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Unschuldig hinter Gittern (2/2)
Trugschlüsse

Es sind die schweren Fälle, bei denen die schlimmsten Fehler passieren: Sexualdelikte an Kindern, Mord. Die Öffentlichkeit geht auf die Barrikaden, schreit nach Ergebnissen. Das macht Ermittler anfällig für Schwächen ihres Gehirns. Wenn sich die Spurensuche hinzieht, und der Druck ins Unerträgliche wächst, landen am Ende Unschuldige hinter Gittern. Dabei gibt es einfache Methoden, die Risiken zu minimieren.

Von Joachim Budde | 06.08.2017
Jeff Deskovic geriet als Schüler unter Mordverdacht. Nach 17 Jahren hinter Gittern kam er frei. Heute studiert Deskovic Jura.
Jeff Deskovic geriet als Schüler unter Mordverdacht. Nach 17 Jahren hinter Gittern kam er frei. Heute studiert Deskovic Jura. (Deutschlandradio / Joachim Budde)
Hinweis: Der erste Teil des Features Unschuldig hinter Gittern (1/2) mit dem Titel "Falsche Spuren" wurde am 30.7.2017 im Dlf ausgestrahlt.
Peekskill, eine kleine Stadt nördlich von New York City. Am 15. November 1989 steckte die 16-jährige Angela Correa eine Kassette der New Kids on the Block in ihren Walkman, nahm sich ihre Kamera und machte sich auf den Weg, um Fotos für ein Schulprojekt zu machen.
Jeff Deskovic: "In der Schule gab es eine Ansage: Angela werde vermisst und wir sollten uns melden, falls wir Informationen dazu hätten."
Zwei Tage später fand jemand ihre Leiche in einem Waldstück.
Jeff Deskovic: "Im 'Evening Star' erschien ein Artikel: Man habe sie gefunden. Ermordet. Nackt von der Hüfte abwärts."
Jeff Deskovic war damals 16, er ging in dieselbe Klasse wie Angela Correa. Sie hatten kaum Kontakt. Dennoch traf ihn ihre Ermordung hart.
"Auf dem Friedhof luden Angelas Eltern die Leute noch mit zu sich nach Hause ein, zu Kaffee und Plätzchen, zum Reden. Ich ging mit, und dann zeigten sie mir Angelas Zimmer. Darauf habe ich emotional reagiert."
Daraus drehte ihm die Polizei einen Strick.
"Viele Leute glauben, dass stille zurückgezogene Menschen abscheuliche Verbrechen begehen. Ein paar Mitschüler rieten der Polizei, mal mit mir zu sprechen. Dazu die Gefühlsausbrüche - das waren die Gründe, warum sie sich auf mich konzentrierten."
Auf Spurensuche
Spuren lügen nicht. Aber sie führen auch nicht automatisch zum Täter. Menschen interpretieren sie. Oder sie übersehen eine Spur, verändern sie und ziehen falsche Schlüsse.
Das größte Problem aber: Lange Zeit haben Forensiker die Schwächen ihrer Werkzeuge schlichtweg ignoriert. Greg Hampikian ist Forensikprofessor an der Boise State University im US-Bundesstaat Idaho. Um die Jahrtausendwende traf er auf einer Forensik-Fachkonferenz den Leiter des DNA-Labors der US-Bundespolizei FBI:
"Ich fragte ihn: Wie groß ist beim FBI die Fehlerquote bei DNA-Analysen? Und er sagte: 'Null. Ich musste lachen, darauf war ich wirklich nicht vorbereitet.'"
Hampikian leitet das Idaho Innocence Project, er verwendet viel Mühe darauf, unschuldig Verurteilte freizubekommen. Mit seiner Arbeit trägt er zur Statistik des National Registry of Exonerations bei. Seit 1989 sind in den USA etwa 2050 Menschen freigekommen, die zu Unrecht im Gefängnis gesessen haben. Experten schätzen, dass diese Fälle nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fehlurteile ausmachen.
"Es ist wirklich schwierig, einen Fehler zu finden, zumal in der eigenen Organisation. Ich glaube, dafür braucht man den Blick von außen. Ich berate viele Labore. Ich weise die Labore selbst auf Fehler hin, kann aber auch andere vor solchen Fehlern warnen."
Die Überzeugung, Fingerabdrücke, Haare oder Reifenspuren seien unfehlbar, hat viele Unschuldige ins Gefängnis gebracht. Dabei wurden schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Forderungen laut, Fehlurteile und ihre Ursachen zu erforschen. Seitdem ist mit schöner Regelmäßigkeit mindestens einmal pro Jahrzehnt ein Buch erschienen mit Hunderten von Fällen. Die eigentliche Forderung aber blieb unerfüllt.
2009 und 2016 haben Kommissionen mit hochrangigen unabhängigen Wissenschaftlern die Forensik und ihre Disziplinen in den USA genauer untersucht und dabei entdeckt, dass viele Spurenvergleiche mangelhaft sind.
Auch Sachverständige sind voreingenommen - ohne es zu merken
Fehler in Methoden und Daten sind nicht das einzige Problem. Itiel Dror vom University College in London schaut sich die menschliche Seite an:
"Mich interessiert in erster Linie, wenn jemand zu Unrecht verurteilt wurde, weil die Kriminaltechniker voreingenommen waren. Als ich vor etwa zehn Jahren anfing, hatte sich das noch niemand angeschaut. Die Forensiker glaubten, sie seien objektiv, sie seien immun gegen Einflüsse von außen, und das sagten sie vor Gericht, und das Gericht glaubte ihnen. Und dann kam ich und fand heraus, dass sie - wie jeder Mensch und jeder Experte - nicht perfekt sind und sich zu Fehlern verleiten lassen. Das hat eine große Schockwelle im System ausgelöst."
Ein Beispiel: Bei Fingerabdrücken vergleichen Sachverständige besondere Merkmale der Abdrücke vom Tatort mit denen, die die Polizei einem Verdächtigen abgenommen hat: Gabelungen, Wirbel, Punkte oder Unterbrechungen zum Beispiel. Studien bescheinigen der Methode eine gute Fehlerquote zwischen drei Promille und 50 Promille. Itiel Dror hat gezeigt, dass er diese Quote ziemlich leicht vervielfachen kann:
"Wir haben Fingerabdrücke von echten Kriminalfällen genommen, bei denen die Sachverständigen vor Gericht ausgesagt hatten: 'Sie stimmen überein, ich bin hundertprozentig sicher.' Und dann haben wir nach ein paar Monaten dieselben Fingerabdrücke demselben Sachverständigen erneut vorgelegt - also nicht einem anderen, der vielleicht eine Brille braucht. Wir haben ihnen aber gesagt: 'Jemand anderes hat gestanden.' Mehr als die Hälfte der Sachverständigen kam daraufhin zu dem Ergebnis: 'Keine Übereinstimmung.'"
Die Sachverständigen haben keine Übereinstimmung gesehen, weil sie keine Übereinstimmung erwartet haben. Dieses Phänomen ist nicht auf Fingerabdrücke beschränkt, sagt Itiel Dror:
"Mir fällt kein Gebiet der Forensik ein, das nicht betroffen wäre. Manche mehr als andere, das hängt davon ab, wieviel ein Sachverständiger interpretieren muss. Das ist kein Vorwurf, sondern ein Kompliment! Sachverständige sind ja keine Idioten, sondern sie müssen die Spuren interpretieren. Dafür sind sie ausgebildet, haben Erfahrung gesammelt und Einschätzungsvermögen entwickelt. Aber wir müssen sicherstellen, dass diese Einschätzungen und Interpretationen auf dem Beweismittel fußen, nicht auf irrelevanter Information.
Das menschliche Gehirn ist keine Kamera. Es ist aktiv und dynamisch. Was wir sehen und wie wir es interpretieren basiert nicht nur auf dem, was ins Gehirn hineinkommt, sondern auch auf dem, was schon drin ist. Was wir erwarten, was wir hoffen, was wir wissen. Das macht das Gehirn sehr effizient."
Ungenaue Gene
Am Abend des 15. Februar 1993 brechen in Moultrie, Georgia, drei Männer in das Haus einer Frau ein, rauben sie aus und vergewaltigen sie. Einem der Täter fällt dabei die Maske herunter. Ihn identifiziert das Opfer später als Tyrone White. Auch sein DNA-Profil passt. Er gesteht.
Greg Hampikian setzt sich in diesem Fall für jemanden ein, den der Täter in die Sache hineingezogen hat:
"Die Polizei bot Tyrone White einen Deal an, wenn er seine Komplizen verriet. Und Tyrone sagte: 'Kerry Robinson.' Die beiden kannten sich aus der High School. Kerry sagte später, Tyrone sei sauer auf ihn gewesen."
Die Polizei lässt Kerry Robinsons DNA-Profil mit dem Spermagemisch vergleichen. Eine schwierige Aufgabe.
Für ein DNA-Profil untersuchen die Forensiker an bestimmten Stellen im Genom genetische Varianten, genannt Allele. Man kann sie sich ganz vereinfacht als Buchstaben vorstellen und das DNA-Profil als einen Namen. Ein DNA-Gemisch ist also ein Buchstabengemisch, und die Analysten versuchen, daraus die Namen der Beteiligten zu rekonstruieren. Wenn Sperma von Moe, Tom und Fred vermischt ist, finden DNA-Experten darin 10 Buchstaben. Daraus können sie sowohl den Namen Tom, der ja tatsächlich beteiligt war, als auch den Namen Ted rekonstruieren - der nichts damit zu tun hat.
Um Fehler zu vermeiden, arbeiten Sachverständige mit viel längeren Namen und mit statistischen Methoden. Sie bestimmen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Tom richtig ist oder Ted. Das funktioniert meistens sehr gut.
Die Sachverständigen in Georgia finden in dem Sperma-Mix elf Allele, die mit Tyrone White übereinstimmen, aber lediglich zwei Übereinstimmungen mit Robinsons DNA-Profil, und die Signale sind sehr schwach. Dennoch kommen sie zu dem Schluss: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kerry Robinsons Sperma in der Spur vorhanden ist." Er wird zu 20 Jahren Haft verurteilt. Greg Hampikian:
"Das ist einer dieser schrecklichen Fehler, die entstehen, wenn Leute DNA-Mischungen bewerten, die die Geschichte kennen. Denen gesagte wurde: 'Wir haben einen Vergewaltiger. Wir brauchen belastendes Material, um ihn vor Gericht zu bringen. Ist er in der DNA?'"
Zusammen mit Itiel Dror hat Greg Hampikian die Daten kürzlich 17 Experten in verschiedenen DNA-Laboren vorgelegt - ohne ihnen zu verraten, woher sie stammen. Hampikian:
"Von denen hat nur ein einziger dem Originalgutachten zugestimmt: 'Kerry Robinsons Profil ist drin.' Drei sagten: 'Es ist unklar.', die restlichen 13: 'Er ist ausgeschlossen.'"
Auch Computer machen Fehler
Menschen machen Fehler - darum fordern manche Leute, Computer und Maschinen die Analyse zu überlassen. Aber Itiel Dror warnt:
"Wenn Computer die Arbeit machen, heißt das nicht, dass die Ergebnisse fehlerfrei sind."
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass auch Künstliche Intelligenz nur so gut ist wie die Entwickler der Algorithmen, sagt Dror: "Eine Menge menschlicher Fehler und Vorurteile stecken in der Software und den statistischen Modellen, die ihr zugrunde liegen."
In den USA gibt es Software, die voraussagen soll, ob Häftlinge erneut Straftaten begehen. Sie attestiert dunkelhäutigen Menschen grundsätzlich ein höheres Risiko als hellhäutigen. Zu Unrecht, erklärt Jeff Deskovic:
"Die Polizisten fingen mich auf dem Schulweg ab. Sechs Wochen lang spielten sie ein Katz-und-Maus-Spiel mit mir. Mal sprachen sie mit mir wie mit einem Verdächtigen, mal taten sie so, als bräuchten sie meine Hilfe, um den Mord aufzuklären."
Die Beamten waren überzeugt, Deskovic sei schuldig. Sie überredeten ihn zu einem Lügendetektortest. Sie fuhren ihn zu einem Spezialisten, einem Polygraphisten. Der schloss Kontakte um seine Handgelenke, befestigte ein Kabel an seinem Finger, erinnert sich Deskovic:
"Er rückte mir auf die Pelle, wurde laut, stellte mir wieder und wieder dieselben Fragen, sechs oder sieben Stunden lang. Mit jeder Stunde wuchs meine Angst. Niemand wusste, wo ich war. Schließlich behauptete der Analyst: 'Die Testergebnisse sagen, du warst es. Wir wollen, dass du es endlich aussprichst.'"
Einer der Polizisten stürmte in den Raum, drohte ihm, forderte ein Geständnis. Dann würden sie aufhören, und er könne nach Hause gehen.
"Ich war psychisch und emotional überwältigt und nahm den Ausweg an, den sie mir boten. Ich erfand eine Geschichte mit den Informationen, die sie mir im Laufe der Wochen verraten hatten. Danach lag ich wie ein Embryo zusammengerollt auf dem Boden, heulte, und natürlich haben sie mich festgenommen. Ich hatte das Gefühl, mein Leben sei vorbei. Ich versuchte, Selbstmord zu begehen."
Im Nachhinein und von außen betrachtet erscheint es geradezu absurd, dass sich Ermittler derart in Verdächtige verbeißen können, dass sie nur noch Fakten in Betracht ziehen, die ihren Verdacht stützen - Fachleute sprechen von einem Bestätigungsfehler. Und dass sie sogar noch an der falschen Einschätzung festhalten, wenn das Gegenteil bewiesen wurde, sagt der Neurowissenschaftler Itiel Dror:
"Etwas seit 20 Jahren falsch zu machen, kann sehr deprimierend sein. So etwas ist psychologisch sehr schwierig."
Gleich mehrere psychologische Phänomene kommen bei all diesen Fällen zum Tragen.
"Wir kennen Tunnelblick, Fixierung und kognitive Dissonanz. Solche Phänomene führen dazu, dass für manche Menschen die Fakten unerheblich werden. Auch Strafverfolger oder Wissenschaftler! Sie beißen sich fest."
Das Fatale an Fehlern und Verzerrungen: Sie verderben die weiteren Ermittlungen.
"Wenn Spuren einen Verdächtigen zu Unrecht belasten, ist es viel wahrscheinlicher, dass die Polizei mehr Druck auf ihn ausübt. Das geht so weit, dass er ein Verbrechen gesteht, das er gar nicht begangen hat."
Der Wissenschaftler spricht von einem Fehler-Schneeball, der immer weiter wächst. Besonders schlimm sind Fehler bei DNA-Analysen, weil die als besonders aussagekräftig und zuverlässig gelten.
"Es gab Fälle, in denen die Ermittler Beweise falsch interpretiert haben und daraufhin einen Augenzeugen ein weiteres Mal befragt und ihn unbewusst beeinflusst haben. Und der Zeuge änderte seine ursprüngliche Aussage, sodass sie zu der falschen Interpretation passte. Es sind Leute verurteilt und hingerichtet worden wegen so etwas."
Um Jeff Deskovics Fall vor Gericht durchzubringen, musste die Anklage sich ziemlich verrenken. Sie ließ ein DNA-Profil vom Sperma am Opfer anfertigen. Das Verfahren war damals noch ganz neu. Es gab noch keine DNA-Datenbank. Die Polizei nahm an, das Sperma stamme vom Vergewaltiger, und hoffte, das Profil werde Jeff Deskovic eindeutig belasten. Jeff Deskovic:
"Als die DNA nicht passte, behauptete der Medizinsachverständige plötzlich: 'Wir haben medizinische Beweise, dass das Opfer sexuell aktiv gewesen ist.' Sie behaupteten, Angela habe mit vielen Männern geschlafen. Das war eine Lüge."
Jeff Deskovic versuchte, den Anwalt auf die Widersprüche aufmerksam zu machen.
"Er verbot mir, zu dem Geständnis Stellung zu beziehen. Dabei gab es nur die Aussage der Polizisten. Mein Anwalt sagte, es sei nicht seine Aufgabe, meine Unschuld zu beweisen, sondern die Anklage müsse meine Schuld beweisen, und er glaube nicht, dass sie das schaffe."
Auch der Richter habe seine Pflicht verletzt, findet Jeff Deskovic:
"Richter können den Angeklagten helfen. Aber meiner nahm den einfachen Weg, der ihm politisch zweckdienlich erschien, und verurteilte mich zu 15 Jahren bis lebenslänglich in einem Hochsicherheitsgefängnis für Männer. Da hat das gesamte System total versagt. Ein perfekter Sturm. Die Zeit blieb stehen für mich. Von da an war ich im Gefängnis."
Es sind immer schwierige Fälle, bei denen die schlimmsten Fehler passieren. Sexualdelikte an Kindern, Mord; Politik und Öffentlichkeit gehen auf die Barrikaden, schreien nach Ergebnissen. Wie im vergangenen Jahr in Freiburg.
Freiburg im Breisgau, die Nacht zum 16. Oktober 2016. Eine Medizinstudentin fährt nach einer Party an der Dreisam entlang, als ein Mann sie vom Fahrrad reißt, vergewaltigt und tötet. Ein ungewöhnlich gefärbtes Haar bringt die Polizei auf die richtige Fährte. Auf Überwachungsvideos aus der Straßenbahn entdecken sie den Mann, zu dem das Haar gehört. Zwei Monate später fassen sie ihn. Es ist ein Afghane. Und die DNA auf der Leiche passt.
All das ist noch nicht bekannt, als in der Öffentlichkeit eine Forderung hochkocht: Die Analysebefugnisse für DNA sollen erweitert werden.
Der genetische Fingerabdruck verwendet derzeit lediglich Stellen zwischen den Genen, also Orte im Genom, die nichts über den Menschen und seine Eigenschaften aussagen. Doch seit einigen Jahren sind rund 150 Gene bekannt, die Hinweise über das Aussehen eines Menschen geben können.
"Aktuell sind dies einmal Merkmale, die sich auf das Äußere beziehen, speziell die Haarfarbe, die Augenfarbe und auch die Hautfarbe."...
Professor Peter Schneider leitet die Forensische Molekulargenetik am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Köln.
"Das Zweite ist Information über die sogenannte biogeografische Herkunft, und der dritte Komplex ist das biologische Alter eines Menschen, das man auch korrelieren kann mit dem chronologischen Alter, also dem Alter, was sozusagen in der Geburtsurkunde drinsteht."
Noch lassen sich mit ausreichender Sicherheit nur Extreme unterscheiden: Blaue oder braune Augen. Blonde oder schwarze Haare. Am zuverlässigsten sind momentan Aussagen über die genetische Herkunft. Peter Schneider bremst zu hohe Erwartungen:
"Das ist eigentlich auch etwas, was vielleicht in der Politik nicht richtig verstanden wird, dass das sicher nicht die Methode der ersten Wahl ist. Wenn es um Ermittlungen geht. Hier handelt sich um eine Methode, um die letzten Chancen zu nutzen, noch eine schwere Straftat irgendwie aufzuklären."
Kritiker befürchten, dass diese zusätzlichen Informationen neue Probleme verursachen können.
"Ich kann jede Methode sinnvoll einsetzen, ich kann sie aber auch missbrauchen. Das ist ganz klar, wenn ich jetzt unqualifizierte Vorhersagen mache und dann dadurch tatsächlich Minderheiten an den Pranger stelle als Gruppe und mache das öffentlich, dann besteht die Gefahr natürlich, dass es hier zu sogenannten Hexenjagdszenarien kommen könnte."
Mit jeder neuen Technik wächst auch die Verantwortung. Zumal sich die Abläufe beschleunigen: DNA-Analyse binnen 90 Minuten, ein Abgleich von Fingerabdrücken in 30 Minuten - am Tatort. Das Risiko: Fahnder legen sich zu schnell fest und übersehen wichtige Spuren.
In New York und anderen US-Bundesstaaten dürfen Labore Spuren nur dann auf DNA untersuchen, wenn es sich um Sperma handelt. Es gibt dafür Teststäbchen - wie Schwangerschaftstests. Zwei Streifen: Sperma; ein Streifen: kein Sperma. Die Vorschrift war als Sicherheitsschwelle gedacht, doch um an die Informationen aus der DNA zu gelangen, erklären manche Labore in New York kurzerhand sämtliche Tests für positiv, sagt Greg Hampikian vom Idaho Innocence Project. Er zeigt ein Foto eines Teststäbchens. Es ist deutlich ein Streifen zu sehen und ein bisschen Grau daneben.
"Die Techniker haben das hier 'schwach positiv' genannt. Ich habe das einer Jury gezeigt, und die Leute lachten. Aber weil das Labor das Ergebnis als 'schwach positiv' bezeichnet hat, sprach der Staatsanwalt während des gesamten Prozesses von 'der Sperma-Probe'."
Als ihm ein Techniker erstmals davon erzählte, sei er schockiert gewesen, erinnert sich Greg Hampikian.
"Ich fragte ihn, ob er sich der Tragweise dessen bewusst sei? Er sagte: 'Wir besorgen uns doch bloß DNA-Daten.' Ich erklärte ihm: Wenn ein armer Kerl vor Gericht kommt, weil er sein Kind, sein Stiefkind oder das Kind seiner Freundin missbraucht haben soll, und die Jury hört: 'Es ist DNA auf der Unterhose.', dann ist das kein Problem. Ich kann meine DNA auf der Unterwäsche meiner Kinder erklären, ich mache schließlich ihre Wäsche, um Himmels Willen. Aber wenn es mein Sperma ist und meine DNA, dann klingt das direkt so, als sei da etwas geschehen."
Das Klima hat sich geändert.
Wer einen Fehler beheben will, muss ihn sich erst einmal eingestehen. Das ist der erste Schritt, wenn Itiel Dror Polizei, Sachverständige und Justiz zu dieser Problematik schult.
"Wenn ich beim FBI bin oder der Polizei von New York, in Großbritannien oder Finnland oder den Niederlanden, Australien, sage ich: 'Wir machen jetzt eine Übung, Sie werden einen Fehler machen, weil ich Sie irreführen werde. Versuchen Sie zu widerstehen. Es wird Ihnen nicht gelingen, weil Ihr Gehirn es nicht kann.'
Er zeigt seinen Schulungsteilnehmern zum Beispiel zuerst das DNA-Profil eines Verdächtigen. Wenn sie das danach mit der Spur vom Tatort vergleichen, sind sie geneigt, Übereinstimmungen zu finden, wo keine sind: Sie suchen nach dem Täter in der Spur. Um solche kognitiven Verfälschungen zu vermeiden, gibt es eine Methode, die Itiel Dror Linear Sequential Unmasking nennt:
"Sie verlangt, dass der Sachverständige alle Beweismittel analysiert, bevor er das Vergleichsmaterial von Verdächtigen zu sehen bekommt. Sonst sucht er nach Beweisen für ein Resultat, das er schon kennt."
Ausgerechnet in Deutschland trifft Itiel Dror damit auf Ablehnung.
"Ich habe eine ganze Reihe von Versuchen in Deutschland unternommen, aber ich habe keinen warmen Empfang erhalten."
Peter Schneider kennt sich aus bei Gericht. Er muss immer wieder Fragen zu seinen DNA-Gutachten beantworten. Er argumentiert, dass das hiesige Rechtssystem einen Teil des Problems auffängt.
"Bei uns sind die Sachverständigen ja neutral und für das Gericht tätig, und sind gehalten, alles zu sagen, was sie wissen, egal ob es für oder gegen den Beschuldigten spricht. Während in den USA sind die Sachverständigen für den Staatsanwalt oder für die Verteidigung tätig. Das Gericht spielt im Prinzip nur den Schiedsrichter, das dafür sorgt dass die Regeln eingehalten werden."
Doch auch seiner Ansicht nach gibt es hierzulande einiges zu tun.
"Es ist schon so ein bisschen ein gewisser Paradigmenwandel sichtbar geworden, das sehe ich auch, wenn ich bei Gericht als Sachverständiger Ergebnisse präsentiere. Dieses Bewusstsein, dass ein DNA-Treffer nicht unbedingt bedeutet: 'Der war's.', das Bewusstsein ist doch mittlerweile immer mehr präsent im Hinterkopf."
"Das System wird niemals perfekt sein, aber wir können es verbessern, indem wir seine Schwächen verstehen und begreifen, wie wir die Entscheidungsfindung verbessern können. Dazu ist in der Lage, wer sich eingesteht, dass er Fehler machen kann, und versteht, wie das Gehirn Informationen verarbeitet."
Nach Jahren des Bangens und Briefeschreibens kommt Jeff Deskovic 2006 endlich frei. Seine Anwälte können die DNA vom Tatort mit der Verbrecherdatenbank abgleichen lassen - Treffer. Der wahre Täter hat in der Zwischenzeit ein weiteres Verbrechen begangen.
Jeff Deskovic: "Wenn sie hören: Ein Unschuldiger saß im Gefängnis, sind viele Leute erschüttert, dass so etwas passieren kann. Aber dann sind sie froh, dass die Person frei und rehabilitiert ist."
Greg Hampikian: "Die Arbeit hat mich verändert. Seit ich für das Innocence Project arbeite, sehe ich die Welt nicht mehr als unschuldigen Ort. Ich sehe überall potenzielle Tatorte."
Jeff Deskovic: "Viele Leute glauben, es geht nach dem Motto: '... und er lebte glücklich bis an sein Ende'."
Greg Hampikian: "Ich sorge mich um meine Kinder, ich sorge mich um meine Studenten, dass sie in die Hände eines Ermittlers fallen, der sie hart verhört. Es gibt keinen Weg zurück, wenn man all das einmal gesehen hat."
Jeff Deskovic: "Ich fühlte mich, als sei ich in der Zeit eingefroren gewesen. Als ich rauskam, war ich 32, aber ich fühlte mich in Wirklichkeit immer noch wie 17."