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Under The Radar Festival
Theater gegen politische Verrohung

Das internationale New Yorker Under The Radar Festival am Public Theater zeigt in 21 Produktionen, dass Theater Medizin gegen die drohende Verarmung der politischen Kultur sein kann. Und das Publikum ist schon lange nicht mehr der reine Beobachter.

Von Andreas Robertz | 12.01.2017
    Ein roter Theatervorhang
    Ein roter Theatervorhang (picture alliance / dpa - Marcus Brandt)
    Eine Tochter erzählt die Geschichte ihres Vaters, einem im Japan der Stummfilmzeit berühmten Live-Kommentator. Er spielte bei Filmaufführungen Geräusche live ein und erzählte dabei nebenbei Geschichten und Neuigkeiten. Als der Tonfilm über Nacht den Stummfilm ablöst, verliert er seine Arbeit und wird zum Straßenverkäufer, der nun die Geschichten seiner Filme mit Hilfe von gemalten Tafeln erzählt.
    Die japanische Performerin Saori Tsukada und der amerikanische Violinist Tim Fain haben einen sehr melancholischen Abend namens "Club Diamond" geschaffen, der Saoris eigene Migrationsgeschichte mit der Geschichte ihres Vaters kombiniert. Neben der schönen Musik und den tollen Filmaufnahmen fehlt dem Abend allerdings ein stimmiger Schluss. So ist es mehr eine Liebeserklärung an den Stummfilm und den eigenen Vater geworden, als eine Reflektion über Migration oder der Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln.
    Spiel zwischen kollektiver Geborgenheit und gefährlicher Ausgrenzung
    Viele Theatermacher auf dem Festival hinterfragen die Rolle des Zuschauers, machen ihn selbst zum Subjekt des Geschehens. Zum Beispiel die New Yorker Theatertruppe "600 Highwaymen" in ihrer Produktion "The Fever". "Would you stand up?” "Would someone come and stand next to me?” "Would you turn me over?" Mit diesen oder ähnlichen Fragen fordern die Spieler ihr Publikum auf, ihnen zu helfen, die Ereignisse einer Geburtstagsfeier und des Morgens danach in einem Dorf zu rekonstruieren. Knapp 60 Zuschauer sitzen um eine quadratische Spielfläche herum, unter ihnen fünf Spieler der Truppe, die in den letzten Jahren durch ihre außergewöhnlichen Erzählkonzepte zu den Höhepunkten des Festivals gehörten.
    Eine schwangere Frau sieht aus einem Fenster und entdeckt etwas Fremdes auf der Straße. Nachbarn treten aus ihren Türen und ein eingespielter, langsam anschwellender Tinnitus-Ton wirkt wie eine wachsende Bedrohung. "Wäre es nicht schön, wenn es auf der Welt nur uns geben würde?", fragt eine Nachbarin. Dann liegt plötzlich jemand am Boden. Er wird hochgehoben und über den Köpfen aller weggetragen. "The Fever" ist ein manipulatives Spiel, das man zusammen spielt, und gleichzeitig eine Verschwörung zwischen kollektiver Geborgenheit und gefährlicher Ausgrenzung. Am Ende haben alle mitgemacht.
    Überlebensmechanismen junger schwarzer Männer
    In "The Bitter Game" erzählt der afroamerikanische Schauspieler und Aktivist Keith A. Wallace von den Realitäten und Überlebensmechanismen junger schwarzer Männer in Amerika. Basierend auf einer wahren Geschichte setzt er sein Publikum quasi auf den Beifahrersitz einer nächtlichen Fahrt des jungen Jamal auf dem Weg zu einer Party.
    "I know how to play the game, right? My mom told me the rules. Hands on the steering wheel, head up, eyes forward. Red light. Shit! Something don’t feel right. Breath! Fuck, I’m scared. Come down?! Nobody can see me now!"
    Der junge Mann kämpft mit Gefühlen wie Angst, Erniedrigung, Scham und Wut, als die Polizei ihn ohne Grund anhält. Sein klingelndes Handy verleitet ihn zu einer plötzlichen Bewegung, die Beamten stürzen sich auf ihn, misshandeln ihn brutal, als hätten sie nur nach einem Grund gesucht und erschießen ihn schließlich. Er wäre nicht angeschnallt gewesen und habe nach einer Waffe gegriffen, werden sie später vor Gericht behaupten. Die Videoaufzeichnungen einer nahen Kamera erzählen eine andere Geschichte.
    Dann verteilt der Schauspieler nun als trauernder Vater Kerzen an das Publikum, fordert es auf, die Namen der Opfer von Polizeigewalt zu wiederholen – ein mittlerweile täglich ausgeübtes Ritual der Black Lives Matter Bewegung in den Straßen der schwarzen Viertel Amerikas. Doch im Theater wirkt das Ritual unangenehm aufgesetzt und trotz seiner brennenden Aktualität fehlt dem Abend ein stimmiger dramaturgischer Bogen.
    Das Festival als Ort des Ringens um Tiefe
    Auffallend viele Produktionen auf dem diesjährigen Festival leben von einer guten Idee, wirken aber unfertig und nicht zu Ende gedacht. In der Flut der Konzepte ringt das postdramatische Theater um Tiefe und Bedeutung. Doch das Festival beweist sich als ein guter Ort für dieses Ringen. Viele der Aufführungen sind ausverkauft und das Nebeneinander von politischen, konzeptuellen, dokumentarischen und musikalischen Produktionen scheint den Geschmack besonders vieler junger Zuschauer zu treffen. Und vielleicht ist Theater ja doch die beste Medizin gegen die drohende Verarmung der politischen Kultur dieser Tage.