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Und Keynes hatte doch recht

In Zeiten der Wirtschaftskrise erlebt das Werk John Maynard Keynes' ein regelrechtes Comeback. Der Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky erklärt, warum das so ist.

Von Stefan Fuchs | 13.05.2010
    Stefan Fuchs: Lord Skidelsky, während die größte Krise seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 in ihr drittes Jahr geht, erlebt das Werk eines Außenseiters der Wirtschaftstheorie ein spektakuläres Comeback. Die Thesen von John Maynard Keynes scheinen von der jüngsten Geschichte bestätigt, Grundprinzipien der sogenanntem "keynesianischen Revolution", - eine unaufhebbare Unsicherheit aller Vorhersagen im Wirtschaftsgeschehen und die Notwendigkeit politischer Steuerung der Märkte -, finden auch beim ökonomischen Mainstream wieder Anhänger. Sie sind ein intimer Kenner des Werkes von Keynes, wie hätte er denn, der Meister, wie Sie ihn genannt haben, die gegenwärtige Krise interpretiert?

    Robert Skidelsky: Keynes wäre vom Zusammenbruch nicht überrascht worden. Es war seine feste Überzeugung, dass ungesteuerte und deregulierte Märkte prinzipiell instabil sind, dass die Möglichkeit eines Kollapses permanent besteht. Keynes wäre deshalb über die Auswirkungen einer 30 Jahre andauernden Periode der Deregulierung des Finanzsystems nicht überrascht gewesen. Und es gibt tatsächlich viele Parallelen zur Krise von 1929. Deregulierung erlaubte die Entwicklung höchst komplizierter Finanzprodukte, mit denen sich die Volatilität in den Märkten extrem verstärkte. In der Realwirtschaft entstand durch eine völlig ungerechte Verteilung der Einkommen eine schwere Nachfragekrise. Der dritte Faktor war schließlich eine tiefreichende Funktionsstörung im internationalen Währungssystem. Vor allem in China wurden Ersparnisse aufgetürmt: Geld, das dem Wirtschaftskreislauf entzogen wurde, wodurch in den Volkswirtschaften des Westens ein noch größerer Ausfall der Nachfrage verursacht wurde. Vorübergehend konnte das durch eine gewaltige Ausdehnung der Kredite und Vervielfachung der Schulden kompensiert werden. Ich würde sagen, das gesamte Finanzsystem hatte sein Gleichgewicht verloren.

    Fuchs: Das ist ja etwas, das zunächst einmal paradox erscheinen muss, die Krise hat mit einem massiven Kreditausfall in den Vereinigten Staaten begonnen. Die Analyse, die Sie jetzt in der Tradition von Keynes vorlegen, geht davon aus, dass die eigentliche Ursache ein Nachfragerückgang aufgrund einer überdimensionalen Sparrate in Asien und im Mittleren Osten war, wie passt das zusammen?

    Skidelsky: In der keynesianischen Perspektive stellt eine hohe Sparrate nicht als solche ein Problem dar. Kritisch sind Ersparnisse, die nicht in Investitionen überführt werden: Sparen, das zum Horten von Devisenreserven dient, wie es vor allem von China betrieben wurde. Gleichzeitig gingen in den USA und anderen westlichen Ländern die Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft als Folge des Platzens der Dotcom-Blase von 2001 zurück. Man kann sich die Frage stellen, warum das nicht schon sehr viel schneller zum Zusammenbruch führte. Der Großinvestor George Soros hatte schon seit dem Ende der 90er-Jahre eine große Krise vorhergesagt, die durch dieses Ungleichgewicht verursacht werden würde. Es war die extreme Verbilligung des Geldes durch die US-Zentralbank, die den Zusammenbruch verzögerte.

    Sehr niedrige Leitzinsen bewirkten eine Verlängerung des Booms. Dieser fand aber gerade nicht in der Realwirtschaft, sondern nahezu ausschließlich im Aktien- und Immobilienmarkt statt. Die steil ansteigenden Immobilien- und Aktienpreise wiederum kurbelten in den USA einen Konsumrausch an. Aber das war ein ausschließlich auf Kredit basierender, alles andere als nachhaltiger Boom. Solange er andauerte, funktionierte Amerika als letzter übrig gebliebener Nachfragemotor der Weltwirtschaft. Aber dieser Konsum war nur eine weitere Blase, die sich aus dem Preisanstieg für einige wenige Vermögenswerte speiste. Die zugrunde liegende Kreditaufnahme billigen Geldes war nicht nachhaltig, weil nicht ausreichend reale Werte damit geschaffen wurden. Das Verhängnis nahm also seinen Lauf, und viele sind überzeugt, dass sich diese Krise sich schon seit zehn Jahren vorbereitet hat.

    Fuchs: Das bedeutet, dass Sie dieses berühmte "Chimerica", also diese seltsame Arbeitsteilung zwischen China und den Vereinigten Staaten, wo die einen produzieren und die anderen konsumieren, verantwortlich machen für diese Krise?

    Skidelsky: Es stimmt, dass die Chinesen den USA ein Problem durch dieses riesige Ungleichgewicht ihrer Zahlungsbilanz aufgehalst haben, verursacht durch die massive Unterbewertung der chinesischen Währung. Aber die Krise ist letztlich doch "made in America", weil sich in den USA dieses extreme Ungleichgewicht der Nachfrage zwischen Reichen und Armen entwickelt hat. Auch die Unfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft, für ausreichend Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft zu sorgen, gehört in diesen Zusammenhang. Die chinesischen Ersparnisse wären sonst ja in produktive Investitionen geflossen. Man kann sich die Frage stellen, ob die amerikanische Wirtschaft nicht bereits zu dieser Zeit in einem Niedergang begriffen war.

    Aber das wurde von der massiven Flutung des Geldmarkts durch die Zentralbank und dem dadurch ausgelösten Konsumrausch verdeckt. Hinzu kam ein Spekulationsrausch. So wurde der Immobilienboom mehr von steigenden Preisen für bestehende Immobilien getrieben, als dass neue Häuser gebaut worden wären. Es war nur ein Kreislauf billigen Geldes, der sich im Leeren drehte und die Preise immer weiter nach oben schob. Dabei entstand keine Basis für neue wirtschaftliche Aktivitäten. Wie schon 1929 war es eine Krise, die von den Vereinigten Staaten durch die besondere Funktionsweise des amerikanischen Finanz- und Wirtschaftssystems ausgelöst wurde.

    Fuchs: In der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie ist es sehr schwer zu erklären, wie es möglich ist, dass dieses billige Geld, das die amerikanische Zentralbank ausgegeben hat, nicht dazu geführt hat, dass das Investieren sich verstärkt hat. Ist das darauf zurückzuführen, dass diese Unsicherheit über die wirtschaftlichen Erwartungen potenzielle Investoren darin gehindert hat zu investieren?

    Skidelsky: Es gibt zwei Theorien über die Wirkungen des Geldes auf das Wirtschaftsgeschehen. Es gibt die österreichische Schule der Nationalökonomie, die in den 20er-Jahren sehr einflussreich war. Mit Blick auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 kritisierte deren bedeutendster Vertreter, Friedrich von Hayek, die Politik des billigen Geldes durch die amerikanische Zentralbank. Niedrige Zinsen führten nach seiner Auffassung zu einer Kreditschwemme, sodass die Investitionstätigkeit die Sparrate bei weitem übertraf. Dieses Ungleichgewicht zwischen Sparen und Investieren hätte zur Krise geführt. Also gerade nicht dadurch, dass zu viel auf die hohe Kante gelegt und nicht genug investiert wurde, sondern dadurch, dass zu wenig gespart wurde.

    Das ist auch die Interpretation der österreichischen Schule angesichts der gegenwärtigen Krise. Der ehemalige Zentralbankchef Alan Greenspan ist aus diesem Blickwinkel der Bösewicht. Seine Politik des niedrigen Leitzinses habe die Aktienblase aufgeblasen. Ich bin sicher, dass das falsch ist. Überzeugender ist Keynes' Theorie, dass es nicht genügend Möglichkeiten für Investitionen in der Realwirtschaft gab. Das lässt sich auch daran ablesen, dass beispielsweise die Unternehmen in den USA sehr stark gespart haben. Unternehmensgewinne wurden einfach nicht mehr ausgegeben. Stattdessen haben Unternehmen im Vorfeld der Krise ihre Liquidität signifikant erhöht. Es gab viele Aufkäufe, Fusionen und rein finanzielle Operationen, mit denen man Profit erzeugte, ohne dass die Volkswirtschaft irgendeinen Produktivitätsschub dadurch erhalten hätte. Eine sehr kleine Gruppe wurde dadurch sehr reich, während für die Mehrheit keine Verbesserung des Lebensstandards damit verbunden war. Und auch die geradezu exponentielle Entwicklung so vieler neuer Finanzprodukte hatte nichts mit dem Bedürfnis der Investoren nach neuen Instrumenten des Risikomanagements zu tun. Sie suchten zum Ausgleich sehr niedriger Zinsraten nach anderen Möglichkeiten, den Profit zu erhöhen. Diese Finanzprodukte wurden also direkt für die Spekulation entwickelt und dies auf der Basis einer eng begrenzten Gruppe von Anlagen. So entstand diese auf dem Kopf stehende Schuldenpyramide, die nur auf einigen wenigen Vermögenswerten beruhte, deren Preise ständig stiegen, deren Grundlage sich aber nicht verbreiterte. Als dann der Preisanstieg stoppte, setzte der allgemeine Kollaps ein.

    Fuchs: Sie haben gesagt, wir müssen uns zuerst einmal aus diesem Loch herausarbeiten, wir müssen die Krise erst einmal bewältigen, bevor wir mit Reformen beginnen können. Was wären aber die wichtigen Instrumente, die uns die keynesianische Theorie gibt, um mit dieser Krise fertig zu werden, im ersten Schritt kurzfristig und im zweiten Schritt auf lange Sicht mit notwendigen Reformen beginnen zu können?

    Skidelsky: Aus dem Abgrund erst einmal wieder herauszukommen ist wirklich sehr schwer und es wird Jahre dauern, bis wir auch nur annähernd so etwas wie eine Erholung erreichen können. Das haben wir in den vergangenen beiden Jahren bereits feststellen müssen. Auch die Weltwirtschaftskrise von 1929 wurde erst mit dem Zweiten Weltkrieg überwunden. Die einzige Ausnahme bildete Hitler-Deutschland. Aber das war nur möglich, weil das Regime enorme Mengen Geld ausgab, mehr als jede westliche Demokratie das je gekonnt hätte. Im Wesentlichen für Rüstung und Kriegsvorbereitungen, aber auch für Strukturmaßnahmen wie die Autobahnen. Zugleich wurde die Industrie sehr stark subventioniert. In Großbritannien, Frankreich und den USA gab es nichts Vergleichbares. Roosevelts "New Deal" hat nicht annähernd dieselbe Größenordnung. Die westlichen Demokratien erholten sich erst im Weltkrieg und durch den Weltkrieg, als die Regierungen bis zu 80 Prozent der nationalen Einkünfte für Kriegsanstrengungen ausgaben. Keynes' Theorie wurde also niemals in einer Demokratie unter Friedensbedingungen getestet. 1939 schrieb Keynes: 'Ich bezweifle, dass die westlichen Demokratien jemals in Friedenszeiten das Experiment wagen werden, das zum Beweis meiner Theorie nötig wäre.' Was heißt das für unsere gegenwärtige Lage? Wir können für Jahre nicht wirklich mit einer Erholung rechnen. Wir müssen mit hohen Staatsschulden und mit einer Reihe neuer Einbrüche leben. Das ist eine düstere Aussicht. Aber ich weiß nicht, wie wir da herauskommen sollten, wenn wir nicht etwas tun wollen, das für mich im Augenblick unvorstellbar ist, dass die Regierungen weitgehend die Kontrolle über die Wirtschaft übernehmen und die Ausgaben steuern. Was uns retten könnte - und Keynes glaubte daran - ist, was er ein "plötzliches Ereignis" nannte: Eine Entdeckung, eine Erfindung, neue Verfahrenstechniken, etwas, dass bei den Wirtschaftssubjekten so viel Begeisterung auszulösen vermöchte, dass sie die düstere Faktenlage vergäßen und im Überschwang extensiv zu investieren begännen.

    Selbst wenn diese Euphorie sich schließlich nicht als gerechtfertigt erweisen sollte, würde sie in der Zwischenzeit die Wirtschaft stimulieren. Ohne so ein Wunder aber sieht es düster aus. Radikale Neokeynesianer wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz kritisieren, dass selbst das große US-Stimulierungsprogramm viel zu klein ausgefallen sei, während die Tories in Großbritannien eher die Auffassung der deutschen Regierung teilen und eine Schuldenbremse einführen wollen. Die Auseinandersetzung um den Weg aus dem Abgrund ist nicht entschieden, von einer Diskussion über notwendige Reformen ganz zu schweigen. Es ist eben sehr viel einfacher, gar nicht erst in den Abgrund zu stürzen, als sich wieder daraus zu befreien.

    Fuchs: Was ist Ihre persönliche Auffassung in dem Zusammenhang? Ist die Deflationsgefahr durch ein frühes Sparen, ein zwanghaftes Ausgleichen der Haushalte, größer als die Gefahr, die durch eine Staatsverschuldung eintritt?

    Skidelsky: In Bezug auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist die Deflationsgefahr zweifellos das größere Übel. Aber die Märkte, die Finanzmärkte, die Märkte für Staatsobligationen sehen das anders. Tatsächlich muss man, will man Programme zur wirtschaftlichen Erholung im nennenswerten Umfang fahren, große Teile der Finanzmärkte einfach schließen. Man muss Kapitalflucht verhindern, Spekulation auf Währungen ausschließen. In dieser Hinsicht sind die 30er-Jahre in Deutschland interessant. Wenn man den Aspekt der Diktatur mal beiseite lässt, so war die Politik des Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schacht vor allem darauf gerichtet, den Einfluss der Finanzmärkte auszuschalten. Durch Devisenbeschränkungen und andere Regulierungen wurde ihr Spielraum so stark eingeschränkt, dass die Regierung ihre Ausgabenpolitik ohne Angst vor den Finanzmärkten umsetzen konnte. Nur so konnte der Aufschwung bewerkstelligt werden.

    Ich glaube nicht, dass irgendjemand diesen Weg noch einmal gehen möchte. Und auch ich selbst würde sehr zögern, mich darauf einzulassen. Aber die Alternative ist eine äußerst dürftige Erholung auf Jahre hinaus, minimale Wachstumsraten, die ständige Gefahr weiterer Zusammenbrüche und die Abhängigkeit von der Stimmung auf den Märkten. Wenn die Finanzmärkte die Regierungspolitik nicht akzeptieren, selbst wenn diese Politik der Realwirtschaft objektiv zugutekommt, werden sie eine Kehrtwende erzwingen. Sie müssen nur die Zinsen für Staatsverschreibungen erhöhen, Kapital abziehen oder Währungen unter Druck setzen. Die Eurozone erlebt das ja gerade.

    Fuchs: Die Eurokrise, die wir im Augenblick erleben, scheint eine Art Vorschau auf die Krise der Staatsverschuldung. Wie sehen Sie die Situation? Ist da unter den gegebenen Marktbedingungen etwas zu retten? Kann man den Euro vor einem Auseinanderbrechen noch retten?

    Skidelsky: Da gibt es eine ganze Reihe von Aspekten. Die erste Frage bezieht sich auf die Situation in Griechenland selbst. Wird diese Regierung oder irgendeine andere Regierung die drastischen Sparmaßnahmen durchsetzen können, mit denen auf den Finanzmärkten wieder Vertrauen geschaffen werden könnte? Ich glaube, ohne eine breite Koalition aller gesellschaftlichen Kräfte ist das unmöglich. Misslingt das, wird auch das milliardenschwere Hilfsprogramm der EU das Vertrauen ins griechische Finanzsystem nicht wieder herstellen. Damit würde Griechenland in die Insolvenz getrieben. Das ist für die Griechen übrigens nichts Neues. In den letzten 180 Jahren war das Land fast ebenso oft insolvent wie solvent. Was neu ist, sind die Auswirkungen auf seine Mitgliedschaft in der Eurozone. In der Vergangenheit war ein Staatsbankrott wie beispielsweise 1992 in Argentinien immer mit einer drastischen Abwertung der Landeswährung verbunden. Griechenland müsste dann die Eurozone verlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Insolvenz erklärt und den Euro behält. Aber das ist völlig unbekanntes Terrain. Ein zweiter Aspekt ist der Ansteckungseffekt, der Portugal und Spanien betrifft.

    Und auch hier beeindruckt mich als Wirtschaftshistoriker eine auffallende historische Parallele. Die Weltwirtschaftskrise begann 1929, aber die internationale Finanzkrise kam erst 1931, zwei Jahre später, als der Goldstandard zusammenbrach. Und auch jetzt hat es seit Ausbruch der Krise 2008 zwei Jahre gedauert, bis wir mit einer Krise des Währungssystems konfrontiert wurden. Sie könnte zu einer Zersplitterung der Eurozone führen. Wenn einige Länder zur Aufgabe des Euro gezwungen wären, gäbe es hier vielleicht eine Chance, den dann kleineren Wirtschaftsraum einer effektiveren gemeinsamen Wirtschaftspolitik zu unterwerfen. Was dann aber droht, ist jener Währungskrieg, der bereits die 30er-Jahre überschattete, bei dem sich die verschiedenen Währungen einen erbarmungslosen Unterbietungswettbewerb lieferten. Und wenn das Währungssystem zusammenbricht, wird auch die Versuchung des Protektionismus übermächtig. Ich würde den Zusammenbruch der Eurozone sehr bedauern, aber sie ist auf wackeligen Fundamenten aufgebaut. Bei ihrer ersten großen Krise zeigt sich, dass sie nicht über die notwendigen zentralen Steuerungsinstrumente zu ihrer Bewältigung verfügt.

    Fuchs: Sollten wir aber nicht auf diese Krise reagieren, indem wir eine Art von wirtschaftlicher "Governance" endlich für Europa einführen?

    Skidelsky: Erstens gibt es keinen politischen Willen dazu, wohl auch, weil man es bisher nicht für nötig erachtete. Zweitens würde eine gemeinschaftliche Wirtschafts- und Finanzpolitik eine sehr viel strengere Kontrolle nationaler Politiken in den Mitgliedsstaaten voraussetzen, als man das bisher akzeptieren wollte. Im Grunde setzt eine europäische Wirtschaftspolitik eine echte europäische Innenpolitik, eine staatliche Integration voraus. Das bedeutet, dass dann weit mehr als nur ein Prozent des Steueraufkommens dafür zur Verfügung stehen müsste. Man bräuchte fünf bis sechs Prozent, damit auch eine Umverteilung der Mittel in der keynesianischen Tradition möglich würde. Die Haushaltspolitik der Mitgliedsländer müsste einer strengeren politischen Kontrolle auf der europäischen Ebene unterworfen werden. Und diese europäischen wirtschaftspolitischen Institutionen müssten ihrerseits der demokratischen Kontrolle durch die europäischen Wähler unterworfen werden. Davon sind wir weit entfernt. Zwar wurde der Fortschritt der Integration in Europa meist durch Krisen vorangetrieben, aber im Augenblick sehe ich keine politische Bereitschaft dazu. Obwohl der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble zur Schaffung eines europäischen Währungsfonds aufgerufen hat. Was sicher ein guter Vorschlag ist. Aber er geht davon aus, dass die Kredite, die diese Institution vergeben könnte, an äußerst harte Bedingungen geknüpft sein müssten. Wäre ein Land nicht bereit, sie zu akzeptieren, müsste es auf irgendeine Weise aus der Eurozone verstoßen werden. Ich weiß nicht, ob das mehrheitsfähig ist. Sicher ist, dass weder die griechische noch die Mittelmeer-Krise wirklich hinter uns liegen.

    Fuchs: Gerechtigkeit ist vielleicht keine wirtschaftliche Kategorie, aber ist es nicht auch in Ihren Augen etwas Unglaubliches, dass die gleiche Finanzindustrie, die vor wenigen Monaten noch mit großen Rettungsaktionen aus ihrer Krise geholt werden musste, vor dem Zusammenbruch bewahrt werden musste, nun die Regierungen wie Griechenland, später vielleicht die anderen Mittelmeer-Staaten dazu zwingt, Zinsen von 10, 12, 15 Prozent für ihre Staatsverschuldungen zu bezahlen?

    Skidelsky: Moralisch ist das verwerflich. Aber es entspricht der Logik der Finanzmärkte. Wenn Märkte von etwas überzeugt sind, dann werden sie auf der Grundlage dieser Überzeugung auch handeln. Das bedeutet übrigens nicht, dass diese Überzeugung auf objektiven Tatsachen beruht. Die Finanzmärkte haben sich gründlich geirrt, was die Nachhaltigkeit des Immobilienbooms betrifft. Alan Greenspan hat davon gesprochen, dass die Märkte weltweit das Risiko als zu gering eingestuft hätten. Sie haben also aufs falsche Pferd gesetzt. Jetzt wetten sie wieder, und möglicherweise irren sie sich wieder, diesmal weil sie das Risiko absichtlich oder unabsichtlich viel zu hoch einschätzen. Private Rating-Agenturen haben stillschweigend hoheitliche Aufgaben übernommen. Das kann nicht gut gehen. Sobald man Finanzmärkten mit einer derartigen Macht ausstattet, endet man als ihr Erfüllungsgehilfe. Deswegen muss man die Finanzindustrie zurückstutzen. Sie hat eine dienende Rolle, ihre Funktion ist Vermittlung. Sie sollte Mittel für wirtschaftliche Entwicklung zur Verfügung stellen, nicht die Spekulanten mit Geld versorgen, damit die sich bereichern können. Das ist ein eklatanter Missbrauch finanzieller Macht. Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus eine Chance hat, wenn die Finanzmärkte ihre gegenwärtige Macht behalten. Wir müssen die Beweglichkeit des Kapitals sehr stark beschneiden, Kapitalbewegungen über die Grenzen müssen besteuert werden, manche finanzielle Transaktionen sollten ganz gestoppt werden, all diese neuen Finanzprodukte müssen strengstens reguliert werden, Banken sollten entweder ausschließlich als Geschäftsbanken oder als Investmentbanken zugelassen sein.

    Ich teile Ihre Empörung angesichts der Tatsache, dass man die Banken mit riesigen Staatshilfen retten musste, und sie jetzt die entstandenen Defizite nun dazu benutzen, die Regierungen zu erpressen. Die Banker haben jede Art Ethik, jede Besonnenheit hinter sich gelassen. Es ist etwas falsch gelaufen in einer Gesellschaft, in der die Finanzsphäre auf diese völlig amoralische Weise wuchern kann.

    Fuchs: Und das Symptom wäre diese Zweiteilung der Wirtschaft: einmal die Realwirtschaft, die durch ein Tal der Tränen noch geht und vielleicht noch schlimmere Zeiten zu erwarten hat und die Finanzindustrie, die schon wieder Gewinne ankündigen kann?

    Skidelsky: Diese Abkoppelung des Finanzsystems von der Realwirtschaft ist ein ernstes Symptom. Aufgabe der Finanzindustrie ist es, für ihre Einleger da zu sein, sicher zu stellen, dass deren Geld sicher angelegt ist und sie dafür angemessene Zinsen bekommen. Darüber hinaus sollte sie der Industrie dienen, sollte Ersparnisse in Investitionen überführen. Sie ist auf keinen Fall um ihrer selbst willen da! Wenn sie etwas anderes tut, missbraucht sie ihre Privilegien. Dieser Missbrauch wird verschleiert, wenn wir das System abstrakt beschreiben und sagen, dieser riesige globale Finanzmotor pumpe mit hoher Effizienz die Kapitalflüsse überall dorthin, wo sie zur Befruchtung der Wirtschaftsaktivitäten gebraucht werden. Tatsächlich ist dieser Motor überhaupt nicht effizient, sonst gäbe es diese unendliche Reihe von Finanzkrisen nicht.

    In ihnen geht alles in Rauch auf, was zuvor möglicherweise effizient gewesen sein mag. Wenn wir fünf Jahre lang nicht mehr die Wachstumsraten von vor der Krise erreichen können, bedeutet das enorme Verluste. Sie wurden durch das angeblich so effiziente Finanzsystem verursacht. Aus der keynesianischen Perspektive kann ich nur sagen, dass in den 50er und 60er Jahren, als das Finanzsystem sehr stark reguliert war, die Wachstumsraten mindestens ebenso hoch, wenn nicht höher ausfielen, wie in der heroischen Periode der großen Deregulierung. Zugleich aber gab es eine ungleich größere Stabilität. Schaut man sich das Zwillingsdefizit der USA an, wirken die griechischen Schulden wir die sprichwörtlichen "Peanuts". Die Ratingagenturen haben auch schon am britischen Defizit herumgemäkelt. Ist die Eurokrise vielleicht doch der Anfang einer großen Krise des Weltwährungssystems?

    Fuchs: Lassen Sie uns über den Machtkampf sprechen, der notwendig ist, über die politische Auseinandersetzung, die notwendig ist, um diese Reformen durchzusetzen. Sehen Sie irgendwo in Europa eine politische Kraft oder auch jenseits des Atlantiks in den Vereinigten Staaten, die bereit wäre, diesen Machtkampf mit der sehr starken Finanzindustrie aufzunehmen, um die Reformen durchzusetzen, über die wir gesprochen haben?

    Skidelsky: Ich habe nicht den Eindruck, dass die politischen Eliten überhaupt die Tragweite der Probleme verstanden haben, vor denen sie stehen. Seit dem Ende des Weltkriegs funktionierte Politik auf der Prämisse strikter Repräsentanz. Unmittelbare Äußerungen des Mehrheitswillens waren nicht vorgesehen. Es gab Demokratie, aber sie war im wesentlichen Politikmanagement durch die Eliten. Jahrzehntelang hat das ganz gut funktioniert. Diese Eliten waren sich einig und sie waren klug genug, Unzufriedenheit mit finanziellen Mitteln abzufedern, Kompromisse zu suchen. Die Nachkriegszeit war charakterisiert durch eine Ära der Sozialdemokratie. Sie wurde in den 70er-Jahren beendet, durch eine staatsfeindliche Ideologie ersetzt, die alles dem freien Spiel der Märkte überlassen wollte. Die Eliten gingen damit ein großes Risiko ein. Sie überließen es allein den Märkten, jene Dinge zu regeln, die Regierungen und Märkte zuvor gemeinsam geregelt hatten. Die Märkte würden sich perfekt automatisch regeln, Politik könnte sich auf gute Verwaltung beschränken.

    Die Zentralbanken müssten nur die Geldmengen steuern. Globalisierung würde die Eliten der Welt zu einer gemeinsamen Anstrengung befähigen. Und die Völker würden still halten, weil sie an dem von den Märkten erzeugten Reichtum teilhatten. Das war ein Vabanquespiel. Der Erfolg hing von der Fähigkeit der Märkte ab, diesen Wohlstand tatsächlich zu erzeugen. Mit der Krise ist offensichtlich, dass das gründlich schief gegangen ist. Jetzt steckt auch die Wirtschaftspolitik in einer schweren Krise. Die Rolle des Staates muss neu überdacht, neu kalibriert werden. Er muss als Regelungsinstanz rehabilitiert werden. Welche Rolle soll der Staat im Wirtschaftsgeschehen in den nächsten 15 Jahren spielen? Das ist eine Frage nicht nur an die Wirtschaftstheorie sondern auch an die politische Theorie. Ganz unterschiedliche Denkschulen müssten in diesem Feld zusammenarbeiten.