Unstillbare Lebensgier

Von Peter Hölzle · 27.11.2010
Wer von Jugend an dem Tod ins Auge blickt, hängt mit allen Fasern seines Herzens am Leben. Der französische Filmregisseur Claude Lanzmann, der nicht alt werden will und trotzdem
heute seinen 85. Geburtstag feiert, ist so einer.

"Mehr noch als durch seinen wachen Geist und seinen erschreckend scharfen Verstand wurde er ... durch sein Wesen populär: Ganz der ewige Jude, jammernd, zynisch, mit Absicht ‘unmöglich’ daherredend, baute er eine Theorie nach der anderen um die drei großen Probleme seines Lebens: seine Gesundheit, das Geld und die Frauen. Er hungerte nach Erfolg bei Frauen, und er kam immer ans Ziel, indem er in seinem ‘Opfer’ eine wunderliche Mischung von Schrecken, Lachen und Mitleid erregte. Zwei Jahre später widerstand nicht einmal Simone de Beauvoir selbst – sie erzählt es in ihren Memoiren – dem ungemein starken Reiz dieser Mischung."

So charakterisiert der Schriftsteller Michel Tournier in seinem "autobiographischen Versuch" "Der Wind Paraklet" seinen Studienfreund Claude Lanzmann. Dem Porträt aus gemeinsamen Tübinger Studententagen direkt nach dem Krieg fehlt freilich ein wesentliches Merkmal, das damals noch nicht erkennbar war; ein Merkmal, weshalb der 1925 in Paris geborene Journalist und Filmregisseur Lanzmann besonders geehrt wird. Er wird geehrt als der Schöpfer und Gestalter des Films "Shoah", eines über neun Stunden dauernden Monuments der Filmgeschichte, mit dem er – so muss, so kann man hoffen – die in deutschem Namen begangene Massenvernichtung der Juden unauslöschlich ins Bewusstsein der Menschheit eingegraben hat. Dabei arbeitete er mit einfachsten Mitteln.

"Ich hatte meine eigenen Vorstellungen. Genau das macht die Stärke des Films aus, dass er ganz und gar in der Gegenwart gedreht ist und dennoch eine ungewöhnliche Kraft hat, Vorstellungen heraufzubeschwören. Und der beste Beweis dafür: ‘Shoah’ ist kein historischer Film ..., auch wenn er natürlich ... wirkliche historische Kenntnisse voraussetzt. ... Ich habe ihn gedreht mit dem, was ich hatte: ... mit Spuren, mit Spuren von Spuren und mit Spuren von Spuren von Spuren."

Lange war Lanzmann auf Spurensuche. Zwölf Jahre brauchte er zur Fertigstellung des Films, der 1985 ins Kino, später auch ins Fernsehen kam. Zeitzeugen ausfindig zu machen, die als Opfer die Todesfabriken überlebt oder als Täter in ihnen Dienst getan hatten, war oft kriminalistische Schwerstarbeit. Sie vor der Kamera zum Sprechen zu bringen, war es nicht minder. Die Verschwörung des Schweigens zwischen Opfern und Tätern aufzubrechen, erforderte Geduld und eine an das Gegenüber angepasste Gesprächshaltung. Lanzmann beschreibt sie so:

"Es ist ganz klar, dass ich zu den Juden anders war als zu den Nazis. ... Ich wusste, dass sie sehr würden leiden müssen, wenn sie darüber redeten. Ich hatte zu ihnen eine sehr brüderliche Nähe. ... Zu den Nazis war ich sehr liebenswürdig. ... Jedes Mal, wenn die Nazis versuchten, mir mit Alibis oder Rechtfertigungen zu kommen, habe ich gesagt, das interessiert mich nicht. ... Ich bin da, um über die Maschinerie des Todes zu sprechen. ... Und eben, weil wir auf einem technischen Niveau blieben ..., ist es mir gelungen, sie zum ersten Mal überhaupt zum Sprechen zu bringen ... ."

Das Grauen der "Endlösung" aus verschiedensten Perspektiven unvergesslich ins Bild gesetzt zu haben, ist das eine Verdienst des Geehrten. Das andere ist sein Erinnerungsbuch "Der patagonische Hase", das seit Kurzem in deutscher Übersetzung vorliegt. Gleich dem Haken schlagenden Langohr erzählt Lanzmann in großen Sprüngen und überraschenden Volten, aber auch erheblichen Gedächtnis- und Wissenslücken, pointiert und plastisch sein wildes Leben mit vielen Höhen und Tiefen, mit wechselnden Schauplätzen und Partnerinnen wie der Begegnung von Jugend an mit dem Tod. Ihm blickt er schon als in der Résistance engagierter Schüler ins Auge. Ihn macht er im Kampf gegen die Todesstrafe zusammen mit Sartre, dessen Zeitschrift "Les Temps modernes" er bis heute herausgibt, und in der Dokumentation der Judenvernichtung zum Thema. Daher seine unstillbare Lebens- und Liebesgier, daher seine Weigerung, alt zu werden. Wünschen wir ihm also noch viele Jugendjahre.