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Unbekanntes Europa

Der Fotograf Kurt Kaindl und der Autor Karl-Markus Gauß streifen an den Rändern Europas entlang. Sie stellen die unbekannten Nationalitäten des Kontinents vor, sind zu Gast unter anderem bei Assyrern, Tartaren und Zimbern.

Von Beatrix Novy | 01.08.2006
    Die Zimbern? Natürlich, Zimbern und Teutonen. Haben wir in der Schule gehabt. Die beiden germanischen Völker, die Rom so schwer zu schaffen machten, aber um 100 vor Christus vom römischen Feldherrn Marius bei Vercellae in Oberitalien vernichtend geschlagen wurden. Trotzdem gibt es sie dort, in Oberitalien, immer noch, die Zimbern - oder Kimbern -, und sie sprechen Deutsch, was ja bei einem germanischen Volk nicht verwundert.

    Das ist natürlich Unsinn, eine deutsche Sprache gab es zur Zeitenwende noch gar nicht, und in Wahrheit haben die Zimbern, die heute noch in einigen abgelegenen Gemeinden zwischen den Städten Verona und Vicenza leben, mit den Bedrängern des Römischen Reichs nichts zu tun. Der Name ist halt ein Gelehrtenirrtum: In der frühen Neuzeit konnte man sich keinen Reim darauf machen, wo das deutsch sprechende Völkchen auf der Hochebene von Asagio und an den Felswänden von Giazza herkam; also deklarierte man sie als Nachkommen der besiegten Zimbern von damals. Heute haben die Sprachforscher eine andere Erklärung: Mittelalterliche Bischöfe, also Feudalherren, holten sich bayerische Gastarbeiter auf ihre oberitalienischen Besitzungen und siedelten sie dort an. Und weil die Gegend gebirgig abgeschlossen ist, hat sich unter den Zimbern bis heute ein Deutsch erhalten, das man sonst nur aus alt- oder mittelhochdeutscher Literatur kennt.

    Ansonsten sucht man nach besonderen Kennzeichen auf den Fotos, die Kurt Kaindl dort gemacht hat, vergeblich. Die Ortskirche von Roana - ganz normal italienisch. Allerdings heißt Roana auch Rowan. Das Bergdorf Giazza - nicht außergewöhnlich. Allerdings heißt Giazza auch Ljetzan. Dass Kurt Kaindl hier nicht nur ein, sondern drei Denkmäler für die Ausgewanderten fotografieren konnte, hebt die Bewohner von Roana und Giazza nicht von denen in anderen perspektivarmen Gegenden Italiens ab. Alles ganz normal hier - fast alles.

    ""Wie so oft sind es die einfachsten Gemüter und die gebildetsten Geister, die an der überkommenen Sprache der Vorväter, die außerhalb eines kleinen Gebietes niemand auf der Welt versteht, festgehalten haben. Oder besser: die einfachen Leute, die aus ihrem Tal nie herausgekommen sind, haben am Zimbrischen festgehalten, eine Handvoll melancholischer Intellektueller hingegen hat die Sprache wiederentdeckt. Und mit der Sprache die regionale Kultur, von der manche Besonderheit dem großen Gleichmacher, dem Fortschritt, getrotzt hat."

    Aber das Besondere eben zeigen die Bilder nicht. Und die einleitenden Texte von Karl Markus Gauß, die in diesem Band den einzelnen Fotoserien vorangehen, sind kurz. So, es gibt also Zimbern in Norditalien. Warum sie auch nach 1000 Jahren von ihrem Zimbernsein nicht lassen wollen, ist aus ihren Gesichtern nicht herauszulesen, aber ihre Geschichte erscheint wie ein Apercu zu den Integrationsdebatten unserer Tage.

    Karl Markus Gauß und Kurt Kaindl haben sich schon einmal, in ihrem Buch "Die unbekannten Europäer" auf die Spuren vergessener, aber nicht untergegangene Völker und Völkchen gesetzt: Gottscheer Deutsche, Sepharden, Sorben, Aromunen und Arbereshe. Sie alle führen durch ihre bloße Existenz den Gedanken der Nation und der homogenen Gesellschaften ad absurdum.

    Vielvölkrig, vielsprachig, multireligiös, Europa war immer schon so. Das ist zwar kein Grund, jede Minorität zur gefährdeten Spezies und damit den Stillstand der Geschichte zu erklären. Aber man möchte doch wissen, was ist es, das die einen bewegt und befähigt, an einer historisch-kollektiven Extra-Identität festzuhalten, während andere sich spurlos in der Mehrheitsgesellschaft verlieren?

    Darauf gibt es mehr als eine Antwort. Eine davon geben die Assyrer in Schweden, Angehörige einer aus der Türkei vertriebenen uralten christlichen Volksgruppe. Die Assyrer emigrierten überall hin, doch nur in Schweden fanden sie zurück zu ihrer Sprache und Eigenart, die in der Türkei, unter dem Druck der nationalen Homogenisierung, schon fast verloren gegangen war. Aber auf Druck reagiert der Mensch verstockt.

    "Einzigartig in der Geschichte der europäischen Wanderung von Arbeitsemigranten und Flüchtlingen, ist die zweite und dritte Generation von ihnen ausgerechnet im Einwanderungsland zum kulturellen und sprachlichen Selbstbewußtsein ihrer Nationalität erwacht. Wenn anderswo die ausgewanderten Eltern beklagen, dass ihnen die eigenen Kinder an die fremde Kultur des Einwanderungslandes verloren gehen, ist es bei den schwedischen Assyrern gerade umgekehrt gekommen: erst in der Fremde war es ihnen erlaubt, die assyrische Kultur zu entdecken und die Sprache, die ihren in der Türkei oder im Irak aufgewachsenen Eltern verboten war, in Wort und Schrift zu erlernen (und dabei auch gleich zu modernisieren)."

    Der Zwang der türkisch-nationalen Despotie und die Liberalität der schwedischen Gesellschaft - diese Kombination hat die Assyrer als Volksgruppe am Leben erhalten, so wie das orthodoxe Judentum nach dem 2. Weltkrieg in New York neu aufblühte.

    Die Tataren von Litauen hingegen haben nicht mehr viel Tatarisches an sich. Vor 500 Jahren sollen ein katholischer Fürst sie von der Krim geholt haben, als Leibwächter. Das ist nicht einmal halb so lange her wie bei den Zimbern, und doch fanden Kaindl und Gauß niemanden, der des Tatarischen mächtig war. Nur eins macht die Tataren in Litauen zu Tataren: Sie sind Muslime. Alle versprengten Völker haben bewegte Geschichten, die traurigsten erzählen von den Massenumsiedlungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Schwarzmeerdeutschen in der Ukraine sind ein Beispiel fortdauernder Traumatisierung.

    "Einer der wenigen Rückkehrer, die es zu einem eigenen Betrieb gebracht haben, der Tischlermeister Lewil, sagt von seinen Landsleuten, dass er keinen von ihnen je in seiner Tischlerei einstellen würde, denn 'unsere Deutschen sind unzuverlässig, faul und versoffen'."

    Kurt Kaindls Bilder zeigen die osteuropäischen Szenerien, in denen bescheidenste Lebensverhältnisse, Verfall und Armut neben den Symbolen neuen Wohlstands zu sehen sind. Ausgebrannte Kirchenräume, stumme Straßen, gesäumt von schlichten Häuschen, stolze Besitzer vor einem neu eröffneten Hotel, schöne aber heruntergekommene Fassaden, junge modische Frauen, alte Frauen in Kopftüchern. Aber die traurigsten Bilder fand das Autorenduo in der Slowakei, in den Slums der von aller Welt verstoßenen Roma von Kosice und Svinia. Die Kinder, die hier aufwachsen, müssen die Welt ganz selbstverständlich für eine Müllhalde halten, und doch haben sie das schönste Lächeln für den Fotografen. Zum Beispiel der etwa zwölfjährige Junge mit dem kleinen Hund auf dem Arm. Er trägt ein Kapuzen-Sweatshirt mit dem Aufdruck "Success Kids".