Mittwoch, 24. April 2024

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Und ewig sterben die Wälder

Die mitteleuropäischen Wälder werden sich in wenigen Jahren in eine Säuresteppe verwandeln. Das glaubten in den achtziger Jahren nicht nur Umweltpropheten, sondern auch viele anerkannte Wissenschaftler. Seitdem suchen sie nach den Ursachen für das große "Waldsterben". Um den Zustand der Wälder genau kennen zu lernen, begannen die Forstbehörden vor 20 Jahren den Zustand Tausende einzelne Bäume Jahr für Jahr systematisch zu erfassen.

Von Michael Lange | 04.01.2004
    Baum Nummer 23: Verlustprozent 10...

    Die ersten großen Wälder werden schon in den nächsten fünf Jahren sterben. Sie sind nicht mehr zu retten.
    Der Göttinger Forstwissenschaftler Bernhard Ullrich im Spiegel, 1983.

    Vergilbung 0, Fruktifikation 0 ...
    Einsehbarkeit 1, Kronenlänge 25...

    1983 erreichte in Deutschland die Diskussion um das Waldsterben ihren Höhepunkt.
    Wir stehen vor einem ökologischen Hiroshima.
    ...schrieb der Spiegel. Das Magazin prognostizierte:
    In fünf Jahren wird sich in Mitteleuropa eine Säuresteppe ausbreiten.
    Viele Experten schlugen Alarm.
    Wenn es so weitergeht, kann in zwanzig Jahren vom "deutschen Wald" keine Rede mehr sein.
    Fotomontagen und simulierte Fernsehbilder präsentierten der deutschen Öffentlichkeit eine waldlose Zukunft.

    Baum Nummer 24: Verlustprozent 10 ...

    Über allen Gipfeln ist Ruh,
    in allen Wipfeln spürest Du kaum einen Hauch,
    Die Vögelein schweigen im Walde.
    Warte nur, balde ruhest du auch.

    Johann Wolfgang von Goethe in Wanderers Nachtlied, 1780.

    Wissenschaftler und Forstleute wollten es genau wissen. Wie stand es wirklich um den deutschen Wald? Deshalb wurde im Sommer 1983 die erste Waldschadenserhebung durchgeführt. Mit der Ruhe im Wald war es fortan vorbei. Tausende Forstbeamte erhielten eine Spezialausbildung und stürmten in Dreiergruppen durch Laub- und Nadelwälder aller Altersklassen. Ihre Aufgabe war und ist es, bei zuvor bestimmten Einzelbäumen zu schätzen, wieviel Laub oder Nadeln diesen Bäumen zu einer voll augebildeten Baumkrone fehlten. Diese Differenz wird als Nadel- oder Blattverlust bezeichnet.

    Ein Abstimmungskurs in Trippstadt, Rheinland-Pfalz. Junge Forstwissenschaftler und Forstbeamte lernen das Schätzen.

    Jetzt frag ich rum. Genannt worden ist hier 55 Prozent Blattverlust bei der Buche. 45 Prozent Blattverlust? 40 oder 40 bis 50 Tendenz zu 55. Also wir bewegen uns bei den Aussagen der Teams zwischen 40 und 55 Prozent Blattverlust, und die Musterlösung, die jetzt von mir festgesetzt wird, ist 50 Prozent.

    Je stärker der Nadel- oder Blattverlust eines Baumes, um so höher die Schadstufe.

    Unter 10 Prozent Blattverlust: Schadstufe 0.

    Der Baum ist gesund.

    15 bis 25 Prozent Blattverlust: Schadstufe 1.

    Diese Schadstufe wird auch Warnstufe genannt. Denn es herrscht Uneinigkeit unter den Forstexperten, ob Bäume, die bis zu einem Viertel weniger Blätter oder Nadeln besitzen als ein "Idealbaum", als geschädigt eingestuft werden müssen oder nicht.

    26 bis 60 Prozent Blattverlust: Schadstufe 2.

    Das bedeutet: deutlich geschädigt. Auch ein Laie kann diese Bäume von gesunden Bäumen unterscheiden.
    Über 60 Prozent Blattverlust: Schadstufe 3.
    Diese Bäume sind ernsthaft bedroht. Im nächsten Jahr könnten sie nicht mehr austreiben und absterben.
    Abgestorben: Schadstufe 4.

    O-Ton 7 Abstimmungskurs 1:17:32 45´´
    Und dann bitte ich auch mal den Rudolf zu sagen, zu welchem Ergebnis er hier kommt. - 50 Prozent - 50 Prozent? - Gut. - Der Herr Kunz zieht eine Lippe - ... Ich muß sagen mit 50 Prozent das wäre mir auch etwas hart, auch unter diesen Bedingungen. Das heißt: Ich wäre hier eher mit 35 Prozent einverstanden. 40 würde ich auch noch für vertretbar halten.
    1983 legten verschiedene Bundesländer ihre Waldschadensberichte vor. Die Methodik mußte noch einmal abgestimmt und leicht verändert werden. 1984 fand dann die erste bundesweite Erhebung statt. Seitdem werden immer wieder die gleichen Bäume an den gleichen Standorten bewertet.

    Die ersten beiden Nadeljahrgänge, da waren wir uns relativ einig, beim dritten Jahrgang habe ich gesagt, und auch der Herr Kunz hat gesagt: Der ist nicht mehr vorhanden - also Stufe Null, während der Herr Birtel und der Herr Immetsberger gesagt haben: Ist in Resten noch vorhanden - Stufe drei - oder 1 bis 2? Das ist ja noch schlimmer...Gut gut ...

    Wer hat dich, du schöner Wald,
    Aufgebaut so hoch da droben?


    Joseph von Eichendorff in dem Lied "Der Jäger Abschied" von 1837.

    Lebe wohl, schirm dich Gott, du schöner Wald.
    Den besten Blick auf den Wald hat man von oben. Anfang der achtziger Jahre begann in großem Umfang auch die Waldbewertung aus der Luft - mit Hilfe von Flugzeugen und Satelliten. Professor Barbara Koch, Institut für Fernerkundung der Universität Freiburg.

    In einem längeren Wellenlängenbereich als ich das mit den Augen kann, kann ich Vegetation beobachten. Und in diesem längeren Wellenlängenbereich ist die Rückstrahlung der Vegetation sehr hoch, und deshalb kann ich sehr differenzierte Information über die Vegetation erfassen. Also Schäden kann ich besser in dem für uns nicht sichtbaren Wellenlängenbereich sehen als in dem für uns sichtbaren Wellenlängenbereich.
    Das zurückgestrahlte Infrarotlicht gibt objektive Auskunft über die Dichte der Vegetation und damit über die Belaubung der Bäume. Dargestellt werden die Ergebnisse auf bunten Falschfarbenbildern. Das von der Vegetation zurückgestrahlte infrarote Licht erschient hier rot. Ein gesunder Wald liefert also Bilder in lauter Rottönen.

    Wenn ich einen Wechsel habe von Rot hin zu Grün, dann ist es ein Zeichen dafür, dass die Vegetation krank, und wenn es ganz grün ist, tot ist.
    Mit einem dem Stereoskop - einer Lupe, die räumliche Bilder erzeugt - kann Barbara Koch auf den Falschfarben-Luftbildern sogar die Kronen einzelner Bäume bewerten.

    Hier können Sie gleich sagen: Was hat eine rote Farbe? Das sind die gesunden Bäume. Und was ist so grau, hier hellgrau dargestellt? Wenn sie ganz tot wären, wären sie grün. Das sind die geschädigten Bäume.

    Eichenleichen, Fichtenskelette, Stämme kreuz und quer durcheinander gestürzt wie Mikadostäbe. Die Rinden geplatzt, Bast quillt, Harztropfen kriechen. Totes Gehölz, Geäst, Gezweig, Gestrüpp.

    Bartholomäus Grill, 1990 in der Wochenzeitung "Die Zeit".

    Die Schadstufen lassen sich aus der Luft ebenso gut erkennen, wie vom Boden aus. Es gibt sogar zwei entscheidende Vorteile: Die Baumkronen sind von oben besser einsehbar, und es gibt weniger Interpretationsspielraum. Der wird vor allem beim internationalen Vergleich deutlich. Die deutschen und die skandinavischen Forstleute gelten als strenge Bewerter, während die Franzosen und die Polen die gleichen Schäden meist niedriger einschätzen. Dennoch entschied man sich Anfang der achtziger Jahre gegen die Luftbilder und für eine Erhebung vom Boden aus. Und nun muß diese Praxis fortgeführt werden, damit die Daten über längere Zeiträume vergleichbar bleiben.

    Es ist so, dass ja die Beamten eingesetzt worden sind, um die Waldschäden zu erfassen, und die sind in der Regel nicht für Luftbildinterpretation geschult. Ich kann mir vorstellen, dass man vor diesem logistischen Aufwand zurückgeschreckt ist, und weil man es eben nicht mit eigenem Personal in der Verwaltung hätte durchführen können.
    Immer im November oder Dezember ist es dann soweit. Der bundesweite Waldschadensbericht liegt vor. Seit Mitte der neunziger Jahre heißt er übrigens offiziell "Waldzustandsbericht". Früher traten die zuständigen Minister mit dem Bericht vor die Bundespressekonferenz, in den letzten Jahren meist die Staatssekretäre.

    Sie alle wissen, dass der Bericht über den Zustand des Waldes ein jährliches Ereignis ist, in das auch in gewisser Weise Routine Einzug gehalten hat, zumal die Nachrichten über den Zustand des Waldes sich in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert haben.
    Matthias Berninger, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Vorstellung des Waldzustandsberichts 2003. Dem 20. Bericht dieser Art.

    Ich komme heute allerdings mit sehr schlechten Nachrichten, da aus dem Bericht über den Zustand des Waldes hervorgeht, dass die Schädigung des Waldes enorm zugenommen hat in diesem Jahr, und dass wir inzwischen ein Schadensausmaß haben, zu dem man sagen kann: Wir sind fast wieder da, wo wir auf dem Tiefstand im Jahr 92 waren.

    Der Staatssekretär macht bei seiner Bewertung einen entscheidenden Fehler. Er betrachtet die Entwicklung des Waldzustands als kontinuierlichen Prozess. Wer sich jedoch die Daten genauer anschaut, findet bald etwas anderes. Die Schadensdaten der einzelnen Baumarten reagieren stark auf einzelne lokale oder auch großflächige Ereignisse wie Sturm- oder Forstschäden, Borkenkäferplagen und ganz besonders Trockenheit. Trockenperioden führten stets zu deutlichen Laub- oder Nadelverlusten: manchmal in mehreren Jahren hintereinander. Erstmals dokumentieren die Erhebungen in den achtziger Jahren, in den Zeiten des "Waldsterbens", eine solche Trockenzeit. Anfang der neunziger Jahre nach dem Trockenjahr 1992 gab es dann noch einmal deutliche Schäden, und jetzt wieder nach der extremen Trockenheit 2003. Berninger:

    Es ist so, dass die Trockenheit den Wäldern sehr stark zu zu schaffen macht, vor allem in der zweiten Hälfte dieses Jahres. Diese Trockenheit wird sich auch im nächsten Jahr erheblich auswirken. Besonders geschädigt in diesem Jahr sind die Eichen. Das hängt mit verschiedenen Witterungsereignissen zusammen: Einer sehr starken Kälteperiode im April und dann eben dem besonderen Wasserstress des zweiten Halbjahres.

    Weißt Du, was ein Wald ist?
    Ist ein Wald etwa nur zehntausend Klafter Holz?
    Oder ist er eine grüne Menschenfreude?

    Herr Puntila in "Herr Puntila und sein Knecht Matti" von Bertold Brecht, 1940.

    Was sich aus den Daten der Erhebungen lesen läßt, sind Reaktionen der Bäume auf Belastungen durch die Umwelt, nicht jedoch Symptome eines generellen "Waldsterbens". Nicht jeder Blatt- oder Nadelverlust zeigt an, dass ein Baum krank ist.

    Was macht ein Nadelbaum, wenn er zu wenig Wasser bekommt? Er läßt die Nadeln fallen. Das ist aber eine Überlebensstrategie. Wenn er wieder mehr Wasser bekommt, dann wachsen die Nadeln nach, dann kann er wieder weiter wachsen. Insofern würde ich das nicht unbedingt als ein Krankheitssymptom sehen. Und in den 70er Jahren hatten wir genau die Situation.
    Professor Heinrich Spiecker, Institut für Waldwachstum der Universität Freiburg.

    Deshalb darf es einen nicht wundern, wenn die Bäume in einem Jahr etwas mehr und im nächsten Jahr etwas weniger Nadeln haben. Das kann durch eine Trockenheit bewirkt sein, das kann aber auch durch Insektenfraß bewirkt sein. Das kann durch ein Frostereignis hervorgerufen sein. Mit anderen Worten: Das ist ein sehr unspezifisches Symptom, und sagt überhaupt nichts darüber aus, ob jetzt der saure Regen stärker oder weniger stark ist.
    Als Waldwachstumsforscher interessiert sich Heinrich Spiecker für das Höhen- und Dickenwachstum der Bäume. Die Wachstumsraten ermittelt er aus den Jahrringen. Gemeinsam mit Fachkollegen aus ganz Europa hat er nun die Wachstumsraten im letzten Jahrhundert verglichen. Das Ergebnis hat viele überrascht. Gerade in den Zeiten des "Waldsterbens" wuchsen die Bäume besonders gut.

    Das ist tatsächlich ein genereller Trend. Obwohl man da vorsichtig sein muß, bei einem generellen Trend gibt es natürlich auch Ausnahmen. Es gibt auch Bestände und einzelne Bäume, die im Wachstum nachgelassen haben, aber wenn man es global betrachtet, kann man sagen: In Mitteleuropa wachsen die Bäume heute schneller als früher.

    Herrlich hat´s die Forstpartie.
    Es wächst der Wald auch ohne sie.

    Volksweisheit aus dem 19. Jahrhundert.

    Die Luftschadstoffe und der saure Regen müßten eigentlich seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Wachstum der Bäume gebremst haben. Dennoch steigerte sich das Waldwachstum. Denn es gab gleichzeitig Umweltveränderungen, die das Wachstum der Bäume gefördert haben.

    Dazu zählt zum Beispiel der CO-2 Anstieg in der Luft. Und der CO-2 Anstieg kann tatsächlich das Wachstum beschleunigen. Dazu zählt aber auch die Veränderung der klimatischen Verhältnisse. Zum Beispiel: Wärmere Winter bedeuten längere Wachstumsperioden. Der Frühling beginnt früher, der Herbst kommt später. Die Bäume können länger wachsen und das bedeutet auch, dass sie mehr wachsen.
    Jetzt kommt noch hinzu, dass man früher häufig in den Wäldern die Streu von Nadeln und Blättern aufgerecht hat, und in der Landwirtschaft für Düngungszwecke verwendet hat. Diese Art der Nutzung ist vor etwa 50 Jahren eingestellt worden. Und das hat auch dazu geführt, dass sich die Nährstoffverhältnisse im Wald verbessert haben. Auch das ist ein plausibler Grund. Hinzukommt der zunehmende Stickstoffeintag durch Landwirtschaft und Verkehr, der dazu beiträgt, dass die Bäume besser mit Stickstoff versorgt werden. Und Stickstoff ist in der Vergangenheit ein chronisch limitierender Wachstumsfaktor gewesen. Auch das ist ein plausibler Faktor.
    Um die Bedeutung der einzelnen Faktoren abzuschätzen, haben die Wissenschaftler die europäischen Waldwachstumsdaten genauer analysiert. Spiecker weiter:

    Diese Analysen haben wir dann zusammengefaßt und kamen zu dem Ergebnis: dass der Stickstoffeintrag eine ganz zentrale Rolle in diesem Geschehen spielt. In diesem Zusammenhang können wir eine Aussage machen. Wenn man uns heute fragt: Welcher war wohl der wichtigste Faktor ? Dann würde ich den Stickstoff an erster Stelle nennen.
    Die Stickstoffeinträge aus Autoabgasen und landwirtschaftlichen Abgasen, haben das Ökosystem Wald verändert - genau wie die Versauerung der Waldböden. Das steht für Heinrich Spiecker fest. Mit einem "Waldsterben" habe dies alles jedoch nichts zu tun.

    Wie geht es dem Wald ? Ist er gesund oder krank? Da hat man natürlich vor 20 Jahren maßlos übertrieben. Aber das weiß man heute auch. Der Wald ist nun wirklich nicht gestorben. Es sind einzelne Bäume gestorben. Aber wenn Sie die Statistik betrachten: da sind viel mehr Bäume durch den Sturm umgeworfen worden oder durch den Schnee gebrochen worden, als zum Beispiel durch den sauren Regen abgestorben sind.
    Die Theorie vom sauren Regen als Waldkiller traf einfach die Bewußtseinslage vieler kritischer Zeitgenossen und Journalisten. Die Industriegesellschaft hatte demnach etwas Selbstzerstörerisches. Das Waldsterben war die "Rache der Natur" für das ungebremste Profitstreben des Menschen.
    Burkhard Müller-Ullrich in seinem Buch "Medienmärchen - Gesinnungstäter im Journalismus", erschienen 1996.
    Man hat in der damaligen Zeit die Progression der Waldschäden extrapoliert, hat sie also in die Zukunft fort geschrieben. Gott sei dank sind die düstersten Szenarien dieser Extrapolation nicht eingetreten. Das heißt: Man hat sich getäuscht.
    Professor Ernst Hildebrand, Institut für Bodenkunde und Waldernährung, Universität Freiburg.

    Ob Filter für Kraftwerke und Industrieanlagen und Katalysatoren für Kraftfahrzeuge den Wald gerettet haben, läßt sich im Nachhinein nicht sagen. Der Schwefelausstoß der Kraftwerke ist durch strenge Grenzwerte tatsächlich erheblich zurückgegangen. Der Stickoxidausstoß durch den Automobilverkehr hat sich aber nur geringfügig verändert, da heute mehr gefahren wird als vor 20 Jahren. Hildebrand:

    Im Prinzip ist die Schwefeldeposition oder die Deposition von Schwefelsäure heute sehr stark reduziert. Dennoch haben wir nach wie vor relativ hohe Säureeinträge, die aber nicht mehr auf das Konto des Schwefels gehen, sondern der Stickoxide, die letztenendes aus der Atmosphäre als Salpetersäure entfernt und in die Wälder eingetragen werden.
    Die Theorie, nach der saurer Regen die Wälder schädigt, gilt nach wie vor, sagt der Bodenkundler Ernst Hildebrand. Die Böden versauern und die Nährstoffe werden deshalb aus dem Waldboden gewaschen. Vor allem das Magnesium fehlt den Bäumen. Sie brauchen diesen Stoff zum Aufbau des grünen Blattfarbstoffs Chlorophyll. Die Versauerung der Waldböden ist nach wie vor eine Realität.

    Wir können sie weniger am Gesundheitszustand der Bäume messen, aber wir können sie messen zum Beispiel an der Wasserqualität. Da sehen wir ganz deutlich, dass die geochemischen Prozesse der Bodenversauerung, wie sie von den damaligen Vertretern der Versauerungshypothese postuliert wurden, auch tatsächlich eingetreten sind. Nur verfügen offensichtlich unsere Bäume über bessere Anpassungsmechanismen als wir gedacht haben.
    Es war immer so, dass wir aus bodenchemischer Sicht immer sagen mußten: Die Böden sind am Ende: Die haben praktisch keine Nährelementreserven mehr, aber die Bäume wachsen gut. Und es ist klar, dass dann irgendwann die Forstleute sagen: Was interessieren mich eure bodenchemischen Befunde. Ich guck auf die Bäume. Wir mußten einfach eine Erklärung finden: Woher nehmen die Bäume ihre Nährelemente.


    Eine mögliche Erklärung haben die Freiburger Bodenkundler kürzlich gemeinsam mit niederländischen Kollegen entdeckt. Wenn die Bäume nicht genug Nährstoffe im lockeren Waldboden finden, ernähren sie sich halt von Steinen.

    Die Bäume leben nicht vom Boden allein - also vom Feinboden. Sie sind offensichtlich auch in der Lage mit Hilfe symbiontisch vergesellschafteter Pilze, den so genannten Mykorrhiza-Pilzen, die Steine zu erschließen.
    Ohne die Pilze kämen die Bäume nicht an die Nährstoffe in den Steinen heran. Aber die winzigen Pilze sind regelrechte "Felsenfresser". Sie dringen in kleinste Risse und Fisuren vor und lösen die Nährsalze aus dem Gestein.

    In diesen Fisuren und Rissen finden wir so genannte Hyphen. Das sind hauchdünne Pilzfäden, die dünner sind als das menschliche Haar. Und diese Hyphen können Nährelemente direkt aus den Steinen aufnehmen.

    Im Waldboden findet ein unterirdischer Tauschhandel statt. Die Pilze erhalten von Bäumen organische Verbindungen, die diese mittels Photosynthese in ihren Blättern herstellen. Sie zahlen dafür mit Nährsalzen, die sie aus den Steinen lösen.

    Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten, ob das schon immer so war, oder ob das eine Anpassungsreaktion des Waldökosystems an die extrem nährlelementarmen Bedingungen im Feinboden ist.
    Zu Zeiten der Waldsterbensdebatte war dieser Zusammenhang noch unbekannt.

    Viel Holz, viel Ahnungslosigkeit, viel Liebe - das ist es, was im deutschen Wald wächst und west.
    Horst Stern, 1979, in dem Buch "Rettet den Wald"

    Davon, dass das Leiden der Wälder Anfang der achtziger Jahre zum öffentlichen und auch zum politischen Thema wurde, profitierte auch die Wissenschaft. Plötzlich gab es reichlich Forschungsgelder für die lange vernachlässigten Baum- und Waldforscher.

    Die Waldforschung hat davon auf jeden Fall profitiert.
    Heinrich Spiecker, Waldwachstumsforscher.

    Obwohl ich sagen muss, dass die Waldforschung nicht immer effizient in die richtige Richtung geforscht hat, dass da manche Mittel, zumal da üppige Mittel flossen, nicht ganz effizient eingesetzt wurden. Insgesamt muß man sagen, weiß man heute von der Wissenschaft her viel mehr über den Wald.

    Professor Heinz Rennenberg, Institut für Baumphysiologie und Forstbotanik der Universität Freiburg betont jedoch:

    Es hat auf der einen Seite natürlich Dinge in Bewegung gesetzt. Auf der anderen Seite hat es aber auch ... weil die Diskussion in vielen Fällen sehr sehr unsachlich geführt wurde, ohne die entsprechende Basis zu haben, hat es geschadet.

    Wenn man damals die Frage der Waldschäden und des Waldsterbens etwas vorsichtiger analysiert hätte, wären wir heute wahrscheinlich auch weiter.

    Spiecker:

    Eigentlich hätten die Wissenschaftler, wenn sie sorgfältig genug geforscht hätten, das auch schon früher erkennen können, dass das nicht so einfach ist mit dem schnellen Absterben. Und da vielleicht auch aus einem gewissen Populismus heraus - ich möchte mich da vorsichtig ausdrücken - es ist halt schon verführerisch gewesen für die Waldforscher zur damaligen Zeit, in der Öffentlichkeit so Aufsehen erregen zu können. Möglicherweise war das damals auch ein Motiv, dass da einzelne Forscher sich etwas stark aus dem Fenster gelehnt haben. Ich meine: Das hat der Forstwissenschaft geschadet.

    Dem Wald aber hat die politische Debatte genutzt. Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft wurden in den achtziger Jahren konsequent auf den Weg gebracht - zum Teil gegen den erklärten Widerstand der Wirtschaft. Was mit dem Wald geschehen wäre, wenn die Abgasmenge weiter so schnell gestiegen wäre wie in den siebziger Jahren, kann niemand sagen.

    Heute sind die Wissenschaftler um Klarheit bemüht. Polemische Töne sind selten geworden.

    Wenn wir jetzt heute uns fragen: Haben wir Waldschäden? Ja oder Nein? Dann muß man heute etwas differenziert sagen: Es kommt darauf an, woran wir das messen.

    Ernst Hildebrand, Bodenkundler.

    Wenn wir es am Wachstum der Wälder messen, sicher nicht. Aber wenn wir es an Regelfunktionen messen, die zum Beispiel die Wasserqualität betreffen, dann müssen wir sagen: Wir haben Waldschäden. Denn Böden regeln das nicht mehr so, dass ein hochwertiges Rohwasser für die Trinkwasserversorgung aus bewaldeten Einzugsgebieten herauskommt.

    Die Wälder sind durch den Stickstoff-Dünger aus der Luft schneller gewachsen, aber sie leiden auch darunter. Ob sie dadurch bedroht sind, ist in der Fachwelt umstritten. Sie haben sich auf jeden Fall verändert, und sie werden sich weiter ändern. Aber sterben?

    Spiecker:
    Aus meiner Sicht kann ich nicht erkennen, dass der Wald in großem Umfang stirbt. Das habe ich auch zur damaligen Zeit gesagt. Nicht weil ich nicht wollte, dass man umweltbewußt lebt, wie man das heute tut. Mir ging es um das Ansehen der Wissenschaft. Und wenn man als Wissenschaftler erkennt: Da werden Dinge verbreitet, die so nicht haltbar sind, dann ich man gezwungen Stellung zu nehmen und zu sagen: Ich seh das anders.

    Hildebrand:
    Die Zeit des Waldsterbens ist in der Tat vorbei, die ist auch Gott sei Dank nicht in Sicht. Dennoch würde ich sagen: Haben wir den Patient Wald nach wie vor. Ich will es mal in einen Vergleich kleiden: Wenn wir es an der Ressource messen, dann ist der Wald gesund, wenn wir es an den Funktionen messen, dann ist er krank. Das ist genau so wie ein Mensch, der sich gesund fühlen kann, krank ist, oder zumindest einen Defekt hat, wenn er seinen Blutdruck mißt, und feststellt, der ist zu hoch. Dann wird der Arzt sagen: Du hast da einen gewissen Defekt, und da muß man was tun. Ich denke: In einer ähnlichen Situation sind wir mit unseren Wäldern: Gewisse Funktionen sind nicht so, wie sie sein sollten.
    Und auf diesen "Patienten Wald" kommen schwere Zeiten zu. Barbara Koch:

    Ich denke, die größte Gefahr für den Wald sind heutzutage die Klimaveränderungen. Da ist es ja auch nachgewiesen, dass wir einen Wechsel zum wärmeren und in gewissen Jahreszeiten auch zum trockeneren Klima haben. Das wird dazu führen, dass der Wald sich zumindest verändert, dass Baumarten, die heute sehr gut bei uns existieren können mit dem Klimawechsel Probleme haben, ihren Standort bei uns zu haben ... Aber ich denke, dass es auf jeden Fall zu einer Veränderung der Baumartenzusammensetzung führt.

    Die Tanne ist schon fast verschwunden. Andere Baumarten könnten folgen. Für die nächsten Jahre erwarten die Forstexperten - wieder einmal - erhebliche Belastungen für die Wälder. Spiecker:

    Das äußert sich in einem geringeren Zuwachs, einem geringeren Dickenwachstum, einem geringeren Astlängenwachstum. Es werden weniger Nadeln gebildet. Das Wurzelwerk wird geschwächt. Die Bäume sind also insgesamt geschwächt. Wenn jetzt noch ein weiterer Stress hinzukommt, zum Beispiel noch mal eine Trockenheit oder ein Insektenbefall, dann führt das dazu, dass Bäume auch tatsächlich absterben werden.

    Schon jetzt scheint sicher, dass die Blatt- und Nadelverluste im nächsten Jahr weiter ansteigen werden. Die Waldzustandserhebung 2004 wird das dokumentieren. Vielleicht fällt sogar wieder das Wort "Waldsterben".

    Da ist es wichtig, dass wir heute der Öffentlichkeit sagen: dem Wald wird es in den nächsten zwei Jahren schlecht gehen. Das hat aber wenig mit saurem Regen zu tun, sondern wir haben diesen trockenen Sommer 2003 gehabt.

    Zeit auch für die Politik, sich wieder verstärkt dem Wald zuzuwenden, meint der Staatssekretär. Matthias Berninger:

    Es geht dabei nicht um Panikmache oder zu einer Waldsterbensdebatte, wie sie in den achtziger Jahren war, zurückzukehren. Aber es geht eindeutig darum, dass der Öffentlichkeit deutlicher werden muß, dass der Wald, wenn die Öffentlichkeit und die Politik sich in Zukunft nicht besser, um ihn kümmern, in den nächsten Jahren vor erheblichen Problemen stehen wird. Dieses werden und können wir nicht zulassen...
    Der Wald steht still und schweiget
    Und aus den Wiesen steiget
    Der weiße Nebel wunderbar.

    Matthias Claudius, 1778.