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Unruhestifter. Erinnerungen

Wer ihn kennt, hat es sich ja denken können: Wenn der Publizist und Schriftsteller Fritz J. Raddatz einmal seine Memoiren schriebe, würden in den Feuilletons die Fetzen fliegen. Und so ist es denn auch gekommen. Noch in der Woche, bevor der Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, das Erinnerungsbuch von Raddatz öffentlich und in dessen Anwesenheit präsentieren konnte, stand in der ZEIT, deren Feuilletonchef Raddatz von 1977 bis 1985 gewesen ist, eine herbe Zurechtweisung von Theo Sommer.

Heinz Ludwig Arnold | 24.09.2003
    Alle werden niedergemacht. Helmut Schmidt, weil er Wehrmachtsoffizier war und die abgegessenen Teller der Feuilletonredaktion (...) und die Stapel der ausgelesenen Zeitungen ungern den Korridor verunzieren sah, der zu seinem ZEIT-Büro führt. Rudolf Augstein, weil er Wehrmachtsoffizier war und zur Tagung der Gruppe 47 mit dem Privatflugzeug anflog. Wenn Raddatz Günter Grass als Narziss abtut; wenn er den Literaten ankreidet, ‚sie bauen alle unentwegt an ihrem Rühmchen‘; wenn er der Gräfin Dönhoff nachsagt, sie webe emsig am Schleier ihrer Selbstmythisierung (...) – dann geraten ihm seine Beschimpfungen zur unfreiwilligen Selbstbespiegelung (...).

    Unfreiwillig nun nicht. Das alles hat der "Unruhestifter" - so der Titel seines Buchs - schon alles sehr bewusst, wenn auch sehr rücksichtslos und rückhaltlos, aufgeschrieben; denn Raddatz setzt ein mit einem Motto aus Jean-Jacques Rousseaus "Bekenntnissen":

    Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein.

    Rousseaus rückhaltlos ehrliche Bekenntnisse und Selbstanalysen sollten der Welt den Menschen als für alle anderen erkenntnisfähiges Grundmuster vorführen – und gerieten denn doch zur baren Selbstdarstellung, einer Mischung aus Klage und Anklage, hergestellt aus verzeichneter Wirklichkeit und ungerechten Urteilen. Rousseau stellte sich dar als das missgeleitete Produkt einer schlechten Welt. *

    Fritz J. Raddatz‘ Erinnerungen beginnen, was die eigene Rolle betrifft, relativ zurückhaltend, auch wenn er gleich auf der zweiten Seite anmerkt:

    Auf mich hat sich nie etwas gereimt. Die deutsche Sprache kennt keinen Reim auf Mensch.

    Aber auf viele andere macht er sich seine Reime, auf Siegfried Lenz, Helmut Schmidt und Günter Grass, Rolf Hochhuth, Hans Mayer und Willy Brandt, Erich Kästner, George Tabori und Hans Magnus Enzensberger, auf García Marquez, Henry Miller und die Knef, Rudolf Augstein, Ernst Rowohlt und Walter Höllerer, Hrdlicka und Paul Wunderlich, Wapnewski und Joachim Kaiser, Inge Feltrinelli, Updike, Ledig-Rowohlt, Kempowski, Johnson, Baumgart – sie alle und noch viel mehr spielen in diesen Erinnerungen ihre Rollen, und in ihnen spiegelt er sich. Und damit wir auch sehen können, in welch illustren Kreisen er sich sein Leben lang bewegt hat, finden wir sie alle, meist zu zweit, abgebildet mit Raddatz, vorn und hinten in den Klappen des Buchs.

    Ja, diese Erinnerungen beginnen einigermaßen moderat, zeichnen bei aller Subjektivität eine objektiv erkennbare Realität: Sie entwerfen ein farbiges Panorama von der sich entwurzelnden Kriegs- und einer turbulenten Nachkriegszeit (man erkennt manche gewagten Bilder wieder aus Raddatz‘ Erzählung "Kuhauge"), und erzählen interessant auch die Erfahrungen in den zehn Jahren von 1948 bis 1958 in der DDR, die Raddatz ab 1953 als stellvertretender Cheflektor des Verlags Volk und Welt gemacht hat, samt allen Kämpfen und Intrigen – bis hin zum Verrat des Wolfgang Harich an dem auch in der DDR unbequemen Unruhestifter Raddatz, der 1957 in sein Tagebuch schrieb:

    Alles, was mit Kunst oder Literatur zu tun hat, ist in einem Chaos der Unkultur untergegangen. (...) Ich sprach gegen eine Wand – hinter der das Magnetophon stand. Immerhin hat man sich genauso scharf, wie ich es war, entblößen müssen: Wir wollen nicht Qualität, wir wollen Parteilichkeit.

    Ein Jahr später, im November 1958, geht Raddatz, nachdem sich der Staatssicherheitsdienst unmissverständlich bei ihm angesagt hatte, nach Westberlin; und schreibt, frei nach Hölderlin:

    So kam ich unter die (West)Deutschen. Es war eine hochsonderbare Landung im Wirtschaftswunderland. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt. Ich besaß 1 Anzug, 1 Paar Schuhe, 1 Wintermantel mit breitem Gürtel und großer Hornschnalle, 2 Hemden und 300 Westmark. Einen Beruf hatte ich, eine Aussicht, ihn auszuüben, besaß ich nicht.

    Das änderte sich bald. Schon am 1. Januar 1959 wird Raddatz Cheflektor des Kindler-Verlags; ein Jahr später, Rudolf Augstein will ihn zum Cheffeuilletonisten einer neuen Tageszeitung machen (die nie erschienen ist), gibt er Augstein einen Korb und schreibt Kindler die Kündigung - und wird unter Heinrich Maria Ledig-Rowohlt stellvertretender Rowohlt-Chef. Fast zehn Jahre lang gibt er diesem damals wichtigsten westdeutschen Verlag ein profundes literarisches und politisches Profil – bis 1969, da verlässt er Rowohlt, weil der Verlag sich ohne sein Wissen auf eine windige Propagandaaktion in der DDR eingelassen hat.

    Ein Jahr lang leitet er danach ein von Augstein finanziertes "Spiegel-Institut für Projektstudien", habilitiert sich bei dem inzwischen aus der DDR übersiedelten Hans Mayer in Hannover, schreibt unter anderem eine Marx-Biographie und wird 1977 Feuilletonchef der ZEIT – die ihn 1985 entlässt: angeblich weil er in einem hastig geforderten Leitartikel zur Buchmesse einer Glosse der Neuen Zürcher Zeitung aufgesessen war und ein falsches Goethe-Zitat, in dem ein paar Jahre zu früh von einem Frankfurter Bahnhof die Rede war, für bare Münze genommen hatte – tatsächlich wohl, weil der arrogante linke Dandy Raddatz, ihr wohl interessantester, aber auch anstrengendster Feuilletonchef, von Anfang an nicht ins großbürgerliche Welt-Bild der ZEIT-Herren und Damen von Bucerius bis zur Gräfin Dönhoff passte - das war wie Feuer und Wasser, auch wenn Raddatz sich selbst darin als Champagner empfand. Immerhin blieb Raddatz der ZEIT bis Ende 2001 als korrespondierender Autor enthalten – schrieb ihr große Reportagen und Porträts, und für sich vier Romane, die, wie er betont, zwar in Paris Furore machten, in Deutschland aber im besten Falle auf wohlwollende Distanz stießen.

    Sehr viele meiner Bücher sind nicht nur in hohen Auflagen und immer wieder nachgedruckten Taschenbuchausgaben erschienen, wurden übersetzt ins Türkische und ins Chinesische, ins Spanische und ins Dänische, wurden in den USA, in Frankreich, Holland, England ohnehin gedruckt; und nie je ein einziger Verriss im Ausland.

    Immerhin, das ist keine unbedeutende Karriere für einen Literaten, der bei allen Abhängigkeiten sich doch stets eine große persönliche Unabhängigkeit bewahrt zu haben schien. Und dass einer wie Raddatz im juste milieu dieser Republik ganz besonders wie ein eiteler Pfau wirken muss, das sei geschenkt. Den gibt er ja gern, häufig und ausführlich.

    Und so hätte man sich von ihm durchaus jenes Erinnerungsbuch vorstellen können, das die Republik, deren beide alten Teile er ja genügend kennengelernt hat, mitten ins Herz zu treffen vermochte: eine komplexe Geistesgeschichte (die er ja begleitet und mitgestaltet hat), durchaus gegen den Strich gebürstete, auch widerspruchsvolle Porträts wichtiger Literaten und Künstler, Verleger und Journalisten, mit denen er umgegangen ist; ja durchaus auch ein bisschen Klatsch und Tratsch, eine gern mitgehörte Hintergrundmusik des intellektuellen Betriebs und willkommenes Schmiermittel jeder Autobiographie.

    Aber aus der Hintergrundmusik wird in diesem Buch leider meist grellstes Gelärme. Die Porträts geraten oft zu peinlichen Abrechnungen. Und der einzige Komplex, der sich dem Leser dieser Erinnerungen aufdrängt, ist der zu monströser Selbstüberhebung aufgeblasene Minderwertigkeitskomplex ihres Verfassers.

    Eine seiner erklärt großen Freundschaften schloss Raddatz mit Mary Tucholsky. Mit ihr korrespondierte er schon aus der DDR, als er sich dort für eine Tucholskys-Ausgabe einsetzte – sie nimmt ihn auf, als er aus der DDR kommt, und er versorgt später Tucholsky bei Rowohlt und betreut sein Leben lang das Tucholsky-Archiv. Mary liefert ihm das Motto seines Lebens:

    Bleiben Sie unabhängig und erwarten Sie nie etwas von ihren Freunden.

    Woran er sich aber nur selten wirklich gehalten hat. Auch mit Mary, die er seine Königin – "Ma Reine" –, und die ihn "Mein Fürst" zu nennen beliebt, kommt es schließlich immer öfter zum Streit, und sehr aufgeregt und entschieden rebelliert Raddatz, als La Reine Kurt Tucholskys persönliches "Sudelbuch", das sie ihm einst versprochen hatte, dann doch ins Archiv nach Marbach gibt; denn, so Raddatz:

    Wer, wenn nicht ich, wäre würdig, dieses Stück Tucho-Mary zu besitzen, das muss ich mich doch fragen.

    Und dann bricht es aus ihm heraus, und dieser Ausbruch charakterisiert diesen hypersensiblen Narziss in seiner grundverlorenen Einsamkeit:

    Für mich ist es wie wie ein Treubruch, und dieses Wort hat bei mir, dem angeblichen ‚Elegant‘ und ‚Bonvivant‘ und ich weiß nicht was, noch einen schweren Wert. Gut, ich habe das alles – natürlich – auch haben wollen, welcher Mann will’s nicht: Erfolg und Geld und Eleganz und Reisen und das; was ich eigentlich, mein ganzes Leben, gesucht habe mit einer den jeweils anderen offenbar verbrennenden Intensität, war Absolutheit – ob im Vertrauen, in der Liebe, in der Treue. Man kann’s auch einen Partner nennen.

    So steht es in einem Brief, den Raddatz 1971 an Mary geschrieben hat.

    Raddatz‘ Erinnerungsbuch ist ja kein einheitlich durchgeschriebenes, ein ganzes Leben noch einmal reflektierendes, rekapitulierendes Manuskript. Es besteht, wesentlich im ersten Viertel, aus neuem Text, danach mischt Raddatz zunehmend und ausgiebig alte Briefwechsel, Tagebuchblätter und gar kleinere Artikel ein, und diese Lese aus den verschiedensten Zeiten zeigt einmal mehr, wie sehr die Menschen, mit denen er umging, für Raddatz schon immer jene Spiegel waren, in denen er sich suchte, in denen er aber, weil sie nicht so waren wie er, nur immer sein von ihnen angeblich verzerrtes Selbstbild zu erkennen, ja wieder zu erkennen vermeinte.

    Und dass sie nicht so waren und sind wie er – das zahlt er ihnen nun heim, nicht böswillig, wie man bei der Lektüre durchaus glauben könnte, sondern ehrlich, wie er zu meinen scheint. So zeichnet er von jenen Prominenten, mit denen er sich in diesem Buch abbilden lässt und in deren Ruhm auch er ein wenig glänzte, manch hässliches, ja manch geschmackloses Zerrbild. Wie böse er da unter vielen anderen über Rudolf Augstein und Uwe Johnson und über Mans Mayer schreibt! Auch über seine reiche Freundin Gabriele Henkel, an deren Rock er doch ständig hing, wenn sie von einer Prominenten-Party zu anderen, von einer Galerie zur nächsten hetzte, nur um immer dabei zu sein, wenn irgendeine Berühmtheit dabei zu erwarten war – und zieht noch aus dem vernichtenden Porträt den Honig seiner Selbsterkenntnis:

    Keineswegs ist das hier berichtende Ich, ist Fritz J. Raddatz ausgenommen von jenem Beschleunigungsdefekt, wie ich den Effekt einer sich überschlagenden, hektischen Suche nach ‚Leben‘ nennen möchte.

    Nein, davon war, davon ist er nicht ausgenommen, im Gegenteil: Aber die bloße Erwähnung solcher Verstricktheit ebenso wenig wie die kritischen Eingeständnisse eigener Fehler, die auch in diesem Buch stehen, haben offensichtlich dazu geführt, dass Raddatz daraus gelernt oder gar Konsequenzen für sein Erinnerungs-Schreiben gezogen hätte. So hat es fast durchwegs den Anschein, als zöge sich da einer bis auf die Unterhose aus, nur um die blauen Flecken zu zeigen, die ihm die anderen zugefügt haben. Und Raddatz‘ genussvoller Exhibitionsmus wäre demnach nurmehr der als extreme Selbstliebe verkleidete Selbsthass?

    Dass er auch anders kann, zeigen insbesondere zwei Porträtskizzen: Jene des italienischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli, der 1972 unter mysteriösen Umständen bei der Explosion einer Bombe starb – ein Revolutionär als Selbstmörder oder ein ermordeter linker Rebell? Über ihn jedenfalls schreibt Raddatz in der ihm eigenen larmoyanten Überheblichkeit:

    Ich hegte viel Bewunderung für den Mann. Wer keinen Kopf hat, der kann ihn auch nicht verlieren. Beifahrer machen keine Unfälle. Ein Beifahrer war er nicht, Giangiacomo Feltrinelli. Wir hatten das ähnlich überschäumende Temperament, das sich von Büchern Wirkung erhofft. Mich kostete es den Job. Ihn kostete es das Leben.

    Ein Beifahrer wollte auch Raddatz nie sein, und mußte doch erleben, dass, auch wenn er sein Metier einigermaßen selbst in der Hand hatte, er immer noch abhängig war von anderen, die ihn dann ja auch entlassen haben. Aus dieser Sehnsucht nach der materiellen Unabhängigkeit und der menschlichen Freiheit rührt wohl auch die spürbar tief empfundene Achtung und Freundschaft zu Paul Wunderlich: Weil er in ihm als einzigem, dem er wohl je in seinem Leben begegnete, von Anfang an den wirklich großen Künstler und zugleich den wirklich unabhängigen, ja freien Menschen erkannt hat, und zwar zu Recht. Dagegen nehmen sich die ausgiebigen Scharmützel mit Günter Grass, die das Buch durchziehen, wie die Hahnenkämpfe zweier rechthaberischer eitler Gockel aus. *

    Erinnern wir uns noch einmal an das Motto dieser Erinnerungen aus Rousseaus "Bekenntnissen": Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein.

    Fritz J. Raddatz ist gebildet und kennt seinen Rousseau. Und beschließt wohl auch deshalb seine Erinnerungen auf ihrer letzten, der 478. Seite, mit den Sätzen:

    Es gibt wohl kein einheitliches Ich; es ist immer zusammengesetzt aus widersprüchlichen Neigungen und gegenläufigen Erfahrungen. Weswegen ich für dieses Buch die Form der Spiegelungen gewählt habe. Die werfen ein immer neues Konterfei zurück – weil Menschen, Handlungen, Situationen, Verletzungen, Liebe und Abweisungen denjenigen geformt wie verformt haben, der ich bin. Der ich geworden bin. Wie ich geworden bin. Mit Anstand kläglich, mit Verve irrend, den eigenen Sehnsüchten entfliehend und der Gnade, die ihm zuteil wurde, zu wenig achtend. Ein Weltenschlürfer des ungestillten Durstes. Torero und Stier zugleich.

    Raddatz also kennt seinen Rousseau; aber er ist keiner. Nur darin ist er ihm ähnlich: Auch er mit seinen Erinnerungen und Bekenntnissen gescheitert; freilich auf anderem Niveau.