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Ungewöhnlich und mutig

Eine ganz normale Familie? Im Prinzip ja – nur dass die Geschwister Cora und Fred als zweieiige Zwillinge ihre Rivalitäten mit besonderer Schärfe austragen. Wenn es also um Haustiere geht, dann nicht um einen Hamster, einen Hund oder ein Kaninchen, sondern immer ums Doppelpack.

Von Florian Felix Weyh | 15.05.2010
    "Bloß keine Haustiere", sagte Mama.
    "Wieso?", fragte Papa. "Reptilien machen doch in der Regel kaum Dreck. Also, ich kannte mal einen, der hatte zwei Schlangen ..."
    "Nicht schon wieder diese Schlangengeschichte", unterbrach ihn Mama.
    "Chamäleons sind sehr bescheidene Tiere", sagte Fred. "Sie sind auch sehr still. Oder hast du schon mal ein Chamäleon zwitschern hören, Mama?"
    "Nein. Natürlich nicht."
    "Sie nagen auch keine Kabel an wie Kaninchen."
    "Gewiss nicht."
    "Sie fressen lästige Insekten."
    "Das ist mit Sicherheit eine gute Eigenschaft", bestätigte Mama.
    "Sie sind also ideale Haustiere", schloss Fred.
    "Nein."
    "Warum nicht?"
    "Du kennst meine Ansicht. Ich muss einen Mann und zwei Kinder versorgen und brauche kein Chamäleon."
    "Das stimmt doch gar nicht. Nicht du versorgst mich", sagte Papa, "sondern ich versorge dich."
    "Das ist ja wohl die Höhe!" Mama fuhr im Autositz auf und stieß fast mit dem Kopf an die Decke.
    (Seite 10-11)

    Eine ganz normale Familie? Im Prinzip ja – nur dass die Geschwister Cora und Fred als zweieiige Zwillinge ihre Rivalitäten mit besonderer Schärfe austragen. Wenn es also um Haustiere geht, dann nicht um einen Hamster, einen Hund oder ein Kaninchen, sondern immer ums Doppelpack. Und weil Zwillingseltern diesbezüglich leicht zu zermürben sind, ziehen statt eines exotischen Chamäleons zwei halbwegs mietwohnungskompatible Eidechsen ins Kinderzimmer ein: Aroc und Derf ... Cora und Fred rückwärts gelesen. Im Gegensatz zu den beiden menschlichen Zwillingen lassen sich die Reptilien allerdings überhaupt nicht auseinanderhalten. Das löst Verwicklungen aus, mit denen Martina Wildners Episodenroman für Kinder hochtourig beginnt. Eine Einstimmung nicht ohne Kalkül, denn die erfolgreiche Jugendbuchautorin setzt bei ihrem ersten Buch im Segment der acht- bis zehnjährigen Leser neben der Geschwindigkeit auch auf manch anderes unkonventionelle Mittel. Da wäre etwa die zwillingsgerechte Erzählstruktur: Mal spricht Cora, mal Fred, das Ganze farblich abgesetzt, was wiederum von den schwarzgrünen Illustrationen der auch grafisch versierten Autorin aufgenommen und weitergeführt wird – optisch ist das Buch schon mal ein Erlebnis. Inhaltlich allerdings auch. Denn zusätzlich zu seinem Witz, mit dem Eltern wie Kindern die zwar dauerstreitenden, dennoch unzertrennlichen Zwillinge ans Herz gelegt werden wird, stößt man im Text auf einige Überraschungen: Themen, die sich im eher heiteren Familienmilieu sonst nicht finden lassen.

    "Jetzt steht's drin", sagte sie und sah Papa besorgt an.
    "Was?"
    "Das mit dem Mann."
    "Was für ein Mann?", fragte Papa.
    "Da, lies selber."
    Mama reichte Papa die Zeitung.
    "Soso!", sagte Papa, nachdem er selber gelesen hatte, was da in der Zeitung stand.
    "Schlimm, oder? Ich mach mir wirklich Sorgen."
    "Na ja", sagte Papa und legte die Zeitung weg.
    "Jettes und Sebastians Mutter findet es auch schlimm."
    "Das ist eh klar", nuschelte Papa.
    "Warum tut die Polizei nichts?"
    "Was soll sie denn tun? Es ist ja noch nichts passiert."
    "Was soll denn noch passieren? Das reicht doch."
    "Was ist denn passiert?", fragte ich.
    "Nichts, nichts", sagte Mama schnell.
    "Nicht nichts", widersprach Papa. "Du musst den Kindern schon sagen, was los ist."
    (Seite 55)

    Das tut Martina Wildner, wenn sie wie hier das Thema Pädophilie aufgreift. Der auffällige Mann, der sich am Spielplatz herumtreibt, muss seine Zuschauerposition teuer bezahlen – eine von Fred angeführte Kinderhorde bewirft ihn mit Steinen. Dabei bleibt vollkommen offen, ob es sich wirklich um den in der Zeitung abgebildeten Sexualtäter handelt, oder ob Freds Aktionismus einen Unschuldigen trifft; die entgeisterte Reaktion der Mutter deutet auf Letzteres hin. Auch ein anderes, nicht auf Anhieb kindgerechtes Thema, findet en passant Eingang ins Buch: Es gibt nämlich weitere Zwillinge in der Schule, Viviane und Victoria, und die sehen sich auch klischeegemäß zum Verwechseln ähnlich.

    Irgendwie kam es zum Streit, und irgendwann sagte Viviane zu Cora: "Hähä, und du bist kein echter Zwilling."
    "Wieso nicht?", fragte Cora.
    "Weil du nicht echt bist", sagte Victoria.
    "Aber ich bin doch echt", antwortete Cora, zupfte an ihrem Pulli und streckte Victoria zum Beweis die Hand entgegen.
    "Nein, bist du nicht", sagte Viviane.
    "Ich bin genauso echt wie du."
    "Aber wir sind echt gezeugt", konterte Victoria.
    Was das hieß, verstand ich nur so halb. "Wie echt gezeugt?"
    "Na, wir sind echt gezeugt und ihr seid künstlich gezeugt", erklärte Viviane. "Unsere Mama sagt, alle zweieiigen Zwillinge seien künstlich gezeugt."
    (Seite 68-69)

    Auch hier bleibt die Wahrheit letztlich offen – sind Cora und Fred "künstliche" Menschen? –, doch geschickt verknüpft Martina Wildner die komplizierte Thematik mit Slapstick-Elementen, wenn Cora im Badezimmer nach den entscheidenden Tabletten sucht, mit denen man sich per Medikamenteneinnahme Zwillinge verschaffen kann. Wie in den meisten anderen Kapiteln liegt der Höhepunkt dabei im hinteren Drittel der Geschichte, nicht an deren Ende, und dieses Prinzip, häufig auf eine Schlusspointe zu verzichten, kann in Einzelfällen zu Enttäuschungen beim Leser führen. Wenn Fred mit der väterlichen Digitalkamera durch den Schlitz einer verschlossenen Streusandkiste ein Foto schießt und dabei einen toten Hund aufnimmt, erwartet man eine originelle Erklärung und kein Abdriften in einen anderen Erzählstrang – manchmal wirkt der Unwille der Autorin, dem Affen Zucker zu geben, doch zu streng artifiziell, zu deutlich an jugendlichen Lesern mit mehr Lektüreerfahrung orientiert. Auf Höhe ihrer erzählerischen Kraft ist Martina Wildner dann aber wieder im großartigen Kapitel einer Zwillingsmutprobe, bei der sich Cora zum Schwimmen in der Jungen-, Fred in der Mädchenumkleidekabine umziehen muss. Beide fühlen sich extrem unwohl dabei, aber das ist ja der Sinn von Mutproben. Die geschwisterliche Geschlechterdifferenz psychologisch feinfühlig auszuloten, zählt zu den großen Stärken der Autorin. Wer weiß: Vielleicht ist sie selbst ein zweieiiger Zwilling?


    Martina Wildner: "Cora und Fred". Ein Zwilling kommt selten allein. Bloomsbury, 134 Seiten, 12,90 Euro