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Ungleiche Brüder
Russen und Ukrainer - Vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Brüder, Freunde oder Feinde? - Das Verhältnis der beiden ostslawischen Völker zueinander bis hin zur Krim-Annexion und den aktuellen Kämpfen in der Ostukraine untersucht der Wiener Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler. Er präsentiert die Geschichte eines Wechselspiels gegenseitiger Verflechtungen aber auch Entflechtungen.

02.10.2017
    Bitter klingt der Befund von Andreas Kappeler, inzwischen emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien:
    "Als ich vor mehr als zwanzig Jahren begann, mich mit der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen zu beschäftigen, hatte ich einen bewaffneten Konflikt zwischen Russen und Ukrainern für äußerst unwahrscheinlich gehalten. Dagegen sprachen ihre sprachliche, religiöse und kulturelle Verwandtschaft, ihre wirtschaftliche und demographische Verflechtung und das weitgehend konfliktfreie Zusammenleben von Russen und Ukrainern im Alltag."
    Anlass genug für Kappeler, gerade jetzt zu versuchen Ursachenforschung zu betreiben, um die strittig diskutierten Reizthemen "Annexion der Krim" sowie "Krieg in der Ostukraine" einordnen und bewerten zu können. Und dabei ist ihm aufgefallen:
    "Zwar gab es seit 1992 immer wieder Probleme in den bilateralen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen und auf diskursiver Ebene. Der bewaffnete Konflikt lässt sich jedoch nicht aus den längerfristigen Voraussetzungen herleiten, sondern nur aus den Ereignissen seit Beginn der ukrainischen Revolution des Euro-Majdan vom Winter 2013/14. [...] Dennoch kann, so meine ich, eine Geschichte der russisch-ukrainischen Wechselbeziehungen zum Verständnis des aktuellen Konflikts beitragen. [...] Dazu gehört, dass viele den unabhängigen ukrainischen Staat nicht ernst nehmen, die Ukraine noch immer als Teil der russischen Nation wahrnehmen, den Ukrainern eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte absprechen. Damit übernimmt man unbesehen die russische Sichtweise, die seit zwei Jahrhunderten die Deutungshoheit hat."
    Mongolen und Polen - Asien und Europa
    Derlei Vorurteile zu widerlegen und eingefahrene Sichtweisen aufzubrechen, ist Kappeler mit seiner Methode der "histoire croisée" für Russland und die Ukraine überzeugend gelungen: Anschaulich verdeutlicht er die Verflechtungen von Ideen, die jeweiligen historischen Erzählungen, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken.
    Komplementär dazu analysiert er die diversen Prozesse von Entflechtung, von Distanzierung und Auseinanderentwicklung. Dabei schlägt er den Bogen von der "gemeinsamen Wiege der Kiewer Rus'" im Spätmittelalter über die sich im Lauf der Jahrhunderte trennenden Wege des so genannten "kleinen Bruders" Ukraine vom "großen Bruder" Russland. Er seziert diese parallelen wie divergierenden Prozesse unter der zuspitzenden Kapitelüberschrift "Mongolen und Polen - Asien und Europa".
    Den Ukrainern wie auch den Russen bescheinigt Kappeler, die Weltbühne als, so sein Begriff, "zwei verspätete Nationen" betreten zu haben. Und stellt dann angesichts der gegenwärtigen Konfrontation die Kernfrage: "Russland und die Ukraine - feindliche Brüder?" - wohlgemerkt eine Frage, keine Aussage. Kappelers Antwort, nur so viel sei an dieser Stelle verraten, nimmt dabei auch Europa in Anspruch.
    Lakonisch und entwaffnend merkt er an anderer Stelle an, mit welchen, oft verbissen vorgetragenen, geschichtspatriotischen Argumenten nicht wenige Russen, aber auch Ukrainer ihren jeweiligen Anspruch auf das nationale Erbe der Kiewer Rus behaupten.
    Russland und Ukraine - ungefestigte Nationen
    So würden
    "von beiden Seiten [...] nationale Kategorien zurück ins Mittelalter projiziert, als von Russen und Ukrainern noch keine Rede sein konnte. Die Frage, ob das erste politische Gemeinwesen der Ostslawen russisch oder ukrainisch war, ist also im Grunde müßig. Zwar liegt Kiew, der erste zentrale Fürstensitz der Rus’, in der heutigen Ukraine, doch befindet sich das zweite Zentrum Novgorod im heutigen Russland."
    Derlei im besten Sinne objektivierende Argumentationsstränge ziehen sich variantenreich und überzeugend durch Kappelers Arbeit. Konjunkturbedingte, geschichtspolitisch verbrämte Thesen oder Appelle wird man bei ihm vergeblich suchen. Umso nachvollziehbarer erscheint deshalb sein in die Tagesaktualität hinein strahlender Befund:
    "Russland wie die Ukraine sind junge, ungefestigte Nationen, die auf der Suche nach ihrer Identität sind. Diese Instabilität wirkt sich auf ihre innere Entwicklung ebenso wie auf die bilateralen Beziehungen aus. [...] Die russische Nation wurde als 'all-russische' oder 'dreieinige' Nation, die auch die Ukrainer und Weißrussen umfasste, imaginiert."
    "Dementsprechend wird die Ukraine heute zur 'russischen Welt' (russkij mir) gerechnet. Das inklusive Verhältnis zu den Ukrainern war und ist ein zentrales Element der russischen Nationsbildung. Die ukrainische Nation entstand umgekehrt in Abgrenzung von Russland - und von Polen. Die einzelnen Phasen der ukrainischen und der russischen Nationsbildung und Nationalbewegung verliefen in einem Wechsel von challenge and response."
    "Herausforderung und Reaktion" - für Kappeler bestimmen diese auf Gegensatz beruhenden Triebkräfte entscheidend die russisch-ukrainische Partner- wie Gegnerschaft.
    Kein russischer Hegemonie-Anspruch
    Wo es ihm erforderlich erscheint, bezieht Kappeler pointiert, doch stets begründet Stellung. Es reizt ihn erkennbar, vermeintliche Gewissheiten bei allen beteiligten Seiten nachdrücklich anzuzweifeln, so zum Beispiel bei jener "unsterblichen", kontrovers diskutierten Frage,
    "...ob der Westen durch seine Russlandpolitik den bewaffneten Konflikt mit verursachte. [...] Mit der Osterweiterung der NATO und der EU habe der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands missachtet. Diese Argumentation ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Russland nicht einfach mit der Sowjetunion gleichgesetzt werden kann und deshalb auch keinen begründeten Anspruch auf Hegemonie über den postsowjetischen Raum, oder gar ganz Osteuropa hatte. Manche der mittel- und osteuropäischen Staaten sahen sich von Russland bedroht. Sie waren es, von denen die Initiative für die Osterweiterung von NATO und EU ausging, und ihre Interessen wogen schwerer als die Rücksicht auf Russland. Dies gilt auch für die Ukraine. Wenn man auch zubilligt, dass der Westen im Umgang mit Russland nicht immer Fingerspitzengefühl walten ließ, so rechtfertigt dies nicht die bewaffnete Intervention Russlands in einem Nachbarstaat, der früher zur Sowjetunion gehörte."
    Auch wenn man über die galizischen Ukrainer in der österreichisch-ungarischen k.u.k-Monarchie und deren historischen Stellenwert für das gesamtukrainische Nationalbewusstsein gerne noch ein wenig mehr erfahren hätte, bleibt insgesamt eindeutig festzuhalten:
    Wer künftig rund um die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Kiew ideologiefrei und faktenbasiert mitreden möchte, der wird auf diese Arbeit von Andreas Kappeler nicht mehr verzichten können.
    Andreas Kappeler: "Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart"
    Verlag C. H. Beck, 267 Seiten, 16,95 Euro