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Unsichtbares an den Tag bringen

Der Zufall hatte in der Avantgardekunst der Moderne seinen festen Platz. Vertreter von Dadaismus oder Surrealismus drückten mit ihren Zufalls-Kunstwerken aber nicht nur Rebellion gegen den bürgerlichen Kunstbegriff aus. Vor allem verstanden sie sich als Forscher.

Von Carsten Probst | 15.05.2013
    Auch der Zufall ist in die Jahre gekommen. Zumindest vom kunsthistorischen Standpunkt wäre es heute kaum vorstellbar, das Zufällige noch mit einer solchen Emphase und Begeisterung für die Kunst zu reklamieren, wie es einst die Avantgardekunst der Moderne tat. Der Zufall war – man kann, man muss es wohl so sagen – eigentlich DIE Entdeckung der Moderne. Wenn man durch die kleine, wohlgestaltete Ausstellung des Sprengel Museums geht, erhält man noch einmal einen stilbildenden Eindruck davon: Dadaismus und Surrealismus in vorderster Front, gefolgt von den Adepten der Nachkriegsmoderne: abstrakter Expressionismus, Fluxus, etwas Computerkunst und am Ende, ein wenig überraschend, die Abstraktion bei Gerhard Richter. Darüber wird noch zu reden sein.

    Die Emphase der Dadaisten und Surrealisten für den Zufall, das wird hier aber auch schnell deutlich, ist ein wenig missverständlich. Den Dadaisten ist ja immer schnell eine bloße Anti-Haltung unterstellt, eine Wolllust am Trashigen und Dilettantischen. Die Surrealisten erscheinen auf den ersten Blick wie Self-Made-Mystiker mit spinösen Privatphilosophien. Beiden dient der Zufall, so könnte man meinen, vor allem als rebellische Pose: Seht her, wie ich die akademischen Gesetze der Kunst mit Füßen treten kann! Seht her, was mir der bürgerliche Kunstbegriff vom Erhabenen und Schönen wert ist! Doch das Verbindende zwischen allen, den Dadaisten, Surrealisten, ausgreifend auf die Nachkriegszeit, ist viel weniger "Anti".

    Sie erfinden den Zufall, um sich als Forscher, als Künstler-Wissenschaftler zu betätigen. Das traditionelle Feld der Kunst, aber auch der Wissenschaften, reicht ihnen zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr als Mittel der Erkenntnis. Der Zufall bringt bisher Unsichtbares an den Tag, Unsichtbares, Unbewusstes, Ungesagtes, das nie von der offiziellen akademischen Wissenschaft und Kunst erfasst wurde. Was bislang bekannt ist, muss zerlegt und neu zusammengesetzt werden. So begründet Max Ernst die Erfindung seiner künstlerischen Techniken, allen voran der Collage und Frottage. Das Ergebnis sind Bilder, die unvorhersehbar sind und sich angeblich der menschlichen Einwirkungskraft entziehen. Das bislang Unsichtbare, das sie zeigen, wirkt durch sie wie ein Naturgesetz. Der Künstler wird zum Natur- und dadurch auch zum Kulturforscher.

    Ganz ähnlich verstand sich auch Marcel Duchamp, der in seinem Koffermuseum "Boîte en Valise" eine Sammlung künstlerischer Zufälle vereinte und überhaupt hier als Erfinder der Zufallsästhetik in der Kunst gepriesen wird. 1913, also vor hundert Jahren, ließ er "3 stoppages étalon", drei Musterfäden von je einem Meter Länge aus einem Meter Höhe zu Boden fallen und fixierte die daraus entstandene zufällige Ordnung in Bilderrahmen. Was war damit gewonnen? Ein frühes, minimalistisches Kunstwerk, könnte man heute sagen, aber daran dachte Duchamp ja nicht. Für ihn ging es – viel simpler – darum, zu zeigen, wie aus dem Nichts des Zufalls etwas entsteht, dass uns irgendetwas zu sagen scheint. Was es sagt, bleibt offen, eine Art Geheimnis. Nicht zuletzt deshalb verbat sich Max Ernst auch die Interpretation seiner Werke.

    Dieser Impetus des Erforschens hat sich erkennbar in der Kunst der Nachkriegszeit erhalten, wenn auch unter anderen Vorzeichen: Bei Pollocks Drip Paintings ging es um zufallsgenerierte Ausdrucksformen, viel konkreter als bei Duchamp. Dieter Roth lässt schimmelnde Lebensmittel eigene Bildstrukturen schaffen und ist dabei durchaus ein humorvoller Naturforscher der etwas anderen Art. Schließlich Gerhard Richter, der unter anderem mit abstrakten Schabbildern und mit seinen zufallsgenerierten Farbmustertafeln vertreten ist und zitiert wird mit dem Satz: "Oft bin ich verblüfft, wie viel besser der Zufall ist als ich." Für Richter dient offenkundig der vermeintliche, vielleicht aber doch gelenkte Zufall als ein Mittel, um die optische Attraktivität seiner Bilder zu erhöhen. Das ist natürlich legitim, passt genau genommen aber nicht mehr ganz zum forschenden Tiefsinn der Moderne.