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Ungleichheit
Stoppen des Umverteilungsreflexes

In seinem Buch "Ungleichheit. Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen" diskutiert Harry G. Frankfurt, warum Ungleichheit nicht in erster Linie ein moralisches Problem sei.

Von Sandra Pfister | 29.02.2016
    Es gibt viele gute Gründe, gegen Ungleichheit zu sein. In den vergangenen Jahren ist die Erkenntnis gereift, dass Gesellschaften, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich weit auseinandergeht, oft auch wirtschaftlich weniger prosperieren. Reichtum ist vielen vor allem dann ein Dorn im Auge, wenn er durch Erbe oder pures Glück akkumuliert wird, wenn also die Reichen für das viele Geld, was ihnen gehört, nichts tun mussten. Schließlich ist es für moderne Demokratien wichtig, das Prinzip der Meritokratie hochzuhalten. Insofern gibt es wenige Menschen, die Ungleichheit offensiv verteidigen.
    Anders als die Vermarktung dieses Bändchens suggeriert, gehört auch Frankfurt nicht dazu. Ihm geht es eher darum, den aus der Ungleichheitsdebatte häufig folgenden Umverteilungsreflex zu stoppen: Die Armen, darauf läuft seine Argumentation hinaus, haben nicht automatisch etwas davon, dass man die Reichen ärmer macht.
    "Aus moralischer Perspektive ist es nicht wichtig, dass jeder dasselbe hat. Was moralisch zählt, ist, dass jeder genug hat. Wenn jedermann genügend Geld hätte, würde es niemanden besonders interessieren, ob manche Leute mehr Geld hätten als andere."
    Klingt vielleicht zunächst plausibel, wird aber von der Tatsache widerlegt, dass die Menschheit so einfach nicht funktioniert und von dem kleinen Manko, dass der Kapitalismus tagtäglich daran arbeitet, diese These zu widerlegen. Wo Grundbedürfnisse befriedigt sind, schafft er ständig neue Begehrlichkeiten. Alles in allem aber hält sich die Provokation von Frankfurts These doch in Grenzen. Das Ärgerliche ist, dass der emeritierte Philosophie-Professor seine Erkenntnis auf den folgenden 98 Seiten nahezu ad ultimo wiederholt, ohne sie mit neuen Erkenntnissen anzureichern. Die Stoßrichtung mag 1987, als ein wesentlicher Teil dieses Essays in ganz ähnlicher Form zum ersten Mal erschienen ist, in einem wesentlich linkeren akademischen Mainstream provokativ und erfrischend gewesen sein.
    Heute aber fragt man sich, gegen welche lautstarken Rufe nach Enteignung der Reichen oder nach absoluter Lohngleichheit Frankfurt denn überhaupt anschreibt. Ernst zu nehmende Apologeten einer radikalen Umverteilung von oben nach unten gibt es nur noch ganz wenige. Insofern ist der schmale Band bei Weitem nicht die versprochene Provokation. Ärgerlich sind zudem die zahlreichen Redundanzen: Frankfurt hätte das alles mit halb so viel Worten sagen können.
    Einige zarte Denkanstöße zum Thema Gleichheit liefert der Autor aber doch. Als Argument dafür, dass mehr Geld auch die Reichen nicht glücklich macht, wird häufig das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens angeführt. Will heißen: Das vierte Schnitzel schmeckt bei Weitem nicht mehr so gut wie das erste. Woraus die Freunde der Gleichheit die Berechtigung zur Umverteilung ableiten, denn dadurch würde sich der Gesamtnutzen aller erhöhen. Frankfurt wirft zu Recht ein:
    "Es ist sehr gut möglich, dass Geld wegen seiner grenzenlosen Vielseitigkeit von dem Phänomen des unablässig sinkenden Grenznutzens ausgenommen ist."
    Bedenkenswert ist auch der Einwand des Autors, dass alle, die aus moralischen Gründen Güter gleich verteilen wollten, am Ende vielleicht moralisch zweifelhafte Folgen tragen müssten. Wenn Gleichverteilung alle so schlecht stelle, dass keiner überlebe, sei dies weitaus unmoralischer als eine Ungleichverteilung, die wenigstens einige überleben lasse.
    "In lebensbedrohlichen Mangelsituationen, in denen nicht genug vorhanden ist, um die Mindestbedürfnisse eines jeden zu befriedigen, kann es völlig ausgeschlossen sein, eine gleiche Verteilung zu wünschen."
    Die Quintessenz also bleibt: Was manche an Ungleichheit intuitiv anstößig fänden, sei nicht "dass einige der Beteiligten weniger Geld haben als andere. Sondern es ist der Umstand, dass die, die weniger haben, zu wenig haben."
    Politiker sollten sich mehr darum kümmern, echte Armut zu bekämpfen, statt gegen Ungleichheit anzugehen. Was sich so logisch anhört, blendet allerdings die Situation in unseren wohlhabenderen westlichen Gesellschaften aus; hierzulande geht es in den meisten Fällen um relative Armut und soziale Teilhabe, nicht darum, dass jemand verhungert. Wäre mit Blick auf ungleiche Lebenschancen eine moderate Umverteilung nicht doch angemessen?
    Frankfurt gibt an einem Punkt zu, dass er selbst Umverteilung befürwortet, um Ungleichheit abzumildern. Was würde er tun, und warum durchbricht er hier sein Konstrukt? Diese Antwort verweigert Frankfurt; er verharrt ausdrücklich bei der reinen Begriffsanalyse.
    Gerade dort, wo der Philosoph von der reinen Lehre in die politische Umsetzung hinabsteigen müsste, wäre es spannend geworden – aber auch komplizierter. Dieser gedanklichen Leistung wollten sich wohl weder Frankfurt noch sein Lektorat aussetzen.
    Buchinfos:
    Harry G. Frankfurt: "Ungleichheit. Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen", aus dem amerikanischen Englisch von Michael Adrian, Suhrkamp Verlag 2016, 107 Seiten