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Ungleiche Weggefährten

Die beiden führenden Sozialdemokraten der Ära nach 1945 waren Weggefährten und zugleich Konkurrenten mit unterschiedlichen politischen Stilen. Der Journalist Gunter Hofmann zeigt in seinem kenntnisreichen Buch "Willy Brandt und Helmut Schmidt", wie die beiden Politiker im Selbstverständigungsprozess der Bundesrepublik eine Schlüsselrolle übernahmen.

Von Conrad Lay | 17.09.2012
    "Eine schwierige Freundschaft" so nennt Gunter Hofmann das Verhältnis zwischen Willy Brandt und Helmut Schmidt. In der Tat prägte sich über Jahrzehnte hin das Bild einer störanfälligen, labilen Beziehung ein, ja einer langjährigen Rivalität. Hofmann, Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit" zunächst in Bonn, später in Berlin, hat sich daran gemacht, die auf der Hand liegenden Unterschiede etwa im Führungsstil zu ergründen: Brandt galt als betont locker, Schmidt als betont straff. Brandt liebte vage Formulierungen, für Schmidt waren sie ein Graus. Als Kanzler neigte Brandt dazu, die Diskussionen im Kabinett uferlos treiben zu lassen, sein Wirtschaftsminister Schmidt mahnte wiederholt mehr "Führung" an. Der Autor bezieht diese Differenzen, die man zunächst als Unterschiede des Temperaments deuten könnte, auf die Lebensgeschichte der beiden. Gunter Hofmann:

    Gunter Hofmann kann überzeugend nachweisen, dass die Zerrissenheit der sozialdemokratischen Führung ihre Wurzeln in den unterschiedlichen Erfahrungen ihrer Exponenten hatte. Willy Brandt konnte sich problemlos auf Experimente einlassen, sein Leben war ein Experiment, Helmut Schmidt warnte vor Risiken

    "Brandt, der als Hamlet, als Melancholiker galt, sagt ja erstaunlicherweise durchgängig in seinen zahlreichen Erinnerungsbüchern, ich hab' Glück in meinem Leben gehabt. Also in diesen Augenblicken, wenn er zurückblickte, war er überhaupt kein Melancholiker, sondern einer, der sein Leben mit einer Grundzuversicht betrachtete. Während Helmut Schmidt so etwas ausstrahlte wie zwar Entschlossenheit, aber ich habe auch Pech gehabt. Seine Lebensgeschichte, er ist 1918 geboren und ist eben acht Jahre lang, sehr lange, Soldat in den Hitler-Jahren gewesen, seine Lebensgeschichte hat aus seiner Sicht verhindert, dass er früh den vollen Durchblick hatte wie Brandt, und er hat sich das beinahe verübelt und hat sich von daher entschlossen, oder geradezu gezwungen, sehr sicher aufzutreten, sehr ruhig, sehr stabilitätsorientiert."

    Gunter Hofmann kann überzeugend nachweisen, dass die Zerrissenheit der sozialdemokratischen Führung ihre Wurzeln in den unterschiedlichen Erfahrungen ihrer Exponenten hatte. Willy Brandt konnte sich problemlos auf Experimente einlassen, sein Leben war ein Experiment, Helmut Schmidt warnte vor Risiken, die man nicht überblicken könne. Brandt war der Mann der Anfänge, auf Kontinuitäten legte Schmidt besonderen Wert. Charakteristisch dafür ist die Art und Weise, wie die beiden Sozialdemokraten ihre Kanzlerschaften einleiteten. Willy Brandt rief 1969 zu einer großen Öffnung auf:

    "Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken."

    Als Schmidt 1974 Brandt ablöste, setzte er auf Kontinuität und Pragmatismus:

    "In einer Zeit weltweit wachsender Probleme konzentrieren wir uns in Realismus und Nüchternheit auf das Wesentliche, auf das, was jetzt notwendig ist, und lassen anderes beiseite. Kontinuität und Konzentration - das sind die Leitworte dieser Bundesregierung."

    Obwohl Brandt nur fünf Jahre früher als Schmidt geboren wurde, verliefen die Lebensgeschichten beider extrem unterschiedlich: Brandt wurde in die Arbeiterbewegung hineingeboren, war früh politisch aktiv, musste während des Nazi-Regimes nach Norwegen fliehen. Schmidt dagegen wurde als Kind von der Außenwelt abgeschirmt, durfte keine Zeitung lesen, wurde bei politischen Unterhaltungen aus dem Zimmer geschickt. Der eine wurde Exilant, der andere Soldat. Der eine repräsentierte nach 1945 die befreite Minderheit, der andere die besiegte Mehrheit. Noch in späteren Jahren gab Helmut Schmidt an, während der Nazi-Zeit nie Menschen mit einem gelben Stern gesehen zu haben. Da Gunter Hofmann die großen historischen Linien nicht aus den Augen verliert, erliegt er auch nicht dem oberflächlichen Eindruck, Brandt sei ein Zauderer gewesen. In entscheidenden, historischen Situationen - etwa 1969 - wusste Brandt sehr wohl, was er wollte. Schmidt zögerte angesichts einer knappen Mehrheit, eine sozialliberale Koalition einzugehen, denn die bringe nur jene Unklarheiten in die Politik, die er so hasste. Gunter Hofmann:

    "Ich möchte ja in meinem ganzen Buch diesen Klischees widersprechen. Ich würde so weit gehen zu sagen, von Brandt ist das natürlich sehr platte Klischee oder die Generalüberschrift über seine Kanzlerjahre die des Hamlet, des Zauderers, des Kunktators. Bei Schmidt ist die Generalüberschrift und das Klischee: der Bismarck, wenn auch unter demokratischen Verhältnissen. Ganz überspitzt gesagt, finde ich, muss man es geradezu umdrehen: Mir erscheint, wenn man die beiden unter der Lupe betrachtet, Schmidt hat sehr starke hamletsche Züge, und Brandt hat sehr starke bismarcksche."

    Zum Abschluss versucht Hofmann eine Art Synthese: Der Wehrmachtssoldat Schmidt und der Emigrant Brandt hätten letztlich "geradezu ideale Projektionsflächen für die Deutschen" geboten. Ihre beiden Kanzlerschaften seien als eine Art Einheit zu sehen:

    "Die Bundesrepublik hat aus meiner Sicht ein ungeheures Glück gehabt, dass diese Kanzlerschaften in dieser Reihenfolge stattgefunden haben, also zuerst kam der Emigrant, der Exilant, der ewige Dissident, wie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer einmal geschrieben hat, dann kam der Soldat. Wenn man sich nur mal vorstellt, die Reihenfolge wäre anders gewesen, und Schmidt wäre nach Kiesinger, nach dem Nazi-Mitläufer Kiesinger, Kanzler geworden, die Welt wäre ihr Misstrauen gegenüber den Deutschen nicht losgeworden."

    Hofmann führt aus: Beide Kanzler hätten erkannt, was sie nicht waren, und in dem jeweils anderen jene Stärken gesehen, die sie selbst nicht verkörperten. Anfangs von ihnen selbst kaum bemerkt, hätten sie im Selbstverständigungsprozess der Bundesrepublik eine Schlüsselrolle übernommen. Es sind solche klugen Sätze, die Hofmanns kenntnisreiches, stilistisch brillantes Buch für den Leser zu einem Genuss machen.

    Gunter Hofmann: Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft.
    C.H. Beck Verlag, 336 Seiten, 22,95 Euro, ISBN: 978-3-406-63977-7