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Unsichtbare Fata Morgana

Astronomie.- Es gilt als sicher, dass große Mengen Dunkler Materie den Kosmos beherrschen. Nach Lehrmeinung der Astronomen verrät sich diese unsichtbare Masse allein durch ihre Anziehung. Nun stellt ein Forscherteam die Existenz der Dunklen Materie in Frage.

Von Dirk Lorenzen | 01.10.2009
    Seit 40 Jahren sind die meisten Astronomen davon überzeugt, dass die Materie in Galaxien wie der Milchstraße vor allem eines ist: dunkel, also prinzipiell nicht sichtbar. Denn ohne die Anziehungskraft dieser verborgenen Materie lässt sich der Lauf von Sternen und Gaswolken in Galaxien nicht erklären. Benoit Famaey, Astronom an der Sternwarte in Straßburg, hat jetzt gemeinsam mit einigen Kollegen die Bewegung in 28 Galaxien genauer untersucht. Das Ergebnis lässt die Fachwelt aufhorchen:

    "Wir haben entdeckt, dass die Anziehungskraft der sichtbaren Materie im Kernbereich der Dunklen Materie immer gleich stark ist. Es gibt offenbar einen direkten Zusammenhang zwischen der Verteilung der sichtbaren und der Dunklen Materie. Das haben wir bei vielen völlig unterschiedlichen Galaxien gefunden – und das hat uns extrem überrascht."

    Manche Galaxien fristen fast ein Einsiedlerdasein, andere verschlingen ständig kleinere Galaxien und blähen sich so zu enormer Größe auf. Nach bisherigem Verständnis sollten sich Dunkle und sichtbare Materie in Galaxien mit so unterschiedlicher Vergangenheit auch ganz verschieden verhalten. Doch das Team um Benoit Famaey hat stattdessen ein eigenartiges Wechselspiel von Dunkler und sichtbarer Materie entdeckt. Jetzt ist guter Rat teuer.

    "Mit den gängigen kosmologischen Theorien ist das alles nur sehr schwer zu verstehen. Diese Entdeckung weist womöglich auf bisher ganz unbekannte physikalische Phänomene hin. Entweder ist der Zusammenhang von Dunkler und sichtbarer Materie viel komplexer, als wir bisher gedacht haben. Oder die Gravitation, also die uns aus dem Alltag so vertraute Anziehungskraft, funktioniert auf galaktischen Dimensionen ganz anders als im kleinen Maßstab. Dann wäre das, was wir bisher für die Dunkle Materie gehalten haben, einfach eine fünfte Kraft, die nur auf großen Entfernungen wirkt."

    Benoit Famaey rüttelt mal eben an den Grundfesten der Physik: Denn seine Berechnungen könnten zeigen, dass die Theorien von Isaac Newton und Albert Einstein erheblich verbessert werden müssen, um die Abläufe im Universum korrekt zu beschreiben.

    So radikal dieser Schritt für die Astronomen auch sein mag: Er könnte helfen, ganz elegant ein paar alte Probleme loszuwerden: Zum einen hat noch niemand Teilchen entdeckt, die die Dunkle Materie ausmachen könnten. Die Forscher stochern da bis heute völlig im Nebel. Zum anderen sind die Standardmodelle der Kosmologen, in denen vor allem mit Dunkler Materie die großräumige Entwicklung des Kosmos simuliert wird, nicht in der Lage, das Verhalten von Galaxien nachzuvollziehen.

    Wenn es wirklich eine fünfte Kraft im Kosmos gäbe, wäre die Dunkle Materie schlicht eine Fata Morgana.

    "Dann wäre die sichtbare Materie die einzige Materieform im Kosmos. Die neue Anziehungskraft ginge von ihr aus. Das würde unsere Beobachtungen ganz einfach erklären: Denn dann wirkt in den Galaxien nicht geheimnisvolle Dunkle Materie, sondern die ganz normale sichtbare Materie mit der neuen Kraft. Wir müssen jetzt versuchen, diese veränderte Gravitationskraft auch anderswo im Kosmos zu beobachten. Zudem muss sich zeigen, ob wir die Entwicklung der großräumigen Strukturen im Universum mit dieser neuen Gravitationstheorie erklären können."

    Diese Daten sind zunächst nur ein Indiz dafür, dass es im Kosmos offenbar anders zugeht, als die gängigen Theorien der Astronomen nahe legen. Womöglich lösen sich die bisherigen Vorstellungen über die Dunkle Materie schlicht in Wohlgefallen auf. Und wenn die gesamte Theorie erst einmal ins Rutschen gerät, könnte das zu weiteren Diskussionen führen – etwa über die noch geheimnisvollere Dunkle Energie, die in den Standardmodellen zusätzlich zur Dunklen Materie vorkommt. Die neuen Daten sorgen jedenfalls für Spannung in der Astronomie.