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Unruhe des Herzens

Es ist, wie es ist, wie es immer schon war und wie es immer sein wird. Man ist mit Claudia zusammen, will aber eigentlich nicht mehr, derweil man sich mit Mary tröstet, weil man Veronika nicht kriegt. Eine derartige Unruhe im Herzen kennt man. Es gibt sie in der Literatur der siebziger Jahre (vehement) genau so wie im laufenden Jahrzehnt (cooler). Und bei Thomas Glavinic mit seiner herzergreifenden Charakterstudie Wie man leben soll erst recht.

Von Hajo Steinert | 07.07.2004
    Aber so viele "man" in einem Satz? Gleich sechs Mal taucht das "man" in den ersten sieben Zeilen des Buches auf. Dieses "man" ist nicht nur Ausdruck eines ironischen Umgangs mit der Tonlage einer heute sehr beliebten Ratgeberliteratur - dieses "man" steht für mehr und erweist sich für eine literarische Figur, die hin und her gerissen ist zwischen Minderwertigkeitskomplex und überdrehtem Selbstbewusstsein, als angemessene Form, von sich Zeugnis abzulegen.

    Dieses "man" ist Ausdruck der Persönlichkeitsschwäche einer Erzählerfigur, die nicht Ich sagen kann. Es ist auch das Echo eines Hilferufs: "Man", das sind wir, das ist unsere Generation, seht ihr das nicht, ich bin nicht allein, ich bin "man"! Karl Kolostrum, so heißt unser Held, der keiner ist, hat freilich, wie schon sein Name erahnen lässt, nichts, aber auch gar nichts mit einer "Generation Golf" zu tun. Dafür umso mehr mit jenem Hänger, der weiland von Uschi Glas im Kinofilm "Zur Sache, Schätzchen" vergeblich auf Vordermann gebracht wird.

    Aber nicht nur aus psychologischer und sentimentaler Sicht ist unser ausgebufftes und abgeschlafftes, indes trotz seiner dicklichen Figur bei den Frauen erstaunlich erfolgreiches Schätzchen ein Charakter. Karl Kolostrum, Sohn einer heute noch abgedrehten Achtundsechzigerin, ist Vertreter und zugleich Opfer unserer heutigen Spaßgesellschaft. Er hat aber nicht nur Spaß. Er leidet an einem permanenten Samenstau. Sein Studienfach sucht er danach aus, wo die schönsten Kommilitoninnen eingeschrieben sind (Kunstgeschichte naturgemäß). Nur mal so lässt er sich bei der ortsansässigen linken Gruppierung blicken. Er pilgert zu einem Selbsterfahrungsseminar, wo die Beteiligten, nur mit Lendenschurz bekleidet, nackt durch den Wald irren. Haschisch, Wohngemeinschaft, Taxijob – alles wie damals. Nur nicht so fröhlich. Immerhin stirbt auch jemand im Roman, auf äußerst mysteriöse Weise.

    Karl Kolostrum sehnt sich geradezu nach jenen, ihm nur vom Hörensagen und von einschlägigen Popsongs her bekannten Jahren, da man nicht Sport treiben mußte, um als bewegter Mann zu gelten. Seinen Liebeskummer nimmt Karl selbsttherapeutisch in Angriff, indem er ins Bordell geht oder via Kontaktanzeige einem libidinös gestörten Pärchen neugierig körperlichen Beistand leistet. Dazu hatte "man" in den ach so bewegten sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht den Mut gehabt.

    Alles ganz schön lustig und flott, möchte man meinen, pardon, der geneigte Leser. Eine Gesellschaftssatire, schön schräg und manchmal auch schaurig. Ein Schelmenroman. Der Witz des unterhaltsamen und in seinen besten Passagen äußerst komischen Romans resultiert freilich nicht allein aus dem genüsslich unter die Lupe genommenen Leben eines sympathischen Taugenichts, sondern vor allem aus der bewusst umstandskrämerischen Sprache des Autors, die irgendwo zwischen Loriot und Max Gold angesiedelt ist.

    Geschlechtsverkehr wird im Roman "ausgeübt", zur Masturbation am Abend "schreitet" man. Und wenn "man sich auf eine Schlägerei einlässt, sollte man über ein gewisses Grundverständnis darüber verfügen, wie eine solche gehandhabt wird". Wie gut, dass man für diesen Roman, der so ganz anders erzählt ist als Glavinics Kultkrimi "Der Kameramörder", kein literarisches Grundverständnis mitbringen muß, um ihn zu verstehen. Man schreite zur Tat und lese.

    Thomas Glavinic
    Wie man leben soll
    dtv premium, 239 S., EUR 14,-