Freitag, 19. April 2024

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Undercover im Wiener Elend
Vor 150 Jahren wurde der Journalist Max Winter geboren

Max Winter war wohl der erste deutschsprachige Journalist, der undercover arbeitete, um seine Reportagen zu schreiben. Mehr als 1.500 Texte schrieb er, schlief in Obdachlosenheimen, ging in Asyle und stieg in die Kanalisation hinab. Der Wiener Obrigkeit war seine Arbeit immer ein Dorn im Auge.

Von Beatrix Novy | 09.01.2020
    Bettler bei der Ausspeisung vor der Jesuitenkirche in Wien. Photographie um 1900
    Bettler bei der Ausspeisung vor der Jesuitenkirche in Wien, um das Jahr 1900. Soziale Missstände waren das Recherchethema von Max Winter (picture alliance / dpa / Franz Xaver Setzer)
    "Der Schreibtisch-Mensch, der Mann der bürgerlichen Sphäre liest diese Schilderungen abenteuerlich tiefen und bösen Elends wie irgendeine ethnographische Studie, die von den unglaublichen Lebensgewohnheiten und Lebensbedingungen sehr ferner Völkerschaften erzählt."
    Nicht nur Alfred Polgar hatte kaum eine Ahnung davon, was es im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts alles zu sehen gab. Fremde Welten in selten betretenen Stadtvierteln, wo Frauen und Männer sich kalte Nächte in Wärmestuben um die Ohren schlugen und ausrechneten, wann sie sich wieder ein Bett im Obdachlosenasyl würden leisten können. Einen gab es, der immer mitrechnete: Der Reporter Max Winter.
    "Die sechs Wärmestuben des Wiener Wärmestuben- und Wohltätigkeitsvereins wurden in der Zeit vom 10. bis inklusive 16. Jänner von 29.202 Männern, 17.291 Frauen und 39.801 Kindern, zusammen von 86.294 Personen bei Tag besucht. Bei Nacht suchten in der genannten Zeit 4641 Männer, 259 Frauen und elf Kinder, zusammen 4911 Personen die Wärmestuben auf."
    Er selbst war wohlhabend
    Der durch Industrialisierung und schnelles Wachstum entstandene Wohnungsnotstand in der glanzvollen Hauptstadt der Monarchie war für Max Winter nur ein Thema unter vielen. Er selbst war das Kind wohlsituierter Eltern, geboren am 9. Januar 1870. Nach einer Kaufmannslehre und ein paar Semestern an der Wiener Universität ging der noch sehr junge Max dahin, wo er zweifellos hingehörte: zur Zeitung. Und weil sein Herz links schlug, landete er beim zentralen Agitationsblatt der österreichischen Arbeiterbewegung, der 1889 gegründeten Arbeiter-Zeitung, kurz AZ.
    Die führenden Köpfe der Zeitung waren, vorneweg der Mediziner, Publizist und Politiker Victor Adler, vielseitig gebildete Arbeitstiere, die Theorie und Realpolitik glänzend verbanden. Die AZ war keineswegs nur das Hausblatt der Sozialdemokratie, sondern - trotz ständiger Schikanen von oben - eine angesehene Tageszeitung. Hier konnte Max Winter sein Reporter-Gen ausleben, in einer Ausführlichkeit, von der Autoren heute nur träumen können.
    "Er hat für die Arbeiterzeitung im Lauf seiner Karriere mehr als 1.500 solcher Reportagen geschrieben," sagt der 2014 verstorbene Historiker Hannes Haas, der Max Winter wiederentdeckte. "Weil er einfach so sehr an die Kraft der Aufklärung geglaubt hat: In dem Moment, wo ich alles beweisen kann, bis ins letzte Detail, wo ich Zahlen, Namen, Fakten habe, müssen die für sich so einen starken Druck ausüben, dass das politische System oder wer immer darauf reagieren muss."
    Missstände finden konnte jeder, der Augen hatte. Wenn Max Winter sich zu den Strizzis im Prater gesellte, zu Lagerhausarbeitern, Fischereihelfern, Aushilfsstatisten, Rettungsdienstlern, lag das auch im damaligen Trend sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Aber Winter fügte seinen Reportagen in ihrer Mischung aus teilnehmender Beobachtung und nackten Zahlen eine neue subjektive Variante hinzu: "Ich hatte Elendsmaskerade angelegt und mochte ganz stilgerecht aussehen."
    Zuflucht in den USA
    Er ging undercover in Asyle, schuftete unter falschem Namen als Kulissenschieber im Burgtheater, ließ sich nächtens in die Arrestzelle bringen, stieg in die Kanäle mit den Allerärmsten, die dort nach Verkäuflichem suchten. Dass er nach einer Nacht im Obdachlosenheim wieder in sein läusefreies Bett zurück konnte, verhehlte er nie.
    Max Winter fuhr im Februar 1934 zu einer Vortragsreise in die USA - und kam nie mehr zurück. Denn kurz vor seiner Abreise endeten die immer schärferen Links-Rechts-Konflikte der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Republik Österreich in der Diktatur des Ständestaats.
    Im berühmten Roten Wien der 20er-Jahre war er selbst berühmt gewesen, hatte politische Funktionen übernommen, Bücher geschrieben, die höchst erfolgreiche Frauenzeitschrift "Die Unzufriedene" gegründet und die gesamtösterreichische Kinderfreunde-Bewegung ermöglicht. In den USA hingegen blieb er meist glücklos. Er starb 1937, seine Asche wurde nach Wien überführt. An seinem Grab sollen Hunderte, vielleicht sogar Tausende gestanden haben. Die Obrigkeit hätte das Begräbnis lieber geheim gehalten.