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Undurchsichtige Verhältnisse

Der türkische Regisseur Nurkan Erpul und Dramaturgen Jens Hillje sind bei der Ruhrtriennale keine Unbekannten. Ihr letztjähriges Stück "Verrücktes Blut" räumte so ziemlich alle Ehrungen und Auszeichnungen der Branche ab. Nun kehren sie mit Kafkas Romanfragment "Das Schloss" auf die Bühne der Jahrhunderthalle zurück.

Von Dina Netz | 24.09.2011
    Die Schauspieler sitzen an einem Tisch, halten Kafkas Roman in den Händen, und irgendwann fängt Katharina Matz an, den Anfang von "Das Schloss" zu lesen. Die anderen fallen ein, und einander ins Wort:

    ""Dann schlief er ein. Aber kurze Zeit darauf wurde er schon geweckt."

    Nach und nach kommen sie ins Spiel, zunächst in der klaren Dichotomie: Die Hauptfigur K. gegen die anderen. Die anderen Dorfbewohner sehnen sich wie K. nach einem Zugang zum mysteriösen Schloss, aber im Gegensatz zu K., wagen sie nicht mehr darauf zu hoffen. Sie verwenden ihre Energie lieber darauf, den Neuankömmling zu umkreisen, zu begaffen, ängstlich nach ihm zu haschen und aufzustehen, wenn er sich an ihren Tisch setzen will. Als der Anruf vom Schloss kommt, dass K. als Landvermesser anerkannt wird, stürzen sich alle begeistert auf ihn, herzen und - erdrücken ihn fast.

    Die große leere Bühne von Magda Willi ist kein Ort, an dem man heimisch werden kann: Nur zwei Tische stehen in der Turbinenhalle der Bochumer Jahrhunderthalle. Manchmal fahren Plexiglaswände herunter, die für kurze Zeit die Intimität von Zimmern andeuten. Doch selbst als K. später mit dem Schankmädchen Frieda im Bett liegt, starren die Dorfbewohner die beiden durch die Scheiben an. Jeder ist hier jedem ausgeliefert und K. ihnen allen. Sinnbildlich schneit es immer wieder punktuell von der Decke auf die gerade agierenden Personen.

    Dass Nurkan Erpulat, der bisher auf Theater mit Migrationsthematik abonniert war, mit "Das Schloss" eine Geschichte von Fremdheit erzählt, ist nicht überraschend. Aber zum Glück macht er sich die Sache nicht zu einfach: Den Darsteller des fremden K. hat er mit Moritz Grove besetzt, dagegen haben die Darsteller von Frieda und dem Gehilfen Jeremias keine deutschen Wurzeln. Tamer Arslan, der Jeremias mit breitem türkischem Akzent, Goldkettchen und Kapuzenpulli gibt, lässt Erpulat den Satz sagen:

    "Wir brauchen keine Gäste."

    Viele Lacher. Und Sesese Terziyan singt eine traurige türkische Weise über die Fremde:

    In einem berührenden Monolog schüttet Olga K. ihr Herz aus über den schrecklichen Abstieg ihrer bürgerlichen Familie, bloß weil Olgas Schwester einen Herrn aus dem Schloss verschmähte. Auch Olgas Rolle ist "fremd" besetzt, nämlich mit einem Mann, mit Thorsten Hierse. Der spielt auch den Gehilfen Artur, wie fast alle Schauspieler zwischen mehreren Rollen wechseln. Manchmal genügt dafür, eine Weste gegen einen Schal zu tauschen.

    Eigentlich sind alle fremd, sich selbst und einander, will Erpulat wohl sagen, weil sie alle am Tropf der unsichtbaren Macht hängen und sich gegenseitig ausspielen, um deren Gunst zu erlangen. Vertreter des Schlosses tauchen in Bochum nur ganz selten auf. Herr Oswald zum Beispiel klingt wie ein Zombie aus einem Horrorfilm:

    "Hier Oswald, wer dort? Es wäre mir sehr lieb, wenn dortseits nicht so viel telefoniert würde. Erst vor einem kurzen Augenblick ist telefoniert worden. Wer dort? - Hier der Gehilfe des Landvermessers. - Welcher Gehilfe, welcher Herr, welcher Landvermesser?"

    Einen Text zu dramatisieren, in dem tagelang nichts passiert, ist natürlich ein Kunststück. Zwischendurch hängt der Abend auch ein wenig durch, wenn Erpulat allzu respektvoll dem Ablauf von Kafkas Buch folgt. Aber insgesamt haben Jens Hillje und er eine schlüssige Spielfassung des Romans erstellt, die von den Schauspielern mit viel Präsenz interpretiert wird.

    Katharina Matz spielt eine undurchsichtige Wirtin, Thomas Schumacher einen herrischen Lehrer und unterwürfigen Boten Barnabas, Thorsten Hierse im schwarzen Kleid macht seine Olga überhaupt nicht lächerlich, sondern verleiht ihr Würde. Und Moritz Grove zeigt mit sehr subtilen Signalen, wie K.s anfängliche Selbstsicherheit bröckelt: Der Blick wird immer leerer, die Haare immer wirrer.

    Nurkan Erpulats Interpretation reduziert "Das Schloss" aber nicht auf den Aspekt der Fremdheit. Man denkt zum Beispiel auch an Griechenland, wenn die wehrlosen Dorfbewohner von einem entfremdeten Apparat schikaniert werden – ohne dass die Regie diesen Bezug direkt nahelegen würde. Und der Spielort entfaltet seine ganz eigene Wirkung, die ehemalige Industriekathedrale, die wie die Figuren auf bessere Zeiten hofft. In Bochum zumindest ist die Hoffnung die Kunst.