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Universitätsdekan von Ferrara: Zerstörte Kirchen haben keine Priorität

Bei den Erdbeben in der norditalienischen Region Emilia Romagna sind Hunderte Kirchen, Palazzi und Burgen zerstört worden. Der Wiederaufbau der Kulturlandschaft werde aber keine Priorität haben, da "es Leute gibt, die keine Arbeit mehr haben, die keine Häuser mehr haben", glaubt Matteo Galli, Germanist an der Universität Ferrara.

Matteo Galli im Gespräch mit Mascha Drost | 31.05.2012
    "Ich spürte, wie sich das Haus bewegte und bin sofort hinausgelaufen. Ich wohne im historischen Zentrum und sah gleich, was los war. Der mittelalterliche Uhrturm, der Torre dei modenesi, war nur noch eine Ruine, inzwischen ist er komplett eingestürzt. Fast alle unsere Kirchen aus Renaissance und Barock sehen wie bombardiert aus. Man kann nur froh sein, dass die eingestürzten historischen Bauten keine Wohnhäuser beschädigt haben."

    Mascha Drost: Valdo Martinotti, ein Kunsthistoriker über die Schäden in der italienischen Emilia Romagna. - Um Geld für den Wiederaufbau der zerstörten Gebäude in der Region finanzieren zu können, hat die Regierung mittlerweile sogar den Benzinpreis um zwei Cent angehoben. - Ich hatte heute Gelegenheit, mit Dr. Matteo Galli zu sprechen, er ist Dekan an der Universität von Ferrara, und ich habe ihn zuerst gefragt, wie es denn um seine Stadt bestellt ist.

    Matteo Galli: Ja, das ist eine schwierige Frage, denn über Ferrara wird kaum gesprochen. Es gab keine Toten in Ferrara, das meiste ist in der Umgebung von Ferrara passiert. In Ferrara in der Stadt sind einige wichtige Gebäude beschädigt worden: Der Castello Estense, also die große Burg der d’Este-Familie, die jahrhundertelang hier regiert hat, dann die Bibliothek, die auch ein sehr ehrwürdiges altes Gebäude ist. Beim ersten Erdbeben sind Stücke eines alten Turmes heruntergefallen, und diese letzte Kuppel des Turmes ist irgendwann entfernt worden.

    Aber vor allem – das sage ich jetzt als Insider – ist die Uni sehr beschädigt worden, vor allem das alte ehrwürdige Dekanat, wo ein Prunksaal und eine wunderbare Treppe steht, mit allen Tafeln von allen Leuten, die hier studiert haben, also Paracelsus und Kopernikus und so weiter. Wir haben einen sehr schnellen Umzug organisiert. Das Einzige, was noch zu bleibt für eine Weile, ist die Bibliothek, aber wir arbeiten gerade daran.

    Drost: Sie haben es ja schon gerade angedeutet: Die Emilia Romagna ist historisch und architektonisch eine hochinteressante und auch wunderschöne Gegend. Welche Bedeutung hat denn diese Gegend in der reichen Geschichte Italiens?

    Galli: Na ja, das ist ein wunderbares Ballungsgebiet an Kunstschätzen. Die Emilia Romagna war historisch zum Teil ein Gebiet des Papstes, also des Kirchenstaates, und parallel dazu gab es regelrechte Fürstenhäuser, Herzogtümer und so weiter, vor allem die Este, Ferrara und Modena, und die haben wunderbare Kunstschätze gebaut, also architektonische Juwele.

    Es gab überall kleine Schlösser, die nach dem Vorbild des großen Schlosses hier in Ferrara gebaut worden sind. Zum Beispiel – die Bilder hat man auch im Fernsehen und im Netz gesehen – das Schloss von San Felice sul Panaro ist ein kleines, wirklich ein Este-Schloss in Miniatur. Das ist sehr beschädigt worden, und viele Kirchen wurden beschädigt. Gott sei Dank ist das erste Erdbeben in der Nacht passiert, denn es ist auch Konfirmationszeit und Kommunionszeit im Mai in Italien, und die Kirchen wären möglicherweise voll gewesen am Vormittag.

    Drost: Steht denn zu befürchten, dass nach diesen schweren Beben der Flair, die Geschichte dieser Region verloren zu gehen droht? Nicht jede von den Hunderten zerstörten Kirchen oder Palazzi kann ja wiederaufgebaut werden.

    Galli: Ja das ist wahr. Wir müssen auch immer bedenken, dass es andere Schäden gegeben hat, die für den Alltag der Menschen wichtiger sind. Es sind auch Industriegebiete beschädigt worden. Das meiste an Toten, die es gab, war in Industriegebieten. Es sind Pavillons oder Industriegebäude, die vielleicht keine zehn Jahre alt waren, die wirklich eingegangen sind wie Kartenhäuser.

    Um noch auf Ihre Frage zu kommen: Es wird wohl nicht prioritär sein. Ich denke, diese Kirchen, die zwar sehr wichtig sind, aber sozusagen keine Sehenswürdigkeiten, die eine Reise wert waren – ich meine, Ferrara, Modena, Parma, das sind natürlich touristische Ziele erster Klasse -, die Kirchen, die in diesen kleineren Dörfern oder Städtchen beschädigt worden sind oder gar zerstört worden sind, die werden nicht Priorität haben, wenn man bedenkt, dass es Leute gibt, die keine Arbeit mehr haben, die keine Häuser mehr haben. Das wird, glaube ich, schon die Priorität sein in den nächsten Monaten und Jahren.

    Drost: Nun hat sich das Erdbeben ja in einer relativ wohlhabenden, für Italien wohlhabenden Region ereignet. Sorgen Sie sich um den Aufbau, oder denken Sie, dass die wirtschaftliche Kraft den vorantreiben wird?

    Galli: Ich glaube schon. Also ich bin sehr optimistisch. Das ist wirklich eine der gesündesten Gebiete Italiens, der reichsten Gebiete Italiens. Man geht sofort an die Arbeit, und man versucht, so schnell wie möglich wiederaufzubauen. Natürlich: Der Staat muss helfen, aber ich bin sehr optimistisch. Wir sind auch ein kleines Beispiel dafür. Wir haben wirklich keine Sekunde verloren, und wir sind aktiv, und wir rechnen damit, dass wie immer viele Studenten nach Ferrara einziehen werden.

    Drost: …, sagt Matteo Galli, Dekan an der Universität von Ferrara.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.