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"Und doch bleibe ich stets bei Dir"

In Feldpostbriefen schrieb der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig als Soldat an der Front im Ersten Weltkrieg sein Werk "Der Stern der Erlösung". Im Jahr 1920 gründete er in Frankfurt am Main das erste Freie jüdische Lehrhaus.

Von Manfred Bauschulte | 02.02.2013
    Seit 1922 fesselte ihn eine unheilbare Krankheit an Haus und Bett. Mit nur 43 Jahren starb er im Dezember 1929. Viele Jahre verband ihn leidenschaftliche Liebe mit Margrit Huessy, der Frau seines Freundes Eugen Rosenstock.

    Die Briefe, die er täglich an sie schrieb, belegen, dass auch "Der Stern der Erlösung" als das Zeugnis seiner Liebe gelten darf. Phasenweise überschneiden sich die "Gritli-Briefe" und das Werk. Sie führen ein Gespräch über die menschliche Fähigkeit zur Verwandlung.

    Gemeinsam entwickelten Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock ihre dialogische Lehre von der Verwandlung. Auch nach dem Tod von Franz blieben für Margrit Huessy und ihren Mann Eugen jene Erfahrungen außerhalb der Norm bestimmend, die sie in der Liebe und Freundschaft machten.

    Das zeigt auch ein abschließendes Streiflicht auf die Liebesverbindung, die in den späten 50er-Jahren Freya von Moltke mit Eugen Rosenstock zusammenführte.

    Die Gritli-Briefe (auf Deutsch) kann man beim Verlag Argo Books nachlesen.

    Im Ersten Weltkrieg verfasste der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig, der als Soldat an der makedonischen Front im Balkan stationiert war, sein Werk "Der Stern der Erlösung". In Feldpostbriefen sandte er die einzelnen Teile an seine Familie in der Heimat. Gleichzeitig schrieb er beinahe täglich leidenschaftliche Liebesbriefe an Margrit Huessy aus Säckingen, die Frau seines Freundes Eugen Rosenstock. Während eines Fronturlaubs, den er gemeinsam mit dem Soziologen in Kassel verbrachte, hatte er die Geliebte 1917 kennen gelernt. Seine Briefe an Margrit ("Gritli") überschneiden sich mit dem Werk, das wie im Rausch in der letzten Kriegsphase und wenigen Monaten danach entstand.

    Die "Gritli-Briefe" von Franz Rosenzweig berichten ferner von den chaotischen Verhältnissen der Nachkriegszeit in Deutschland und erzählen von seinem rastlosen Leben. Er fühlte sich getrieben und war ständig zwischen Berlin und Freiburg unterwegs, bis er im August 1920 in Frankfurt/M. das erste "Freie jüdische Lehrhaus" gründen konnte. Im gleichen Jahr heiratete er überstürzt Edith Hahn, eine alte Bekannte. Schon kurz darauf, 1922 fesselte eine unheilbare Krankheit ihn an Haus und Bett. Er lehnte sich gegen die tödliche Krankheit auf, indem er eine unvorstellbare schriftstellerische Energie entfaltete. Zusammen mit Martin Buber übersetzte er in den verbleibenden Jahren die Hebräische Bibel in die deutsche Sprache. Mit nur 43 Jahren starb er am 10. Dezember 1929.

    Im Mittelpunkt der "Gritli-Briefe" steht eine bewegende "Ménage à trois", die von 1918 bis 1923 währte. In diesen Jahren führten Margrit und Franz eine intime Beziehung, die nie frei von Anfechtungen und Zweifeln war. Gleichzeitig entwickelten die Freunde Franz und Eugen in ihren Schriften eine dialogische Lehre der menschlichen Verwandlung. Während Rosenzweig ihr eine jüdische Gestalt verlieh, griff Rosenstock auf die christliche Offenbarung zurück. Auf die Erfahrungen außerhalb der Norm und Konvention, die sie in der Liebe und Freundschaft gewinnen konnten, gründeten beide ihre Lehre vom Dialog. Zum Bruch zwischen Franz, Margrit und Eugen kam es erst, als der unheilbar Kranke nicht mehr schreiben noch sprechen konnte und Tag und Nacht der Pflege bedurfte.

    "Die gelebte Trinität" blieb für Eugen Rosenstock und Margrit Huessy auch nach dem Tod von Franz Rosenzweig bestimmend. Im Jahr 1933 mussten sie vor den Nazis in die USA fliehen. Dort bauten sie sich auf einer Farm in Vermont eine neue Existenz auf. Als Rosenstock nach dem Zweiten Weltkrieg auf Vortragsreisen in Deutschland weilte, traf er dort Freya von Moltke wieder, die Frau seines einstigen Schülers Helmut von Moltke. Freya, deren Mann die Nazis ermordet hatten, wurde von ihrer Liebe zu Eugen ergriffen. Unter veränderten Vorzeichen wiederholte sich für das Paar Rosenstock - Huessy so eine Liebeskonstellation, die es bereits einmal erfahren hatte.

    Ein Jahr nach dem Tod von Margrit Huessy (1959) zog Freya von Moltke auf die Farm nach Vermont, um an der Seite von Eugen zu leben. Über ihre Liebe breiteten die beiden einen Schutzmantel äußerster Diskretion. Noch als Eugen Rosenstock 1973 mit 85 Jahren starb, galt Freya in erster Linie als die Witwe von Helmut von Moltke. In der Öffentlichkeit hielt sie die Erinnerung an seine Widerstandsgruppe im Dritten Reich, den "Kreisauer Kreis" aufrecht. Erst das weltweite Echo, das ihr Tod 2010 auslöste, lüftete den Schleier ihrer Verbindung zu Rosenstock.

    Die "Lange Nacht" lässt die Zeugnisse, die Briefe und Schriften von Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock, Margrit Huessy und Freya von Moltke sprechen. Diese Dokumente offenbaren die existenziellen Bedingungen ihres Sprechens. Es gelang den Beteiligten einen Halt und Orientierung zu finden, weil sie sich ihre Ängste und Sorgen, ihr Begehren und ihre Scham eingestanden. Außerhalb der Norm der Erfahrung schufen sie sich eine Sprache der Menschlichkeit. Die Sprache lebte von den Anregungen und der Gegenwart des Anderen. Kein Gegenstand war ihr zu gering, um darüber zu streiten, kein Widerspruch zu groß, dass es nicht zur Versöhnung kommen konnte. Im Dialog und Gegenüber der Geschlechter stiftete ihnen die Sprache der Menschlichkeit eine gemeinsame Realität.

    Die dialogische Lehre von der Verwandlung, die Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock im freundschaftlichen Austausch entwickelten, macht sie zu wichtigen Stichwortgebern des 20. Jahrhunderts. Im Zeitalter von Facebook, Twitter und Smartphone können sie uns daran erinnern, worin die Bedingungen des Sprechens und der menschlichen Verständigung bestehen.



    Hinweise auf die Literatur, die für die Sendung verwendet wurde:

    Franz Rosenzweig, The Gritli-Letters / Die Gritli-Briefe, transkribiert von Ulrike von Moltke, und herausgegeben von Michael Gormann-Thelen und Elfriede Büchsel. Vollständige Edition in deutscher Sprache. Argo Books, Vermont 2003 (Internet-Ausgabe)

    Franz Rosenzweig, Die Gritli-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy. Herausgegeben von Inken Rühle und Reinhold Mayer. Bileam-Verlag, Tübingen 2002.

    Franz Rosenzweig, Briefe. Unter Mitwirkung von Ernst Simon ausgewählt und herausgegeben von Edith Rosenzweig. Schocken - Verlag, Berlin 1935.

    Franz Rosenzweig, Feldpostbriefe. Die Korrespondenz mit den Eltern (1914-1917). Herausgegeben von Wolfgang Herzfeld. Alber -Verlag Freiburg 2013.

    Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Suhrkamp -Verlag, Frankfurt/M. 1988.

    Franz Rosenzweig, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand. Herausgegeben und eingeleitet von Nahum Nathan Glatzer. Athenäum, Königstein/Ts. 1984.

    Nahum Nathan Glatzer, Franz Rosenzweig: His Life and Thought. Second revised edition. New York 1976.

    Eugen Rosenstock, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. 2 Bände. Lambert Schneider Verlag, Heidelberg, 1964.

    Eugen Rosenstock, Soziologie. 2 Bände. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1958.

    Eugen Rosenstock, Im Kreuz der Wirklichkeit. Herausgegeben von Michael Gormann - Thelen, Ruth Mautner und Lise van der Molen. Thalheimer Verlag, Mössingen 2009.

    Eugen Rosenstock, Ja und Nein. Autobiographische Fragmente. Lambert Schneider, Heidelberg 1968.

    Helmut James und Freya von Moltke, Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel. Herausgegeben von Helmut Caspar von Moltke und Ulrike von Moltke. C.H. Beck, München 2011.

    Frauke Geyken, Freya von Moltke. Ein Jahrhundertleben 1911-2010. C. H. Beck, München 2011.

    Die Tora. Nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn. Herausgegeben von Annette Böckler. Berlin 2001.