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"Und sie fliegt doch"
Die Hummel als Weltenretter

Von Florian Felix Weyh | 10.08.2015
    Der Junge trägt allerlei Getier in der Hosentasche herum, spießt Schmetterlinge auf lange Nadeln und probiert sich bei seinen toten Haustieren als Präparator aus, bis "eine Unmenge albtraumhaft deformierter Kreaturen" sein Zimmer bevölkert. Selbstredend wird er als Erwachsener nicht Programmierer oder Anwalt, sondern ein leicht verschrobenes Exemplare dessen, was man früher Naturforscher nannte. Dave Goulson heißt er – und er tötet, was er liebt:
    "Ich wollte einmal auf möglichst schonende Art eine Kolonie türkischer Erdhummeln entsorgen und beschloss deshalb, sie einzufrieren. Also legte ich das ganze Nest zu Hause bei -30 °C in den Gefrierschrank. Als ich am nächsten Tag nachsah, war die Kolonie quicklebendig und brummte laut; die Arbeiterinnen hatten sich in einem dichten Klumpen über die Brut verteilt und zitterten vermutlich mit maximaler Leistung. Die Königin saß in der Mitte versteckt und schien völlig unbeeindruckt."
    Dieses schockierende Geständnis eines versuchten Hummelvölkermords muss gleich zu Beginn annonciert werden, um dem Eindruck entgegenzutreten, der Biologe Goulson unterhalte ein bloß sentimentales Verhältnis zu jenen Tierchen, mit denen er sich sein ganzes Leben lang schon beschäftigt – ach was: die er innig verehrt! Doch sollten ökologische Gründe die Auswilderung nichtheimischer Zuchthummeln verbieten, dann lässt er sie eben auch schon mal in der Tiefkühltruhe verschwinden. Nur dass die Hummeln in diesem Fall der Gefrierattacke zu widerstehen vermögen, weil sie die eigene Körpertemperatur durch Muskelbewegung beeinflussen können. Der Preis für diese Fähigkeit, so erfahren wir bei Goulson, ist freilich generell hoch: Hummeln sind nicht gerade Energiesparwunder der Natur. Sie müssen fressen, fressen, fressen, sonst plumpsen sie auch unter normalen Klimabedingungen von der nächsten Blüte:
    "Eine Hummel mit vollem Magen befindet sich nur etwa 40 Minuten vom Hungertod entfernt."
    Deswegen ist ein hummelfreundlicher Garten mit vielen nektarreichen Blüten unbedingt empfehlenswert. Warum wir den hübschen Sympathieträgern der Insektenwelt gärtnerisch ein wenig entgegenkommen sollten, obwohl ihre Nutzlosigkeit doch auf der Hand liegt – wo bitte steht im Supermarkt das Glas mit dem Hummelhonig? Das lässt sich in einen plakativen Satz fassen:
    "Sex war für Pflanzen schon immer problematisch, weil sie festgewachsen sind."
    Hummeln sind unverzichtbare "Sexassistentinnen für Pflanzen", die sich sonst nicht vermehren könnten. Und ohne Fortpflanzung bringen sie auch nicht jene schmackhaften Früchte hervor, die wir jährlich zu Milliarden Tonnen genüsslich vertilgen, Tomaten zum Beispiel. In Gewächshäusern muss man sie mit vibrierenden Stäben von Hand bestäuben, so man nicht Hummelvölker darin ansiedelt, die diese Arbeit schneller und besser als der Mensch erledigen.
    Ein hummelloser Kontinent wie Australien hat da das Nachsehen. Doch weil man beim Nachbarn Neuseeland gesehen hat, wie eingeführte europäische Hummeln dort die heimische Pflanzenökologie veränderten, gilt Down Under ein striktes Hummelimportverbot – am falschen Ort kann selbst ein harmloses Insekt zum Bösewicht werden.
    Das alles klingt jetzt nach einem konventionellen Ökologieaufklärungsbuch, womöglich mit erhobenem Zeigefinger. Doch Dave Goulson wäre kein Brite, schilderte er die Welt seiner Lieblingsinsekten nicht mit einer gehörigen Portion Ironie, zum Beispiel, wenn er ihre Ausdünstungen beschreibt. Die sind nicht unwichtig. Anders als Bienen-, Wespen- oder Hornissennester stechen Hummelkolonien nämlich keineswegs ins Auge – das tun, wörtlich genommen, Hummeln übrigens auch nicht, die ausgesprochen friedliche Zeitgenossen sind –, man muss die Nester mühsam aufspüren. So unsichtbar sie aber in Erdhöhlen hineingebaut sind, so charakteristisch riechen sie:
    "Jemand hat diesen Geruch einmal mit dem eines Weihnachtskuchens verglichen, aber falls das stimmt, würde ich diesen Kuchen lieber nicht essen wollen. Man kann einen ganz ähnlichen Geruch herstellen, indem man ein paar verschwitzte Laufsocken mit schwarzem Rübensirup und Sherry tränkt, sie dann luftdicht in einer Tupperschüssel aufbewahrt und das Ganze einen Monat lang an einem warmen Ort stehenlässt. Ausprobiert habe ich es allerdings noch nicht."
    Also ließ Goulson mehrfach Hummelspürhunde ausbilden. Richtig vermutet: beim Zoll, der sonst Drogenhunde abrichtet. Doch das Ergebnis blieb hinter den Erwartungen zurück. Im Training waren die Hunde exzellent, in der freien Natur Versager. Warum, das bleibt ein Forschungsdesiderat. Dagegen orientieren sich die kleinen Insekten ihrerseits mit Duftmarken ziemlich perfekt im Raum. Sie wissen – kein Witz – wegen der Stinkefüße von zuvor gelandeten Artgenossinnen, ob der Nektar einer Blüte schon ausgesaugt ist, ja noch präziser, wann es sich wieder lohnt, in die Blüte hineinzukriechen, weil der letzte Besuch lange genug zurückliegt. Ertragreiche Futterplätze steuern sie in kilometerweiter Entfernung an, ohne sich je zu verfliegen.
    "Es lässt einen demütig werden, wenn man darüber nachdenkt, dass Hummeln, obwohl ihr Hirn kleiner ist als ein Reiskorn, eine Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit besitzen, von der wir Säuger nur träumen können."
    Demütig müsste angesichts der Fabulierlust dieses Biologen auch so mancher Romanautor werden. "Und sie fliegt doch" ist ein absolutes Highlight erzählerischer Sachliteratur: lehrreich, unterhaltsam, spannend bis zur letzten Seite. Und mit Folgen fürs eigene Verhalten: Wer nach der Lektüre nicht unbändige Lust verspürt, Hummeln zumindest zu beobachten, wenn nicht gleich zum Hummelforscher und -retter zu werden, der besitzt wohl kaum Empathie. Und eine Naturwissenschaft, die solch talentierte Promoter in ihren Reihen zählt, braucht sich um den Nachwuchs keine Sorgen zu machen. Zumal der Hummelanismus von Dave Goulson grundsätzliche Züge trägt:
    "Wenn wir heute lernen, wie man eine Hummel rettet, können wir morgen vielleicht die Welt retten!"
    Buchinfos:
    Dave Goulson: "Und sie fliegt doch", eine kurze Geschichte der Hummel, aus dem Englischen von Sabine Hübner, Hanser Verlag, 320 Seiten, Preis: 19,90 Euro