Samstag, 20. April 2024

Archiv


Umweltgifte gefährden die Fortpflanzungsfähigkeit

Medizin. - Einige Umweltgifte sehen ähnlich aus wie körpereigene Hormone des Menschen. Seit einigen Jahren sind insbesondere solche künstlichen Substanzen ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten, die dem weiblichen Sexualhormon Östrogen ähneln. Vielfach wurde angenommen, dass sie die Fortpflanzungsfähigkeit von Männern schwächen, indem sie die Männer gewissermaßen verweiblichen. Die Wirksamkeit und die Konzentration der Stoffe in der Umwelt ist jedoch für diesen Effekt viel zu gering. Es wurde deshalb vermutet, dass die Umweltöstrogene anders wirken als körpereigene Östrogene. Nun haben britische Forscher die direkte Wirkung der Umweltöstrogene auf Spermien untersucht und sind fündig geworden.

21.08.2002
    Von Michael Lange

    Das weibliche Sexualhormon Östrogen kommt auch im männlichen Körper vor. Es wirkt als eine Art Gegenspieler für das männliche Sexualhormon Testosteron. Das Wechselspiel beider Hormone kontrolliert zum Beispiel die Reifung der Spermien im Hoden. Östrogen-ähnliche Substanzen aus der Umwelt könnten diese Prozesse stören, so die Vermutung vieler Wissenschaftler. Allerdings werden die dazu nötigen Mengen von den Umweltöstrogenen fast nie erreicht. Deshalb vermutete Lynn Fraser vom Kings College in London, dass die Umweltöstrogene auch direkt auf die Spermien wirken. Das hat sie jetzt an Mäuse-Spermien untersucht.

    Wir behandelten die Spermien für kurze Zeit mit verschiedenen Östrogen-ähnlichen Substanzen, und fanden, dass sie dadurch schneller fruchtbar wurden. Das Ergebnis: Behandelte Spermien gelangten schneller in die Eizelle als unbehandelte.

    Eigentlich hatten die Forscher geglaubt, dass Östrogen als weibliche Komponente des Hormonsystems die Spermienentwicklung eher bremst. Aber die Versuchsergebnisse aus London zeigen das Gegenteil. Beide - körpereigene Östrogene und Umweltöstrogene - beschleunigten die Reifung der Spermien - allerdings in unterschiedlicher Stärke.

    Sehr zu unserer Überraschung wirkten die Umweltöstrogene viel stärker als körpereigene Östrogene. Normalerweise ist es umgekehrt. Die natürlichen körpereigenen Östrogene haben eine mehr als hundertfach stärkere Hormonwirkung als Umweltöstrogene. Bei der direkten Wirkung auf Spermien sind aber die Umweltöstrogene mehr als hundert mal stärker als das körpereigene Östrogen.

    Das heißt, es ist nicht die natürliche Wirkung des Östrogens als Hormon, die durch die Umweltöstrogene ausgelöst wird. Lynn Fraser vermutet einen ganz anderen Mechanismus, der nicht über das Wechselspiel der Hormone abläuft.

    Die Spermien werden durch diese Östrogen-ähnlichen Substanzen permanent stimuliert. Unter dem Mikroskop konnten wir erkennen, dass einige Spermien überstimuliert waren. Sie blieben am Leben, sie bewegten sich, aber nach einiger Zeit waren sie nicht mehr in der Lage, eine Eizelle zu befruchten.

    Den Ablauf stellt sich die Wissenschaftlerin folgendermaßen vor: Die Umweltöstrogene veranlassen die Spermien, bestimmte Enzyme freizusetzen. Diese Enzyme sind eigentlich dazu da, den Spermien den Weg durch die Eizellhülle zu bahnen. Die überstimulierten Spermien produzieren permanent diese Enzyme. Wenn sie dann tatsächlich eine Eizelle erreichen, können sie nicht mehr genug Enzym freisetzen, um durch die Hülle zu gelangen. Sie sind also nicht mehr in der Lage, in die Eizelle einzudringen, um sie zu befruchten. So werden durch Umweltöstrogene die Chancen für eine erfolgreiche Befruchtung gesenkt, obwohl die Spermien hochaktiv sind.

    Umweltöstrogene sind jedoch keinesfalls nur Giftstoffe aus der Industrie - betont Lynn Fraser - sie kommen in nennenswerten Mengen in der Natur vor und gelten als unbedenklich: zum Beispiel im Soja oder im Hopfen.

    Wenn Sie ein biertrinkender Vegetarier sind, nehmen Sie sehr viele dieser Umweltöstrogene ganz natürlich mit der Nahrung auf. Aber es gibt auch industriell hergestellte Umweltöstrogene, die wir untersucht haben. Sie kommen vor in Pflanzenschutzmitteln, Farbstoffen und anderen Industrieprodukten.

    Und einige dieser Produkte haben sich tatsächlich in der Nahrungskette angereichert. Sie könnten letztlich zu dauerhaften Fortpflanzungsstörungen bei Tier und Mensch führen. Das jedoch ist durch die neuen Forschungsergebnisse noch nicht bewiesen.