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Universalsprache Musik

Neurowissenschaft.- Feldstudien in Nordkamerun belegen: Auch Ureinwohner ohne jeglichen Kontakt zur zivilisierten Welt erkennen die Emotionen, die westliche Musik hervorruft.

Von Michael Gessat | 18.08.2009
    Ethnologen haben es schwer. Es gibt kaum noch Menschen auf der Erde, die nicht bereits Bekanntschaft mit modernen Errungenschaften wie Cola, Plastiktüten oder Popmusik gemacht haben. Thomas Fritz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig musste also schon sehr genau recherchieren und anschließend weit reisen, um noch geeignete Versuchsteilnehmer auftreiben zu können:

    "Bislang wurden nur Leute untersucht, die sozusagen ’ein bisschen’ Kontakt mit der westlichen globalisierten Kultur hatten, aber keine Leute, die wirklich keinen Kontakt hatten, die wirklich niemals zuvor Radio gehört hatten, die noch niemals zuvor in einer Kirche waren, die auch wirklich dementsprechend entlegen leben. Deswegen bin ich zu den Mafa gefahren, das ist eine Ethnie in Nordkamerun, im Mandara-Gebirge, das ist die Grenze zu Nigeria und dem Tschad."

    Im Gepäck: Ein Laptop, Kopfhörer und eine mobile Solar-Anlage mit elf Kilogramm Gewicht zur Stromversorgung. Fritz wollte überprüfen, ob die Mafa drei Basis-Emotionen; Freude, Trauer und Angst, in der ihnen bis dahin völlig unbekannten westlichen Musik erkennen. Die rund zwanzig Versuchsteilnehmer bekamen also speziell komponierte Sequenzen vorgespielt; nicht gerade Meisterwerke der Tonkunst, aber dafür mit genau definiertem emotionalen Gehalt:

    "Und sie sollten nach jedem dieser kleinen Musikstücke, also die waren maximal zehn Sekunden lang, sollten sie auf eines von drei Gesichtern zeigen, die jeweils einen emotionalen Ausdruck dargestellt haben. Das waren also Gesichter, mit denen Paul Ekman in den 70ern, 80ern seine Studien zur Universalität von mimischem Ausdruck gemacht hat, also von den Gesichtern weiß man schon, dass die universell gut erkannt werden."

    Das Ergebnis war eindeutig: Ohne jede Hörerfahrung konnten die Mafa Freude, Trauer und Angst in den jeweiligen Musikbeispielen identifizieren; zwar nicht annähernd so gut wie eine Kontrollgruppe mit westlichen Hörern, aber doch weit über der statistischen Zufallserwartung. In beiden Gruppen wurden Stücke mit schnellem Tempo tendenziell als "fröhlich" kategorisiert. Überraschenderweise schienen die Mafa aber auch für das musikalische Tongeschlecht, also den Unterschied zwischen Dur und Moll empfänglich zu sein. Für etwas also, das es in ihrer eigenen Musik überhaupt nicht gibt.

    Dass der emotionale Ausdruck westlicher Musik anscheinend universell erkannt wird, wäre dann auch eine plausible Erklärung für deren weltweiten Siegeszug, vermutet Thomas Fritz. Wobei allerdings Emotionen erkennen und Emotionen selbst empfinden immer noch zwei unterschiedliche Dinge sind:

    "Wir können aus unseren Ergebnissen keine Aussage darüber machen, ob die Mafa beim Hören dieser verschiedenen Piano-Melodien auch sich selbst traurig gefühlt haben, sich selbst fröhlich gefühlt haben, oder ob das für sie irgendwie angsterregend war. Was man am liebsten hätte, wäre die Möglichkeit, das irgendwie anhand physiologischer Parameter zu untersuchen."

    Auch mit modernster Technik wie der am Max-Planck-Institut in Leipzig, die Kognitionsforscher können ihren Versuchspersonen bislang erst ansatzweise in die Schädel schauen: Untersuchungsmethoden wie EEG, MEG und Magnetresonanztomografie zeigen zwar schon, dass jemand etwas fühlt. Aber noch nicht allzu differenziert, was.
    Trotzdem würde Thomas Fritz wohl am liebsten mit einem transportablen Kernspintomografen noch einmal zu den Mafa fahren. Wahrscheinlich haben die aber, bis ein solches Gerät verfügbar sein wird, mit einfacherer westlicher Technik Bekanntschaft gemacht: Mit Radio, Fernsehen und Internet. Und damit ihre "Unschuld" als Testpersonen verloren.