Donnerstag, 25. April 2024

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Umtriebiger Dilettant

In den knapp sieben Jahrzehnten seit seinem Tod hat er vor allem ein Nachleben gehabt: das einer Quelle für Historiker - und besonders Kulturhistoriker - der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit; wenn man so will: es war eine posthume Fußnotenexistenz, die Harry Graf Kessler führte, nachdem er es sich hatte leisten können, sein Leben als Kunstmäzen mit gelegentlich eher unglücklichen Ausflügen in die Diplomatie zu verbringen. Es gibt kaum ein Werk über Figuren oder Konfigurationen jener beiden Epochen, in dem er nicht zitiert oder wenigstens erwähnt würde. Wer immer einen Namen hatte oder zu haben glaubte, von den Größen aus Politik, Gesellschaft und Kultur bis zu ihren Trabanten auf der immergleichen Umlaufbahn im Gravitationsfeld von Macht, Ruhm und Geld - Kessler hat sie gekannt und die Begegnungen in seinem Tagebuch notiert. Er war ein Jet-Set-Mitglied im Zeitalter der Eisenbahnen und Schiffe, denn das Spektrum des in Paris geborenen Sohns eines Hamburger Bankiers war nicht auf Berlin, Potsdam oder Weimar beschränkt, sondern reichte bis in die ersten Kreise von London, Paris und New York.

Von Uwe Pralle | 16.05.2004
    New York 21. Februar 1892. Viele Besuche. Abends Reception bei Mrs Perry; Mrs Paran Steven, Mad de Talleyrand, McVickar etc; ein junges Mädchen mit viel Pathos und wenig Erfolg ein langes Gedicht über den Tod Maria Stuarts declamiert; die gähnsüchtige Langeweile eines Salonpublikums dessen Gespräche u flirtations durch ein solches Attentat unterbrochen worden sind ist immer klassisch ...

    ... schrieb der damals vierundzwanzigjährige Kessler in sein Tagebuch, und zwei Wochen später auf der Weiterreise in Florida:

    Palatka 11 März 1892. Heute Morgen die Badegesellschaft; dieselbe reiche u leberkranke Gesellschaft wie in St Moritz oder in Nizza; dieselben tennisspielenden Misses und a` la Kate Greenaway aufgedonnerten Kinder. Frühalte Jugend jugendliches Alter. Es ist merkwürdig, wie ähnlich all diese Leute sich überall sehen.

    Wo immer Harry Graf Kessler hinkam, ob es Tokio war, San Francisco, Mexiko oder eine andere Metropole der neuen und alten Welt, überall haben ihm von Anfang an die Türen zur feinen Gesellschaft offen gestanden und ist er empfangen worden, als sei die mondäne Welt des großen Geldes auch damals schon eine weit verzweigte, aber überschaubare internationale Familie gewesen. Als Kosmopolit hat er später in der Weimarer Republik gegolten, als das nach dem Ersten Weltkrieg in der von nationalem Pathos erfüllten Atmosphäre nicht nur in seinen Kreisen ein Schimpfwort war. Doch kosmopolitisch war Kessler gewissermaßen von Geburt wegen, und dass das wenig mit einer politischen Haltung zu tun hatte und sehr viel mehr mit den Lebensformen der europäischen Elite im Zeitalter der Globalisierung des 19. Jahrhunderts, ist in seinem Tagebuch der Jahre 1892 bis 1897 zu sehen. Mit ihm beginnt jetzt das Großprojekt einer vollständigen Edition von Harry Graf Kesslers Tagebüchern, dem eigentlichen Hauptwerk seines Lebens, oder sogar seinem "Rückgrat", wie es Kesslers Biograph Peter Grupp einmal genannt hat.

    Mit dem Tagebuchschreiben hatte Kessler schon 1880 als Zwölfjähriger begonnen, bezeichnenderweise in einem französischen Schulheft, aber auf Englisch, denn damals besuchte er nicht nur das Internat in Ascot, sondern Englisch war - im Wortsinn - auch seine Muttersprache. Während Kesslers väterlicher Familienzweig aus der Schweiz stammte, kam Alice Gräfin Kessler aus einer englischen Aristokratenfamilie, die sich bis auf William den Eroberer zurückführte, aber auch eine persische Linie einschloss. Im Gesellschaftsleben jener Zeit war seine schöne Mutter einer der Stars, und dass Kaiser Wilhelm I. ein Auge auf sie geworfen und die Kesslers 1879 in den Grafenstand erhoben hatte, hatte natürlich den Klatsch blühen lassen.

    Kessler, in drei Ländern und mit drei Sprachen aufgewachsen, hat Tagebuch bis zu seinem Tod im Jahre 1937 in Frankreich geführt, wo er seit 1933 in der Emigration lebte. Ohne zu ahnen, dass die Nachwelt nicht so sehr von seinen wenigen Büchern Kenntnis nehmen würde, dem mexikanischen Reisebuch, einer Biographie Walter Rathenaus und den Jugendmemoiren "Gesichter und Zeiten", sondern gerade von den Tagebüchern, hat er 57 Jahre lang nahezu lückenlos 10000 Seiten eng mit seinen Schriftzügen gefüllt. Bekannt davon war bisher nur eine Auswahl, die 1961 erschienen ist und Notizen von der Novemberrevolution 1918 bis zu Kesslers Tod enthielt.

    Zwar hat diese Auswahl damals das Fundament gelegt, Kessler zur viel zitierten Quelle über den abrupten Übergang vom Kaiserreich zur Republik und von ihr wiederum zum Nationalsozialismus zu machen - nur war mit der Beschränkung auf die Zeit seit der Novemberrevolution der große Nachteil verbunden, sowohl das Bild von Kessler selbst als auch die chronistische Bedeutung seines Tagebuchs um eine wichtige Dimension zu verkürzen. Was bisher gefehlt hat, waren die Tagebücher, die seine intellektuelle Vorgeschichte und Haltung in der wilhelminischen Zeit zeigen. Genau diese Lücke beginnt jetzt sein Tagebuch der Zeit zwischen 1892 und 1897 zu schließen, als der vierundzwanzigjährige Kessler nach Abschluss eines Jura-Studiums in Bonn und Leipzig in der Berliner Gesellschaft und Kultur ein standesgemäßes Leben aufnahm.

    Berlin 26 Januar 1894. Mittags zum Einzug Bismarcks; Hochwächter & Miquel unter d. Linden getroffen; mit ihnen zum Kammerherrn Wedell ins Prinzessinnen Palais; da dort viele Fürstlichkeiten wieder weg und auf die Schlossrampe. Überall grosses Menschen Gewoge. Etwas nach Eins kamen die Kürassiere über die Brücke gesprengt und in ihrer Mitte der Fürst mit dem Prinzen Heinrich in einer geschlossenen Hofkutsche. Vor dem Schloss stieg der Fürst aus, während die Musik Heil Dir im Siegerkranz spielte, schritt auf den Arm des Prinzen Heinrich gelehnt, die Ehrencompagnie ab und liess sie dann an sich vorbeidefilieren; die Kerls marschierten magnifik.

    Der schnarrende Kasinoton mag bei einem Kessler verwundern, der drei Jahre zuvor sein Tagebuch noch auf Englisch geführt hatte und nach dem geläufigen Bild seiner republikanischen Haltung seit 1918 keineswegs dem Typus des preußischen Rittmeisters zu entsprechen schien. Doch wer den späteren Pazifisten und Demokraten vor Augen haben sollte, wird über Kesslers Tagebücher - und zwar aus der gesamten wilhelminischen Ära - ziemlich überrascht sein. Sie bieten, was die Haltung zu dieser Gesellschaft anbelangt, nahezu alles, was von einem wilhelminischen Untertanen zu erwarten wäre, vom weltläufigen Kessler aber nicht gerade; einschließlich des leicht verächtlichen Blicks eines vom Sieg bei Sedan zehrenden preußischen Offiziers auf die Paradeformation französischer Truppen, wenn er sich wieder einmal zu Besuch bei seiner in Paris lebenden Familie befand:

    Paris 14. Juli 1895. Zur Truppenrevue in Longchamps. Die Infanterie kommt im Schritt, d. Artillerie im Trab, d. Cavalerie im Galopp vorbei, was für die Zuschauer interessanter ist, wie die Ordnung bei uns. Die Richtung beim Vormarsch schwach; bei einzelnen Batterieen u Schwadronen so miserabel, dass selbst das Publikum Oh Oh schreit. Die berittenen Truppen traben selbst beim Parademarsch englisch; die Chasseurs haben keine Lanzen, die Cürassiere u Dragoner blos d. erste Glied, aber die Pferde aus dem zweiten schrammen trotzdem unter ihren englisch trabenden Bändigern ins erste.

    Das alles hatte eben nicht den richtigen preußischen Schliff, und wie der aussah, hatte Kessler mit merklicher Begeisterung erfahren, als er nach dem Studium und einer sich anschließenden Weltreise im Herbst 1892 in Potsdam als Einjährig-Freiwilliger zu den Garde-Ulanen eingerückt war. Die Verbindung zu seinem Regiment hat er als Reserveoffizier in den späteren Jahren der Kaiserzeit niemals abreißen lassen. Für ihn, der sich bis auf die letzten Emigrationsjahre nie um seinen Lebensunterhalt sorgen musste und als Kunstmäzen und frei schwebender Intellektueller durch diverse Sphären dieser ständischen Welt trudelte, ist die Potsdamer Garnision offenbar lange ein Fix- und Fluchtpunkt geblieben, wohin er sich in Momenten von Lebenskrisen sofort wieder zurückziehen konnte.

    Im Gegensatz zu Kesslers Tagebüchern nach 1918, die vor allem durch die Dramatik der historischen Umbrüche und Kesslers Fähigkeit aufschlussreich sind, mit Nachrichten und Gerüchten aus seinem weit verzweigten Bekanntenkreis die Hintergründe der Ereignisse auszuleuchten oder wenigstens anzudeuten, hat dieses Tagebuch des jungen Kessler einen völlig anderen Charakter. Es zeigt einen jungen Mann aus der besten Gesellschaft, der mit den Werten und Strukturen der wilhelminischen Ständegesellschaft völlig konform ging und sich ihr einerseits ohne jeden Widerspruch einfügte, allenfalls mit jugendlich-aristokratischer Rancune gegen bürgerliche Spießigkeit, das andererseits aber mit seinen intellektuellen und künstlerischen Neigungen zu verbinden suchte. Eine Mischung aus Konformismus und ästhetischem Snobismus und von
    Untertanengeist und elitärem Dunkel bestimmt die Tonfarbe dieses Tagebuchs, untermalt von der nur sehr selten gelockerten Abneigung, die eigenen Gefühle zu zeigen, die zu den Grundmustern einer aristokratischen Schamkultur gehört; und diese Haltung hat Kessler bis an sein Lebensende niemals aufgegeben. Doch auf diese Weise gibt dieses Tagebuch immerhin recht präzise Einblicke, was zumindest im Kopf eines zur wilhelminischen Elite zählenden jungen Mannes vorging.

    Berlin 20. Oktober 1894. Das Leiden unserer Zeit besteht nicht darin, dass die alten Ideale verfallen; zu allen Zeiten ist, wie in jeder Sekunde auf dem Erdball ein Mensch stirbt, in jedem Moment ein Ideal zerstört worden. Sondern darum, dass wir nicht die Kraft haben, uns neue Ideale d.h. feste Ziele unseres Wollens, die ihm Richtung geben könnten zu schaffen, daran, dass wir uns moralisch verbluten, leiden wir. Und unter Wir verstehe ich hier blos die oberen Zehntausend. Die Massen haben dort, wo das Christentum geschwunden ist, die Sozialdemokratie und die Sorge um das tägliche Brod. Denn darauf dass man Etwas will kommt es an. Jenes Etwas nennen wir Ideal. Unser, der oberen Zehntausend, Leiden hat im Kampf der Zeit nur die Bedeutung, dass es uns die Kraft raubt die Massen zu lenken, und dass diese, die moralisch Starken, uns, den moralisch Schwachen, daher ihre Ideale, z.B. den Sozialismus, aufzwingen.

    Das Leiden der oberen Zehntausend, überall von einer Masse umgeben zu sein, die nichts als ihre Sorge um das tägliche Brot im Sinn hat und mit diesem Egoismus auch die neuen Ideale niederwalzt: irgendwie kommt einem dieses Klagelied heute nicht ganz unbekannt vor. Kessler wusste bis zum
    Ende der Kaiserzeit jedenfalls immer, wo für ihn das lag, was man früher einen Klassenstandpunkt" nannte. Garniert war das oft mit Versatzstücken von Nietzsche, der damals Mode war und auch Kessler umtrieb; nach einer Soirée in einem der führenden Berliner Künstlersalons, bei dem Maler Gustav Richter, der mit der Tochter Giacomo Meyerbeers verheiratet war, notierte er die Äußerung einer österriechischen Schriftstellerin:

    Eine zeitpsychologisch interessante Bemerkung der Schubin: sie glaube nicht, dass sechs gebildete Deutsche jetzt auf eine halbe Stunde zusammenkommen könnten ohne den Namen Nietzsche zu nennen.

    Die Wirkung der seit Ende der 70er Jahre in schneller Folge herausgekommenen Schriften Nietzsches war damals immens. 1895 nahm Kessler Verbindung zur unseligen Elisabeth Förster-Nietzsche auf, wurde nach und nach zum wichtigsten Sponsor ihrer Aktivitäten und ist dem
    dahindämmernden Philosophen auch noch einige Male begegnet. Aber dass Nietzsches Schriften auf den alles andere als philosophischen Kopf Kesslers mehr als eine ornamentale Wirkung ausgeübt hätten, lässt sich kaum sagen. Wenn er sich im Tagebuch hin und wieder einmal mit Denkmotiven Nietzsches beschäftigt hat, so ist wenig von der emphatischen Glut zu bemerken, die er später im Rückblick beschwor. Eher dürfte für ihn und den damaligen Nietzsche-Kult zugetroffen haben, was er Anfang 1894 so umschrieb:

    Nicht seine Philosophie und nicht einmal seine dichterische Kraft sind an ihm die Hauptsache, sondern der Mensch, der in seinen Neigungen und Abneigungen, in seinem Streben und in seinen Träumen der Ausdruck einer neuen Art, der Typus des geistig Vornehmen aber nervös Zerrütteten im Kampfe mit der steigenden Demokratisierung ist.

    Nietzsches philosophischer Baukasten bietet bekanntlich bis heute für jeden mehr als genug. In der zusehends nervöseren Fin-de-sie`cle-Stimmung des Kaiserreichs Wilhelms II. konnte die von Halluzinationen einer steigenden Demokratisierung verschreckte Elite sich eben auch mit Nietzsche ein paar Heilmittel für ihre Leiden zusammenbrauen; wie etwa den "Typus des geistig Vornehmen", in dem gerade der kunstsinnige Kessler sein Zukunftsideal des neuen Herrenmenschen sah. Und seine Lieblingsvorstellung, woher er kommen sollte, war wiederum von einem Ideensplitter Nietzsches inspiriert, den er nicht zögerte, Alfred Lichtwark, dem einflussreichen Direktor der
    Hamburger Kunsthalle, auf einer Fahrt in die Potsdamer Schlösser mitzuteilen:

    Bei Tisch über Verschiedenes; so Nietzsche, von dem L(ichtwark) sich mächtig angezogen zu fühlen schien, ohne ihn doch ganz zu kennen. Ihm war besonders neu, dass Nietzsche gerade den preussischen Offiziersstand als möglichen Kulturträger so hoch geschätzt habe. Er selber habe auch schon lange diese Auffassung; die Schaffung des preussischen Offizierstypus, der nebenbei gesagt der Königstypus der ganzen Welt geworden sei, sei die grösste Kulturthat der Hohenzollern.

    So überraschend deutlich wie in Kesslers Tagebuch hat man bisher noch nicht nachlesen können, wie tief das geistige Innenleben selbst so einflussreicher Förderer der künstlerischen Moderne, wie Lichtwark und vor allem Kessler sie zweifellos gewesen sind, von Standesdünkel und der grotesken Ambition beherrscht war, dem Ansturm der Massen durch eine ausgerechnet auf den Geist des preußischen Offizierstums gestützte neue Geistes-Elite zu widerstehen. Wie sich dieses schlichte Weltbild mit Kesslers unbestritten wachem Sinn für neue Strömungen in der europäischen Kunst der Moderne vertragen konnte, ist ebenso schwer zu verstehen wie das Nebeneinander von kosmopolitischem Horizont und Übereinstimmung mit der deutschen Weltmachtpolitik von Tirpitz und Bülow. Aber wenn in diesem Tagebuch überhaupt einmal gewisse Vorbehalte zumindest gegen die Person von Wilhelm II. zu finden sind, die auf Kesslers abrupte Wendung von 1918 voraus weisen, so kommen sie aus der ästhetischen Sphäre und sind gegen die unvornehme Kunstauffassung des Kaisers gerichtet:

    Übrigens charakteristisch für Kaiser und Umgebung die Verhandlung über den Ankauf von Zorn's badender Frau: Tschudi macht den Kaiser darauf aufmerksam; darauf schweigt der Kaiser einen Augenblick; Lucanus glaubt die Wind Richtung gemerkt zu haben und meint sehr laut: Na, so'n Bild können wir doch nicht kaufen; was würde das Publikum dazu sagen, wenn unter so'nem Bilde stünde: Angekauft vom Staate. Aber der Kaiser unterbricht ihn in seinen längeren Ausführungen: Na ja, aussehen thut die Person schon als ob sie uns den Hintern hinhielte, damit wir (!) ihr ein Klystier geben; aber daran was das dumme Publikum sagt brauchen wir uns nicht zu kehren, was Tschudi? Und das Bild ist gekauft worden.

    Am interessantesten in der fünfjährigen Zeitspanne dieses Tagebuchs sind sicherlich Kesslers Notizen seiner beiden Amerikareisen, vor allem, weil ihn gerade der mehrmonatige Aufenthalt in New York Anfang 1892 mit der ungewohnten Dynamik im Alltag konfrontierte, die das saturierte Gefüge der wilhelminischen Gesellschaft in Frage stellte:

    Durch die Strassen; der vorherrschende Eindruck der von nervöser Überhastung und Unruhe; die Leute gehen nicht, sie laufen; die Meisten lesen währenddessen eine Zeitung; da das Pflaster miserabel ist, so bricht sich von Zeit zu Zeit Einer dabei die Beine; das macht aber nichts; hier giebt es genug Leute. Durch die Strassen jagt eine Pferdebahn die andere; über die Avenues brausen die Eisenbahnen weg. An allen disponiblen Plätzen Reklamen; kurz, um Zeit zu sparen, und meist den Leser persönlich anredend, um den Eindruck zu erhöhen; das Problem ist, in möglichst knapper Zeit einen möglichst starken Eindruck zu machen; schliesslich ist es Einem, als wandle man über einen riesigen Jahrmarkt, in dem ein Jeder mit Geschrei und Paukenschlag seine Waare anpreist.

    Dass Kessler in den USA für jenen müßiggängerischen Typus des geistig Vornehmen seines Schlages, auf dem er alle wirkliche Kultur beruhen sah, nirgends mehr Spielräume entdecken konnte, nicht einmal in der ultrareichen New Yorker Gesellschaft, ließ ihn sehr schnell hellhörig werden für die bekannten Clichés von der - wie es wörtlich heißt - "materialistischen, geldsüchtigen, von keinen geschichtlichen Associationen verklärten amerikanischen Civilisation":

    Abends bei Degeners gegessen; (...) Vor und nach Degeners bei einem politischen Diner des Reformklubs bei Sherrys; Springer, Williams, u andre Honoratioren der demokratischen Partei kennen gelernt; Als ich wiederkam, redete gerade ein "Honorable" aus Georgia über die Tariffrage, mit soviel Feuer, dass man den Champagner witterte. Wenn ein Redner etwas sagte, das gefiel, stand Alles auf, schrie Minutenlang und wehte mit den Servietten. Überhaupt sind die Amerikaner das Volk von allen, die ich kenne, das die besten Lungen hat. Über die schlechte Strassenreinigung, Pflasterung etc. hier gesprochen; warum das Volk die, die dafür verantwortlich sind, nicht hinauswürfe? Alle Leute hätten hier zuviel "business", um sich um so was zu kümmern, deshalb liessen sie sich's gefallen; und so geht es auch in der Politik; daher die Politik in Händen von Schurken, die daraus ein Geschäft machen, und von Lumpen und Bummlern, die Nichts zu thun haben.

    Dieses Tagebuch von Harry Graf Kessler von 1892 - 1897 wird mit seinen Folgebänden aus der wilhelminischen Ära zu jenen merkwürdigen Zeitdokumenten gehören, ohne die sich kein wirkliches Bild einer Epoche gewinnen lässt. Und gerade das, was Kesslers Notizen von Journalen originärer Denker oder Künstler unterscheidet, der Gestus des umtriebigen Dilettanten mit seinen zeitgebundenen Blickweisen, Vorurteilen und Missverständnissen, wirft Licht auf Mentalitäten der
    wilhelminischen Elite. Zu bezweifeln ist allerdings, ob eine Edition dieser Tagebücher nötig gewesen wäre, die jede einzelne Notiz Kesslers getreulich sogar mit allen Schreib- und Interpunktionsfehlern wiedergibt - eine gut durchdachte Auswahl hätte es sicher auch getan.

    Harry Graf Kessler

    Tagebuch 1892 - 1897
    Klett-Cotta, 775 S., EUR 58,-