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Unruhiges Nigeria

Nigerias so genannter Middle Belt ist ein Pulverfass, in dem gerne gezündelt wird. Christen und Muslime liefern sich seit Jahren blutige Gemetzel. Doch es geht nur oberflächlich um Gott oder Allah. Vielmehr um Ressourcen und Teilhabe.

Von Alexander Göbel | 08.01.2011
    Weihnachten 2010 in Jos. Alles andere als das Fest der Liebe. An Heiligabend explodieren in der Hauptstadt von Plateau State im Zentrum Nigerias mehrere Bomben, mindestens 86 Christen werden getötet. Die Stadt gleicht einem Schlachtfeld. Explosionskrater und ausgebrannte Autowracks, Leichen, umherirrende, blutende Menschen. Die Nerven liegen blank, auch bei Gregory Yenlong, Sprecher des Gouverneurs von Plateau State.

    "Hier sind Staatsfeinde am Werk! Wir erwarten, dass endlich Maßnahmen ergriffen werden. Sonst können wir für nichts mehr garantieren. Die Stimmung ist extrem aufgeladen. Wir beschwören die Leute, ruhig zu bleiben – aber ihre Geduld ist am Ende!"

    Die islamistische Sekte "Boko Haram" bekennt sich zum weihnachtlichen Massaker von Jos - und auch zum Bombenattentat, das in der Silvesternacht die Hauptstadt Abuja erschüttert. Boko Haram heißt zu Deutsch: "Die Moderne Erziehung ist eine Sünde." Die Sekte orientiert sich an den afghanischen Taliban. Und fordert, dass überall in Nigeria die Scharia gelten soll, das islamische Recht. Im Internet schwört Boko Haram Rache für die Gewalt gegenüber Muslimen, vor allem im so genanntem "Middle Belt" – der Region um Bundesstaaten wie Plateau und Kaduna.

    Hier verläuft die Trennlinie zwischen Nigerias christlich geprägtem Süden und dem muslimischen Norden. Der katholische Erzbischof der Stadt Jos erkennt in den Anschlägen religiöse Motive. Für Harouna Yerima, Professor aus der Sektenhochburg Maiduguri, ist die Radikalisierung des Islam vielmehr ein Offenbarungseid für die Politik. Für einen Staat, dessen Erdölreichtum nicht bei den Menschen ankommt.

    "Die Armut hat sich tief in die Gesellschaft hineingefressen. Viele Menschen haben keine Arbeit, können weder lesen, noch schreiben, und die Korruption ist einfach atemberaubend. Insgesamt ist die Lage so schlimm, dass es mich nicht wundert, dass solche Gruppen wie Boko Haram entstehen und Zulauf haben."

    Das Elend der Menschen spiele den Radikalen in die Hände – und nicht nur ihnen, sagt der Imam Mohammed Ashafa. Früher war er selbst Mitglied bei Boko Haram, heute setzt er sich gemeinsam mit Christen für Versöhnung ein. Der Imam stammt aus Kaduna, wo vor zehn Jahren 5000 Menschen bei Gewalt zwischen Christen und Muslimen ums Leben kamen. Damals hat er sich selbst anstacheln lassen – von den geistigen Brandstiftern, denen es um Macht geht, und um Geld.

    "Viele unserer Politiker haben nichts zu bieten. Wenn sie einem guten Argument nichts entgegensetzen können, sagen sie Dinge wie: "Ich wurde benachteiligt, weil ich Muslim bin." "Ich wurde ausgestoßen, weil ich Christ bin." Und dann wiegeln sie ihre Gemeinde mit negativen Stereotypen auf. Religion kann eine große Wirkung entfalten. Sie kann mehr Energie enthalten als eine Atombombe."

    Nigerias so genannter Middle Belt ist ein Pulverfass, in dem gerne gezündelt wird. Christen und Muslime liefern sich seit Jahren blutige Gemetzel. Doch es geht nur oberflächlich um Gott oder Allah. Vielmehr um Ressourcen und Teilhabe. Die einst rohstoffreiche Gegend ist ausgeblutet. Geschlossen sind auch die Zinnminen, vor gut 100 Jahren haben sie vor allem die muslimischen Hausa in die Region gelockt. Das Land müssen sich viele verschiedene Volksgruppen teilen. Viele kommen vom Land, vom Rand der Wüste, wo Brennholz immer spärlicher – und das Leben immer beschwerlicher wird. Noch heute gelten sie als Siedler. Damit sind sie vor allem den so genannten "Einheimischen" ein Dorn im Auge. Anders als die Siedler leben sie bereits seit Jahrhunderten hier – und bekennen sich hauptsächlich zum Christentum.

    "Die meisten von uns hier, die meisten Hausa, sind nicht sehr gebildet", sagt Salihu, ein zugereister Muslim. "Das liegt nicht nur an uns, dass wir nicht in die Schule gehen. Es fehlt auch an Geld dafür. Ich bitte die Regierung: Macht Erziehung zur Chefsache, damit diese religiöse Krise nicht wieder vorkommt, damit diese Gegend entwickelt wird."

    Das Problem seien die Politiker der Region, sagt Salihu. "Die Männer, die die Armut ausnutzen, die Wahlen fälschen und die Demokratie mit Füßen treten. Die Gewalt säen, indem sie Menschen gegeneinander aufhetzen!"
    Ihre Rechnung geht auf. Weil sie genau wissen, dass die verschiedenen Ethnien nicht nur verschiedenen Religionen angehören – sondern auch noch verschiedene politische Parteien unterstützen. Drei Monate vor der richtungsweisenden Präsidentschaftswahl zeigt sich, wie gespalten das bevölkerungsreichste und das religiöseste Land in Afrika ist. Weil der Kampf um die Macht noch immer auf dem Rücken der Religion ausgetragen wird. Und auf dem Rücken der Menschen.