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Union und SPD
"Die Abgrenzungsversuche werden zunehmen"

Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann warnt mit Blick auf die Pläne von Innenminister de Maizière davor, weitreichende neue Sicherheitsgesetze ohne Abschätzung der Folgen zu beschließen. Dass die Union jetzt die Sicherheit und die SPD die Sozialpolitik in den Vordergrund rückten, habe angesichts der anstehenden Landtagswahlen eine "gewisse politische Handlungslogik", sagte Holtmann im DLF.

Everhard Holtmann im Gespräch mit Jasper Barenberg | 11.08.2016
    Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg.
    Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg. (imago / Steffen Schellhorn)
    Jasper Barenberg: Herr Holtmann, Politik soll und muss Sorgen aus der Bevölkerung aufgreifen, sie muss die Erwartungen der Bevölkerung berücksichtigen, darauf reagieren. Nach den Anschlägen erst in unseren Nachbarländern und dann nach einigen Taten auch in München, Würzburg und Ansbach: Ist es geradezu zwangsläufig, dass beim Thema Sicherheit jetzt die Schraube angezogen werden soll?
    Everhard Holtmann: Also, die Bundesbürger haben ja einen durchaus großenteils rationalen Blick, bei allen Bedenken und bei allen Sorgen, die sie bei dem Thema empfinden. Denn die jüngsten Umfragen zeigen auf der einen Seite, dass sehr wohl etwa 75 Prozent der Auffassung sind, dass auch Deutschland Teil, Territorialteil der Gefährdelage ist und dass man insofern auch fürchtet, dass es Anschläge geben könnte. Aber auf der anderen Seite sagen denselben Umfragen zufolge 55 Prozent der Bundesbürger, dass sie sich in Deutschland ausreichend geschützt fühlten. Und Letzteres kann man sicherlich auch so deuten, dass die Bevölkerung mehrheitlich hierzulande nicht einer, sagen wir mal, ungebremsten Ausweitung der Sicherheitsgesetze das Wort reden mag.
    Zwei Ebenen der Sicherheitspolitik
    Barenberg: Das heißt, wir sind nicht an einem Punkt, wo man sagen müsste, wir sind insgesamt da vielleicht etwas zu liberal gewesen angesichts der Gefahren, die ja durchaus bestehen, wie wir auch schon erlebt haben, wir sind da nicht zu tolerant gewesen im Umgang mit diesen Gefahren? Andere Länder sind da ja noch sehr viel strikter und strenger in ihren Sicherheitsbestimmungen, in ihrer Sicherheitspolitik als wir.
    Holtmann: Da muss man diese Frage, denke ich, auf zwei Ebenen sorgfältig ausloten. Auf der anderen Seite – und da wäre ich sicherlich als Politikwissenschaftler überfragt – ist die Polizei, sind die Sicherheitsbehörden dafür zuständig, die konkrete Sicherheitslage nach Lage ihrer Erkenntnisse entsprechend zu beurteilen und daraus der Politik die hoffentlich ja auch alternativen Handlungsmöglichkeiten zu signalisieren. Und das Zweite ist die gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Einschätzung dieser Situation. Und da gibt es ja nun bekanntermaßen auch durchaus unterschiedliche Optionen, die ja auch jeweils nicht einfach aus der Luft gegriffen sind, sondern sich ihrerseits auch rückkoppeln an entsprechende Einschätzungen.
    Barenberg: Und was wäre da Ihre Analyse, in welche Richtung geht das, was wir jetzt an umfangreichen Maßnahmenpaketen aus der Union da hören?
    Holtmann: Mit dem Vorbehalt, dass ich für diese einzelnen Punkte die Begründungslage jetzt nicht im Detail kenne, wird man doch davor warnen müssen, doch sehr weitreichende gesetzliche Maßnahmen ohne eine sorgfältige Folgenabschätzung ins Werk zu setzen. Ich denke beispielsweise an die angedachte Aufhebung der doppelten Staatsbürgerschaft. Das hat ja mindestens zwei Seiten. Die eine Seite – und da stehen wir ja auch durchaus in einer guten, sagen wir mal, so westlichen, liberalen Tradition, wie sie heute noch in den USA ja durchaus auch noch üblich ist –, die doppelte Staatsbürgerschaft ist ja auch als eine Art Türöffner gedacht, also eine Einladung für Menschen fremder Kulturen, auch mit anderen Qualifikationen, unser Land und unsere Gesellschaft entsprechend zu bereichern. Das darf man glaube ich dabei nicht ganz vergessen. Und wenn ich es recht sehe, ist es ja heute noch so in den USA, dass jemand, der in den USA geboren wird und auch eine ganz andere Herkunft vonseiten seiner Eltern hat, automatisch die amerikanische Staatsbürgerschaft erwirbt und diese auch behalten kann.
    Barenberg: Wenn wir mal das etwas größere Bild uns anschauen, da fällt ja auf, dass Politiker der Union jetzt verstärkt auf das Thema Sicherheit setzen, da Vorschläge machen, während man bei der SPD beobachten kann, dass sie sich da einen Tag nach dem anderen für eine weitere soziale Wohltat ausspricht, also, für Alleinerziehende haben wir es erlebt, für Arbeitnehmer in Teilzeit, in jüngster Zeit auch für Rentner. Ist das schon der Vorwahlkampf zu dem Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr?
    Holtmann: Man könnte natürlich sich wundern, dass etwa ein Jahr vor den nächsten Bundestagswahlen Wahlkampf schon eingeläutet wird. Aber man darf dabei erstens nicht vergessen, dass ja demnächst im September zwei nicht ganz unwichtige Landtagswahlen bevorstehen und dass im Mai nächsten Jahres die Wahl in Nordrhein-Westfalen ansteht, die ja gemeinhin als so eine Art vorgezogene Bundestagswahl oder als eine Art Test auf diese Wahl angesehen wird. Und zum anderen, es hat auch eine gewisse politische Handlungslogik, dass die Union das Thema Sicherheit und die SPD das Thema Sozialpolitik auch schon jetzt besonders in den Vordergrund rückt, denn da sind ja die Kompetenzfelder, in welchen sowohl jeweils der Union wie der SPD seitens der Bevölkerung traditionell die größten Problemlösungskompetenzen zugewiesen werden. Und alle Parteien sind im Grunde gut beraten, darauf zu achten, dass sie die Präferenzen und die Dringlichkeiten, die seitens ihrer Anhänger und derer, die man gewinnen will, hegen, dass sie die auch entsprechend berücksichtigen.
    Barenberg: Noch wünschen wir uns ja ein wenig, dass Union und SPD noch eine Weile zusammenarbeiten. Müssen wir uns trotzdem darauf einstellen, dass beide Parteien immer mehr eigene Wege gehen, dass es immer weniger Miteinander-Regieren gibt und immer mehr gegeneinander?
    Spannungen, aber keine Barriere sachpolitischer Lösungen
    Holtmann: Ich denke, dass im Grunde jede Koalition und eigentlich schon von Beginn an ja in sich den Parteienwettbewerb gleichermaßen eingekapselt hat. Und man wird auch davon ausgehen dürfen, dass die Spannungen und die gegenseitigen Abgrenzungsversuche in der nächsten Zeit sicherlich zunehmen werden. Aber ich sehe noch keine Anzeichen, dass daraus eine Art Barriere noch anstehender sachpolitischer Lösungen erwachsen könnte. Das geht ja auch gar nicht, weil beispielsweise in der Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik die Maßnahmen und die Dringlichkeit der Lösungen nicht oder zumindest nicht ausschließlich vom jeweiligen Kalkül, innenpolitischem Kalkül der Wahlkämpfer hierzulande abhängen.
    Barenberg: Sie haben eben als Beispiel dafür, wie leicht so eine Balance zwischen Integration auf der einen Seite und der Notwendigkeit und Repression, Strafverfolgung auf der anderen Seite möglicherweise aus den Fugen geraten kann, das Thema doppelte Staatsbürgerschaft genannt und noch mal betont, wie sehr das ein Türöffner in einer liberalen Gesellschaft für Integration sein kann. Wenn wir unser Gespräch gleich beendet haben, dann berichten wir über die vielen hunderttausend Migranten in Deutschland, die als Unternehmer inzwischen viele, viele Arbeitsplätze schaffen. Geht angesichts der Anschläge und der Gewalt, die wir da erleben, auch ein wenig aus dem Blick, welchen Beitrag Menschen mit ausländischen Wurzeln längst in unserer Gesellschaft und für unsere Gesellschaft leisten?
    Holtmann: Ja, eine solche Verengung des Blickfeldes ist unbedingt zu verhindern, denn es zeigt auf der einen Seite, dass ja auch die Integration entsprechend vorangekommen ist, was ja auch nicht ganz überraschend ist und was tröstlich ist, wenn wir daran denken, dass Millionen von Mitbürgerinnen mit Migrationshintergrund in der zweiten, dritten Generation schon hier leben. Und dieses Potenzial muss respektiert werden und es muss hier im Grunde genommen auch weiter ausgebaut werden. Wir haben auf der anderen Seite immer noch gerade bei jüngeren Menschen mit Migrationshintergrund einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Schulabbrechern. Da muss man ansetzen, denn Bildung ist im Grunde genommen der Königsweg nicht nur für die eigene Weiterqualifizierung, sondern auch, um den ja erwartbaren Fachkräftemangel in Deutschland entsprechend ein Stück weit zu minimieren. Das kann man auf der einen Seite sicherlich mit gezielter Zuwanderung tun, das muss man auf der anderen Seite aber sicherlich auch dadurch versuchen hinzubekommen, dass die hier vorhandenen Bildungsreserven auch und gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund entsprechend ausgeschöpft werden.
    Barenberg: Und daran mangelt es noch ein wenig, höre ich da?
    Holtmann: Daran mangelt es, daran mangelt es. Wobei es ja wie so vielfach auch eine Herausforderung für beide Seiten ist, denn es muss auch garantiert werden oder besser dafür Sorge getragen werden als bisher, dass die vielfältigen Angebote, die ja unser System und unsere Gesellschaft auch in der Richtung machen, entsprechend nachgefragt werden, dann entsprechend auch genutzt werden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.