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Unklare Impfstrategie
Türkei verabreicht Impfstoff aus China

Die Türkei hat mit Impfungen gegen das Coronavirus begonnen. Dabei setzt das Land auf den chinesischen Impfstoff von Sinovac. Wie wirksam dieser ist, ist umstritten. Beweggründe der Regierung sind unklar. Derweil ergeben Umfragen: Kaum jeder zweite in der Türkei will sich noch impfen lassen.

Von Süsanne Güsten | 14.01.2021
Eine Pflegekraft verabreicht am 9. Oktober 2020 im Acibadem Hospital in Istanbul während Phase III der klinischen Studien einem Mann die erste Dosis eines COVID-19-Impfstoffs
COVID-19-Impfung in einem Krankenhaus in Istanbul (picture alliance / AP Photo / Emrah Gurel)
Den erlösenden Hinweis ließ Staatspräsident Erdoğan fast nebenbei fallen. Auch über die Covid-Pandemie sei gesprochen worden, sagte er nach einer Kabinettssitzung in dieser Woche, nachdem er ausgiebig über die Opposition hergezogen war und seine Energiepolitik erörtert hatte:
"Wir werden mit den Impfungen beginnen, sobald die Tests abgeschlossen sind. Das wird wohl noch in dieser Woche sein, oder? Das frage ich den Gesundheitsminister. Ja, er sagt Donnerstag oder Freitag. Also werden wir wohl, so Gott will, am Donnerstag oder Freitag mit der Impfkampagne beginnen."

Die Strategie der Regierung ist intransparent

Glauben werden das viele Türken wohl erst, wenn sie tatsächlich dran sind, denn bisher haben sie nur wenig darüber erfahren, was hinter den Kulissen für sie vorbereitet wird. Der Impfstoff der Firmen BionTech/Pfizer ist es jedenfalls nicht, auch wenn die Türkei den zuletzt doch noch gerne gehabt hätte. Erdoğan telefonierte sogar persönlich mit dem türkischstämmigen BionTech-Chef Uğur Şahin doch da war es längst zu spät und der Impfstoff vergriffen – die Türkei steht nun auf der Warteliste.
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Was Ankara dafür in größerem Stil gekauft hat, das ist der Impfstoff der chinesischen Firma Sinovac: 50 Millionen Dosen sind bestellt, drei Millionen bisher angekommen. Warum gerade Sinovac, das weiß eigentlich niemand, wie der Journalist Ruşen Çakır im Internet-Sender Medyascope kritisierte:
"Das Hauptproblem ist der Mangel an Transparenz, dass die Öffentlichkeit nicht informiert wird. Anfangs hieß es, BionTech sei besser, dann hat die Regierung stattdessen Sinovac bestellt, und Einzelheiten erfahren wir nicht. Wir sollten das Recht haben, über jeden Schritt informiert zu werden, denn es geht schließlich um uns. Aber wie alle autoritären Regimes entscheidet unsere Regierung alles eigenmächtig von oben und erlaubt keine Einwände."

Zahl der Impfwilligen sinkt seit Monaten

Selbst Informationen über Infektionszahlen werden von Ankara nur selektiv und nach Gutdünken veröffentlicht. Monatelang wurde im Sommer die Bilanz verzerrt, um den Tourismus zu fördern, und auch jetzt schätzt die türkische Ärztevereinigung die Infektionszahlen ungefähr doppelt so hoch wie die regierungsamtliche Statistik.
Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes Ipsos zufolge ist die Zahl der Impfwilligen in den letzten Monaten gefallen, kaum jeder zweite will sich überhaupt noch impfen lassen.
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Şebnem Korur Fincancı, die Vorsitzende der Ärztevereinigung, appellierte im Online-Interview eines türkischen Portals: "Wir sollten uns alle impfen lassen, das will ich hier noch einmal betonen – gleich ob es dieser chinesische Impfstoff ist oder ein anderer: Lasst uns bitte diese Zweifel überwinden. Ich appelliere vor allem an das Gesundheitsministerium, denn diese Scheu vor der Impfung ist Ergebnis einer Verunsicherung, die durch den Mangel an Transparenz verursacht wird. Wenn wir eine unabhängige Wissenschaftlerkommission hätten, wäre das sehr viel vertrauenerweckender. Weil wir das nicht haben, trauen die Leute der Sache nicht."

Journalist: "Demokratische Kontrolle über eine Regierung lebenswichtig"

Kurz vor dem erhofften Impfstart kam in dieser Woche auch noch die Nachricht, dass brasilianische Forscher dem Impfstoff von Sinovac eine Wirksamkeit von 50 Prozent bescheinigten – das ist gerade einmal die Mindestanforderung der WHO und sehr viel weniger als die 91 Prozent, die bei türkischen Tests festgestellt wurden.
Daran sei jetzt auch nichts mehr zu ändern, sagt Ruşen Çakır: "Wir können nur hoffen und beten, aber wir können nicht das Handeln der Regierung kontrollieren. Die Pandemie führt uns vor Augen, wie lebenswichtig eine demokratische Kontrolle über eine Regierung ist – lebenswichtig im wahrsten Sinne des Wortes."
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Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)