti-Struwwelpeter von F.K. Wächter.

    Heute könne man das Original hervorragend im Unterricht verwenden, um mit Jugendlichen und älteren Grundschülern über Erziehung zu diskutieren, aber für die eigentlichen Adressaten, so Marianne Leuzinger-Bohlens Urteil, sei der Struwwelpeter nicht geeignet.

    "Er ist ja geschrieben für drei- bis sechsjährige Kinder, ich glaube in diesem Alter sollte man den Struwwelpeter den Kindern nicht geben, heute. Weil man weiß, wie sich das auf Kinder auswirkt."